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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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deren ideellen Zusammenhang mit dem spätern Ereigniß und deren Anwendung
zu einer tiefern Lösung des psychologischen Problems man sich wohl vorstellen konnte;
allein es ist dem Dichter nicht gelungen, diesen Zusammenhang wirklich zu ent¬
wickeln, ja er hat nicht einmal den Versuch gemacht. Er benutzt nur die einzelnen
Ereignisse, um seinen Witz daran spielen zu lassen. Das Kloster z. B. wird voll"
ständig ironisch behandelt und übt auf die Seele der Heldin eigentlich gar keine
Wirkung aus. Mau könnte sich z. B. denken, es wäre dadurch eine tiefe Gläubig¬
keit in ihr Herz eingepflanzt, und wenn später auch die Leidenschaft und der ge¬
sunde Menschenverstand sie factisch aus diesem Kreise herausgerissen, so wäre doch
ein Nest der alten Gesinnung in ihrer Seele zurückgeblieben, der nachher bei dem
größten Frevel wieder zum Vorschein kommen und sie in den Wahnsinn treiben
müßte. Oder man könnte sich vorstellen, die strenge Klosterzucht hätte in ihr
einen Haß gegen das Christenthum und gegen das Princip der Entsagung über¬
haupt erregt und sie zu einer begeisterten Seherin gemacht, die ihre spätere, wenn
mich nur momentane göttliche Stellung als einen Triumph über die Kirche auf¬
faßte. In beiden Fällen wäre ein ideeller Zusammenhang der Vorgeschichte mit
dem Hauptcrcigniß hergestellt. Aber Keins von Beiden geschieht. Das Kloster
wie die Ehe ist genrehaft behandelt, das Eine wie das Andere läßt gar keine
Wirkung zurück, und man würde nicht begreisen, wie der Dichter überhaupt
daraus gekommen ist, die Vorgeschichte zu erzählen, wenn man nicht annähme, es
habe ihm dunkel vorgeschwebt, in der Marie ein Bild des Weibes überhaupt in
seinen verschiedenen hervorstechenden Phasen zu schildern. Abgesehen davon, daß
eine solche symbolische Verallgemeinerung einer individuellen Geschichte dem Begriff
der Kunst widerspricht, hätte auch in diesem Fall der Dichter seinen Zweck ver¬
fehlt, denn Marie ist eben so wenig wahre Nonne wie wahre FrciheitSheldiu;
sie ist ihrer Anlage nach ein gutes Ding, welches allerdings in seltsame Lagen
geräth, aber in Lage"!, die lange nicht hinreichen, ihre unerhörten Empstndnngcn
und Vorstellungen zu erklären; sie ist mit einem Wort ein Wesen ohne Leben,
ein bloßes Gedaukeudiug des Dichters.

Nun kommen wir aber auf einen andern Punkt, der noch viel mehr befremden
muß. Wir sagten vorher, eines der charakteristischen Merkmale der modernen Lyrik sei
die Unklarheit und Rathlosigkeit in Beziehung aus die ideale Auffassung. Davon
ist dieses Gedicht wieder ein merkwürdiges Beispiel. Betrachtet man die Geschichte
an sich, so ist doch wol die Absicht deö Dichters ohne Zweifel, eine psychologische
Krankheitsgeschichte zu schildern. Marie endet im Wahnsinn, sie redet in diesem
Wahnsinn nicht blos einen unerhörten Unsinn, sondern sie bewegt sich auch in den
scheußlichsten Vorstellungen, wie z. B. jene Prügelei mit der Madonna. Das ist
doch wol ein unglücklicher Schluß, und wir werden der Heldin, wenn wir überhaupt
Interesse an ihr nehmen, nnr unser Mitleid schenken können. In einem einleiten¬
den Vorgedicht, welches den Titel führt: "Das Weib", und im parabolischen oder


deren ideellen Zusammenhang mit dem spätern Ereigniß und deren Anwendung
zu einer tiefern Lösung des psychologischen Problems man sich wohl vorstellen konnte;
allein es ist dem Dichter nicht gelungen, diesen Zusammenhang wirklich zu ent¬
wickeln, ja er hat nicht einmal den Versuch gemacht. Er benutzt nur die einzelnen
Ereignisse, um seinen Witz daran spielen zu lassen. Das Kloster z. B. wird voll"
ständig ironisch behandelt und übt auf die Seele der Heldin eigentlich gar keine
Wirkung aus. Mau könnte sich z. B. denken, es wäre dadurch eine tiefe Gläubig¬
keit in ihr Herz eingepflanzt, und wenn später auch die Leidenschaft und der ge¬
sunde Menschenverstand sie factisch aus diesem Kreise herausgerissen, so wäre doch
ein Nest der alten Gesinnung in ihrer Seele zurückgeblieben, der nachher bei dem
größten Frevel wieder zum Vorschein kommen und sie in den Wahnsinn treiben
müßte. Oder man könnte sich vorstellen, die strenge Klosterzucht hätte in ihr
einen Haß gegen das Christenthum und gegen das Princip der Entsagung über¬
haupt erregt und sie zu einer begeisterten Seherin gemacht, die ihre spätere, wenn
mich nur momentane göttliche Stellung als einen Triumph über die Kirche auf¬
faßte. In beiden Fällen wäre ein ideeller Zusammenhang der Vorgeschichte mit
dem Hauptcrcigniß hergestellt. Aber Keins von Beiden geschieht. Das Kloster
wie die Ehe ist genrehaft behandelt, das Eine wie das Andere läßt gar keine
Wirkung zurück, und man würde nicht begreisen, wie der Dichter überhaupt
daraus gekommen ist, die Vorgeschichte zu erzählen, wenn man nicht annähme, es
habe ihm dunkel vorgeschwebt, in der Marie ein Bild des Weibes überhaupt in
seinen verschiedenen hervorstechenden Phasen zu schildern. Abgesehen davon, daß
eine solche symbolische Verallgemeinerung einer individuellen Geschichte dem Begriff
der Kunst widerspricht, hätte auch in diesem Fall der Dichter seinen Zweck ver¬
fehlt, denn Marie ist eben so wenig wahre Nonne wie wahre FrciheitSheldiu;
sie ist ihrer Anlage nach ein gutes Ding, welches allerdings in seltsame Lagen
geräth, aber in Lage»!, die lange nicht hinreichen, ihre unerhörten Empstndnngcn
und Vorstellungen zu erklären; sie ist mit einem Wort ein Wesen ohne Leben,
ein bloßes Gedaukeudiug des Dichters.

Nun kommen wir aber auf einen andern Punkt, der noch viel mehr befremden
muß. Wir sagten vorher, eines der charakteristischen Merkmale der modernen Lyrik sei
die Unklarheit und Rathlosigkeit in Beziehung aus die ideale Auffassung. Davon
ist dieses Gedicht wieder ein merkwürdiges Beispiel. Betrachtet man die Geschichte
an sich, so ist doch wol die Absicht deö Dichters ohne Zweifel, eine psychologische
Krankheitsgeschichte zu schildern. Marie endet im Wahnsinn, sie redet in diesem
Wahnsinn nicht blos einen unerhörten Unsinn, sondern sie bewegt sich auch in den
scheußlichsten Vorstellungen, wie z. B. jene Prügelei mit der Madonna. Das ist
doch wol ein unglücklicher Schluß, und wir werden der Heldin, wenn wir überhaupt
Interesse an ihr nehmen, nnr unser Mitleid schenken können. In einem einleiten¬
den Vorgedicht, welches den Titel führt: „Das Weib", und im parabolischen oder


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[0135] deren ideellen Zusammenhang mit dem spätern Ereigniß und deren Anwendung zu einer tiefern Lösung des psychologischen Problems man sich wohl vorstellen konnte; allein es ist dem Dichter nicht gelungen, diesen Zusammenhang wirklich zu ent¬ wickeln, ja er hat nicht einmal den Versuch gemacht. Er benutzt nur die einzelnen Ereignisse, um seinen Witz daran spielen zu lassen. Das Kloster z. B. wird voll" ständig ironisch behandelt und übt auf die Seele der Heldin eigentlich gar keine Wirkung aus. Mau könnte sich z. B. denken, es wäre dadurch eine tiefe Gläubig¬ keit in ihr Herz eingepflanzt, und wenn später auch die Leidenschaft und der ge¬ sunde Menschenverstand sie factisch aus diesem Kreise herausgerissen, so wäre doch ein Nest der alten Gesinnung in ihrer Seele zurückgeblieben, der nachher bei dem größten Frevel wieder zum Vorschein kommen und sie in den Wahnsinn treiben müßte. Oder man könnte sich vorstellen, die strenge Klosterzucht hätte in ihr einen Haß gegen das Christenthum und gegen das Princip der Entsagung über¬ haupt erregt und sie zu einer begeisterten Seherin gemacht, die ihre spätere, wenn mich nur momentane göttliche Stellung als einen Triumph über die Kirche auf¬ faßte. In beiden Fällen wäre ein ideeller Zusammenhang der Vorgeschichte mit dem Hauptcrcigniß hergestellt. Aber Keins von Beiden geschieht. Das Kloster wie die Ehe ist genrehaft behandelt, das Eine wie das Andere läßt gar keine Wirkung zurück, und man würde nicht begreisen, wie der Dichter überhaupt daraus gekommen ist, die Vorgeschichte zu erzählen, wenn man nicht annähme, es habe ihm dunkel vorgeschwebt, in der Marie ein Bild des Weibes überhaupt in seinen verschiedenen hervorstechenden Phasen zu schildern. Abgesehen davon, daß eine solche symbolische Verallgemeinerung einer individuellen Geschichte dem Begriff der Kunst widerspricht, hätte auch in diesem Fall der Dichter seinen Zweck ver¬ fehlt, denn Marie ist eben so wenig wahre Nonne wie wahre FrciheitSheldiu; sie ist ihrer Anlage nach ein gutes Ding, welches allerdings in seltsame Lagen geräth, aber in Lage»!, die lange nicht hinreichen, ihre unerhörten Empstndnngcn und Vorstellungen zu erklären; sie ist mit einem Wort ein Wesen ohne Leben, ein bloßes Gedaukeudiug des Dichters. Nun kommen wir aber auf einen andern Punkt, der noch viel mehr befremden muß. Wir sagten vorher, eines der charakteristischen Merkmale der modernen Lyrik sei die Unklarheit und Rathlosigkeit in Beziehung aus die ideale Auffassung. Davon ist dieses Gedicht wieder ein merkwürdiges Beispiel. Betrachtet man die Geschichte an sich, so ist doch wol die Absicht deö Dichters ohne Zweifel, eine psychologische Krankheitsgeschichte zu schildern. Marie endet im Wahnsinn, sie redet in diesem Wahnsinn nicht blos einen unerhörten Unsinn, sondern sie bewegt sich auch in den scheußlichsten Vorstellungen, wie z. B. jene Prügelei mit der Madonna. Das ist doch wol ein unglücklicher Schluß, und wir werden der Heldin, wenn wir überhaupt Interesse an ihr nehmen, nnr unser Mitleid schenken können. In einem einleiten¬ den Vorgedicht, welches den Titel führt: „Das Weib", und im parabolischen oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/135>, abgerufen am 16.06.2024.