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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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von Rudolph Gottschall analysiren, so wollen wir dem Dichter selbst damit nicht
zu nahe treten. Er. ist einer der talentvollsten, er zeigt in einzelnen Stellen die
Fähigkeit, etwas Besseres zu schaffen, und er ist in seiner Verirrung so grandios,
daß man gerade darin bei seiner Jngend die Möglichkeit einer totalen Umkehr
sehen konnte.

Die Dichtung, ans die wir hier eingehen, hat den Titel: "Die Göttin.
Hoheölied vom Weibe." (Hamburg, Hoffmann und Campe.) Dieser doppelte
Titel ist nicht etwas Gleichgiltiges; er deutet bereits die doppelte Natur des
Werkes an. Die "Göttin" ist nämlich ein weibliches Individuum, welches ungefähr
wie Gnizkvw's Maha Guru durch eine sonderbare Verkettung der Umstände zu
der Einbildung verleitet wird, sie wäre eine Göttin. Zugleich spielt aber der
Nebengedanke hinein, daß ihre Geschichte ein Symbol von dem Loose des Weibes
überhaupt sein soll. Wir kommen darauf uoch zurück; hier geben wir vorläufig
die Fabel, die dem Gedicht zu Gründe liegt.

Wenn wir nicht irren, so ist es Fonanv, der in einer Novelle eine ähnliche
Geschichte behandelt. Ein frommes Mädchen wird zur Zeit der französischen Re¬
volution von den wilden Banden der Sansculotten gezwungen, bei ihrem unheiligen
Feste die Göttin der Vernunft darzustellen. Dieser unfreiwillige Frevel erschüttert
ihr Inneres so, daß sie wahnsinnig wird. Gottschall hat denselben Vorwurf
gewählt, aber er giebt ihm eine e!was andere Wendung. Marie, die Heldin
des Stücks, ist an einen Mann verheirarhet, der wegen seiner girondistischen
Gesinnung in den Kerkern des Konvents das Todesurtheil erwartet. Sie geht
zu den verschiedenen Koryphäen der Revolution, um Gnade für ihn auszuwirken,
endlich kommt sie zu Hebert und Chaumette, welche ihr die Freiheit des Gatten
versprechen, wenn sie die Göttin der Vernunft spielen will. Sie entschließt sich
zu diesem Opfer, welches sie zuerst als solches betrachtet, dann aber überlegt sie
in anticipirten Feuerbach'schen Ideen, daß eigentlich doch der Mensch die wahre
Darstellung der Gottheit sei, und daß also eigentlich in der göttlichen Verehrung
eines sterblichen Weibes gar kein Frevel, sondern etwas sehr Vernünftiges liege.
In dieser Exaltation macht sie auch das Fest mit; als sie nachher aber erfährt,
daß ihr Mann doch hingerichtet ist, als ferner Robespierre das höchste Wesen
wieder einführt und sie zur Abdankung zwingt, verliert sie den Verstand und
ergeht sich in eiuer Reihe wüster Visionen, z. B. sie prügelt sich einmal mit der
Madonna, bis sie endlich den Hungertod stirbt, um als reine Gottheit in die
Lüfte zu verschwebcn. Um diesem seltsamen Ereigniß die zweckmäßige Grundlage
zu geben, hat der Dichter uns auch ihre Vorgeschichte mitgetheilt. Marie wird
zuerst halb wider ihren Willen in ein Kloster gesteckt, aus demselben durch ihren
Liebhaber entführt, wieder zurückgebracht, in einen Kerker geworfen, daun durch
die Revolution befreit, worauf sie mehrere Jahre hindurch in glücklicher Ehe lebt
und nur durch den Tod ihres Kindes betrübt wird. Das Alles sind Momente,


von Rudolph Gottschall analysiren, so wollen wir dem Dichter selbst damit nicht
zu nahe treten. Er. ist einer der talentvollsten, er zeigt in einzelnen Stellen die
Fähigkeit, etwas Besseres zu schaffen, und er ist in seiner Verirrung so grandios,
daß man gerade darin bei seiner Jngend die Möglichkeit einer totalen Umkehr
sehen konnte.

Die Dichtung, ans die wir hier eingehen, hat den Titel: „Die Göttin.
Hoheölied vom Weibe." (Hamburg, Hoffmann und Campe.) Dieser doppelte
Titel ist nicht etwas Gleichgiltiges; er deutet bereits die doppelte Natur des
Werkes an. Die „Göttin" ist nämlich ein weibliches Individuum, welches ungefähr
wie Gnizkvw's Maha Guru durch eine sonderbare Verkettung der Umstände zu
der Einbildung verleitet wird, sie wäre eine Göttin. Zugleich spielt aber der
Nebengedanke hinein, daß ihre Geschichte ein Symbol von dem Loose des Weibes
überhaupt sein soll. Wir kommen darauf uoch zurück; hier geben wir vorläufig
die Fabel, die dem Gedicht zu Gründe liegt.

Wenn wir nicht irren, so ist es Fonanv, der in einer Novelle eine ähnliche
Geschichte behandelt. Ein frommes Mädchen wird zur Zeit der französischen Re¬
volution von den wilden Banden der Sansculotten gezwungen, bei ihrem unheiligen
Feste die Göttin der Vernunft darzustellen. Dieser unfreiwillige Frevel erschüttert
ihr Inneres so, daß sie wahnsinnig wird. Gottschall hat denselben Vorwurf
gewählt, aber er giebt ihm eine e!was andere Wendung. Marie, die Heldin
des Stücks, ist an einen Mann verheirarhet, der wegen seiner girondistischen
Gesinnung in den Kerkern des Konvents das Todesurtheil erwartet. Sie geht
zu den verschiedenen Koryphäen der Revolution, um Gnade für ihn auszuwirken,
endlich kommt sie zu Hebert und Chaumette, welche ihr die Freiheit des Gatten
versprechen, wenn sie die Göttin der Vernunft spielen will. Sie entschließt sich
zu diesem Opfer, welches sie zuerst als solches betrachtet, dann aber überlegt sie
in anticipirten Feuerbach'schen Ideen, daß eigentlich doch der Mensch die wahre
Darstellung der Gottheit sei, und daß also eigentlich in der göttlichen Verehrung
eines sterblichen Weibes gar kein Frevel, sondern etwas sehr Vernünftiges liege.
In dieser Exaltation macht sie auch das Fest mit; als sie nachher aber erfährt,
daß ihr Mann doch hingerichtet ist, als ferner Robespierre das höchste Wesen
wieder einführt und sie zur Abdankung zwingt, verliert sie den Verstand und
ergeht sich in eiuer Reihe wüster Visionen, z. B. sie prügelt sich einmal mit der
Madonna, bis sie endlich den Hungertod stirbt, um als reine Gottheit in die
Lüfte zu verschwebcn. Um diesem seltsamen Ereigniß die zweckmäßige Grundlage
zu geben, hat der Dichter uns auch ihre Vorgeschichte mitgetheilt. Marie wird
zuerst halb wider ihren Willen in ein Kloster gesteckt, aus demselben durch ihren
Liebhaber entführt, wieder zurückgebracht, in einen Kerker geworfen, daun durch
die Revolution befreit, worauf sie mehrere Jahre hindurch in glücklicher Ehe lebt
und nur durch den Tod ihres Kindes betrübt wird. Das Alles sind Momente,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/134>, abgerufen am 15.06.2024.