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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Wir gestatten in dieser Beziehung dem Lustspiel eine größere Freiheit, als der
Tragödie, aber in einer andern Beziehung ist auch wieder größere Strenge
nöthig. Der tragische Dichter kann seinem Publicum die verwegensten Voraus-
setzungen zumuthen, wie dies Shcckspeare so häufig gethan hat, wenn er nur aus
diesen Voraussetzungen richtig weiter baut; deu Lustspieldichter dagegen können
wir durch unsre eigene Erfahrung fortwährend controliren, und seine Motivirung
muß daher klar, durchsichtig und der Wirklichkeit entsprechend sein. Wir ertragen
im Lustspiel keine Voraussetzungen, die gegen die natürlichen allgemeinen Begriffe
verstoßen. Nun hat Benedix vor Kotzebue, der in der Regel sür jedes seiner
Stücke nur eine brillante Scene erfand und das übrige Stück nothdürftig an
diese Scene anreihte, zwar den Vorzug, daß er jedes seiner Stücke aus mehreren
solchen guten Einfällen zusammensetzt, aber darin liegt ans der andern Seite
wieder ein Nachtheil, denn die Intrigue, die von mehreren Brennpunkten bestimmt
wird, geräth dadurch noch mehr in's Unklare, Willkürliche und Widersprechende.
Dies ist ein Fehler, dem größere Strenge und Gewissenhaftigkeit in der Arbeit
abhelfen kann, denn an Erfindung fehlt es Benedix gar nicht, un'd wenn er die
Kritik nur sorgfältiger anwenden will, so kauu er aus vollem Holze schneiden.

Ein zweiter Fehler ist schlimmer. Bei dem phantastischen Lustspiel verlangt
man von den Figuren, die der Dichter erfindet, keine Uebereinstimmung mit dem
wirklichen Leben, wenn sie nur überhaupt lebensfähig sind und eine komische
Wirkung ausüben. Bei dem bürgerlichen Lustspiel dagegen ist es anders. Gegen
dieses Gesetz verstößt aber Benedix fast in jedem seiner Stücke, und das beruht
nur zum Theil auf Nachlässigkeit, zum großen Theil abe-r wol auf Unkenntniß
des wirklichen Lebens. Nun sind zwar die Sitten in Deutschland sehr verschieden,
aber gewisse Dinge kann man doch überall als feststehend betrachten. Die Schil¬
derung des Studentenlebens in dem "bemoosten Haupt" ist unrichtig, obgleich sie
durch einzelne Stichwörter die Studentenwelt gefesselt hat, und namentlich ist
das bemooste Haupt selbst eine ganz unmögliche Figur. Der Einfall des "alten
Magisters", mit einem jungen Wüstling auf Schläger loszugehen, ist nach unsren
bestehenden Verhältnissen geradezu eine Absurdität; und so finden sich fast in
jedem der Benedix'schen Stücke Züge, die mit dem wirklichen Leben nicht zu ver¬
einbaren sind, so z. B. in der "Hochzeitreise" der Famulus, wie denn überhaupt
der Dichter von den deutscheu Gelehrten, die er mit besonderer Vorliebe anzu¬
bringen pflegt, die geringste Kenntniß zu haben scheint.

Endlich möchten wir noch hervorheben, daß seinem Dialog wie seiner Sprache
überhaupt eine größere Feinheit und Eleganz zu wünschen wäre. Allerdings ist
von der sogenannten jungdeutschen Poesie nach der entgegengesetzten Seite hin so
schwer gesündigt worden, daß man schon eine einfache Sprache, in der wenigstens
gesunder Menschenverstand vorwaltet, als eine wohlthuende Reaction betrachten
kann; aber über das Niveau des ganz Gewöhnlichen muß doch die poetische


Grenzboten, IV. ->8LZ, ^

Wir gestatten in dieser Beziehung dem Lustspiel eine größere Freiheit, als der
Tragödie, aber in einer andern Beziehung ist auch wieder größere Strenge
nöthig. Der tragische Dichter kann seinem Publicum die verwegensten Voraus-
setzungen zumuthen, wie dies Shcckspeare so häufig gethan hat, wenn er nur aus
diesen Voraussetzungen richtig weiter baut; deu Lustspieldichter dagegen können
wir durch unsre eigene Erfahrung fortwährend controliren, und seine Motivirung
muß daher klar, durchsichtig und der Wirklichkeit entsprechend sein. Wir ertragen
im Lustspiel keine Voraussetzungen, die gegen die natürlichen allgemeinen Begriffe
verstoßen. Nun hat Benedix vor Kotzebue, der in der Regel sür jedes seiner
Stücke nur eine brillante Scene erfand und das übrige Stück nothdürftig an
diese Scene anreihte, zwar den Vorzug, daß er jedes seiner Stücke aus mehreren
solchen guten Einfällen zusammensetzt, aber darin liegt ans der andern Seite
wieder ein Nachtheil, denn die Intrigue, die von mehreren Brennpunkten bestimmt
wird, geräth dadurch noch mehr in's Unklare, Willkürliche und Widersprechende.
Dies ist ein Fehler, dem größere Strenge und Gewissenhaftigkeit in der Arbeit
abhelfen kann, denn an Erfindung fehlt es Benedix gar nicht, un'd wenn er die
Kritik nur sorgfältiger anwenden will, so kauu er aus vollem Holze schneiden.

Ein zweiter Fehler ist schlimmer. Bei dem phantastischen Lustspiel verlangt
man von den Figuren, die der Dichter erfindet, keine Uebereinstimmung mit dem
wirklichen Leben, wenn sie nur überhaupt lebensfähig sind und eine komische
Wirkung ausüben. Bei dem bürgerlichen Lustspiel dagegen ist es anders. Gegen
dieses Gesetz verstößt aber Benedix fast in jedem seiner Stücke, und das beruht
nur zum Theil auf Nachlässigkeit, zum großen Theil abe-r wol auf Unkenntniß
des wirklichen Lebens. Nun sind zwar die Sitten in Deutschland sehr verschieden,
aber gewisse Dinge kann man doch überall als feststehend betrachten. Die Schil¬
derung des Studentenlebens in dem „bemoosten Haupt" ist unrichtig, obgleich sie
durch einzelne Stichwörter die Studentenwelt gefesselt hat, und namentlich ist
das bemooste Haupt selbst eine ganz unmögliche Figur. Der Einfall des „alten
Magisters", mit einem jungen Wüstling auf Schläger loszugehen, ist nach unsren
bestehenden Verhältnissen geradezu eine Absurdität; und so finden sich fast in
jedem der Benedix'schen Stücke Züge, die mit dem wirklichen Leben nicht zu ver¬
einbaren sind, so z. B. in der „Hochzeitreise" der Famulus, wie denn überhaupt
der Dichter von den deutscheu Gelehrten, die er mit besonderer Vorliebe anzu¬
bringen pflegt, die geringste Kenntniß zu haben scheint.

Endlich möchten wir noch hervorheben, daß seinem Dialog wie seiner Sprache
überhaupt eine größere Feinheit und Eleganz zu wünschen wäre. Allerdings ist
von der sogenannten jungdeutschen Poesie nach der entgegengesetzten Seite hin so
schwer gesündigt worden, daß man schon eine einfache Sprache, in der wenigstens
gesunder Menschenverstand vorwaltet, als eine wohlthuende Reaction betrachten
kann; aber über das Niveau des ganz Gewöhnlichen muß doch die poetische


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[0147] Wir gestatten in dieser Beziehung dem Lustspiel eine größere Freiheit, als der Tragödie, aber in einer andern Beziehung ist auch wieder größere Strenge nöthig. Der tragische Dichter kann seinem Publicum die verwegensten Voraus- setzungen zumuthen, wie dies Shcckspeare so häufig gethan hat, wenn er nur aus diesen Voraussetzungen richtig weiter baut; deu Lustspieldichter dagegen können wir durch unsre eigene Erfahrung fortwährend controliren, und seine Motivirung muß daher klar, durchsichtig und der Wirklichkeit entsprechend sein. Wir ertragen im Lustspiel keine Voraussetzungen, die gegen die natürlichen allgemeinen Begriffe verstoßen. Nun hat Benedix vor Kotzebue, der in der Regel sür jedes seiner Stücke nur eine brillante Scene erfand und das übrige Stück nothdürftig an diese Scene anreihte, zwar den Vorzug, daß er jedes seiner Stücke aus mehreren solchen guten Einfällen zusammensetzt, aber darin liegt ans der andern Seite wieder ein Nachtheil, denn die Intrigue, die von mehreren Brennpunkten bestimmt wird, geräth dadurch noch mehr in's Unklare, Willkürliche und Widersprechende. Dies ist ein Fehler, dem größere Strenge und Gewissenhaftigkeit in der Arbeit abhelfen kann, denn an Erfindung fehlt es Benedix gar nicht, un'd wenn er die Kritik nur sorgfältiger anwenden will, so kauu er aus vollem Holze schneiden. Ein zweiter Fehler ist schlimmer. Bei dem phantastischen Lustspiel verlangt man von den Figuren, die der Dichter erfindet, keine Uebereinstimmung mit dem wirklichen Leben, wenn sie nur überhaupt lebensfähig sind und eine komische Wirkung ausüben. Bei dem bürgerlichen Lustspiel dagegen ist es anders. Gegen dieses Gesetz verstößt aber Benedix fast in jedem seiner Stücke, und das beruht nur zum Theil auf Nachlässigkeit, zum großen Theil abe-r wol auf Unkenntniß des wirklichen Lebens. Nun sind zwar die Sitten in Deutschland sehr verschieden, aber gewisse Dinge kann man doch überall als feststehend betrachten. Die Schil¬ derung des Studentenlebens in dem „bemoosten Haupt" ist unrichtig, obgleich sie durch einzelne Stichwörter die Studentenwelt gefesselt hat, und namentlich ist das bemooste Haupt selbst eine ganz unmögliche Figur. Der Einfall des „alten Magisters", mit einem jungen Wüstling auf Schläger loszugehen, ist nach unsren bestehenden Verhältnissen geradezu eine Absurdität; und so finden sich fast in jedem der Benedix'schen Stücke Züge, die mit dem wirklichen Leben nicht zu ver¬ einbaren sind, so z. B. in der „Hochzeitreise" der Famulus, wie denn überhaupt der Dichter von den deutscheu Gelehrten, die er mit besonderer Vorliebe anzu¬ bringen pflegt, die geringste Kenntniß zu haben scheint. Endlich möchten wir noch hervorheben, daß seinem Dialog wie seiner Sprache überhaupt eine größere Feinheit und Eleganz zu wünschen wäre. Allerdings ist von der sogenannten jungdeutschen Poesie nach der entgegengesetzten Seite hin so schwer gesündigt worden, daß man schon eine einfache Sprache, in der wenigstens gesunder Menschenverstand vorwaltet, als eine wohlthuende Reaction betrachten kann; aber über das Niveau des ganz Gewöhnlichen muß doch die poetische Grenzboten, IV. ->8LZ, ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/147>, abgerufen am 16.06.2024.