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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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"Absolutes Wissen" kann sich entweder auf den Umfang oder auf die Me¬
thode des Wissens beziehen; es kaun entweder heißen, daß die Philosophie Alles
wissen soll, oder daß sie Alles, was sie weiß, mit absoluter Gewißheit wissen soll.
Nehmen wir^ die erste Bedeutung, so würde es keine Philosophie geben können,
denn ein Wissen, welches keine Schranke des Nichtwissens'kennt, ist ein Unding.
Alle Wissenschaften gehen zwar darauf aus, ihren Umfang beständig zu erweitern,
aber wenn sie anch sämmtliche sichtbaren Sterne gezahlt, ihre Größe gemessen
und ihre Schwere gewogen haben, so wird es doch immer noch Sterne geben,
die unsren Augen unsichtbar sind, und so nach allen Seiten hin. Aber selbst
davon abgesehen, würde die Philosophie immer uoch kein Privilegium des aus¬
schließlichen Wissens beanspruchen können, denn in den übrigen Wissenschaften wird
auch Vieles gewußt, ohne daß sie Philosophie wären.

Nehmen wir die zweite Bedeutung, so ergiebt sich derselbe Widerspruch.
Auch die anderen Wissenschaften haben ein absolutes Wissen in dem Raum, den
sie bereits erobert haben, und in dem, der sich noch ihrer Macht entzieht, streben
sie wenigstens nach absolutem Wissen. Die Mathematik weiß absolut, daß die
Quadrate der Katheten gleich dem Quadrate der Hypothenuse siud; die Me¬
chanik- weiß absolut, daß das Resultat zweier Kräfte vou verschiedener Stärke
und verschiedener Richtung auf einen Puukt hin durch die Diagonale des Parallelv-
grammms bestimmt wird; die Astronomie weiß absolut, was der Mond für Be¬
wegungen macht, das zeigen die Kalender; und um von den exacten Wissenschaften
abzugehen, die Philologie weiß absolut, was dieses oder jenes Wort bedeutet hat;
die Geschichte weiß absolut, daß diese oder jene Begebenheit in diesem oder jenem
Jahre vorgefallen sei. Der Charakter des absoluten Wissens kommt also allen
Wissenschaften zu, und wir werden bei der Philosophie immer wieder fragen:
Was ist es eigentlich, das sie absolut weiß?

Uns fällt dabei der Anfang des Platonischen Gorgias ein. Der Sophist
nimmt den Mund voll von den Vorzügen seiner Kunst, der Redekunst, welche
die Menschen befähigen soll, über Alles zu sprechen. Plato geht ihm darauf zu
Leibe und zeigt, daß, um über einen Gegenstand gut sprechen zu können, man
zuerst den Gegenstand kennen müsse, daß also die Redekunst, wenn sie ihre Ver¬
sprechungen erfüllen will, zunächst Kenntnisse von verschiedenen Gegenständen ihren
Schülern vermitteln müsse, und fragt nun weiter, welche Gegenstände es seien,
deren Kenntniß die Redekunst vermittele? Als der Sophist die Antwort schuldig
bleibt, nimmt Plato selber das Wort und antwortet auf die Frage, welche Kunst
die Redekunst sei: sie sei gar keine Kunst, sondern stehe ans einem Niveau mit
der Kochkunst, die zwar den Gegenständen einen eigenthümlichen Geschmack bei¬
zubringen wisse, aber selbst nichts Substantielles überliesere.

Wenn man die heutige Philosophie ansieht, so möchte man sich versucht füh¬
len, sie mit der Redekunst des Gorgias zu vergleichen; denn auch sie verspricht


„Absolutes Wissen" kann sich entweder auf den Umfang oder auf die Me¬
thode des Wissens beziehen; es kaun entweder heißen, daß die Philosophie Alles
wissen soll, oder daß sie Alles, was sie weiß, mit absoluter Gewißheit wissen soll.
Nehmen wir^ die erste Bedeutung, so würde es keine Philosophie geben können,
denn ein Wissen, welches keine Schranke des Nichtwissens'kennt, ist ein Unding.
Alle Wissenschaften gehen zwar darauf aus, ihren Umfang beständig zu erweitern,
aber wenn sie anch sämmtliche sichtbaren Sterne gezahlt, ihre Größe gemessen
und ihre Schwere gewogen haben, so wird es doch immer noch Sterne geben,
die unsren Augen unsichtbar sind, und so nach allen Seiten hin. Aber selbst
davon abgesehen, würde die Philosophie immer uoch kein Privilegium des aus¬
schließlichen Wissens beanspruchen können, denn in den übrigen Wissenschaften wird
auch Vieles gewußt, ohne daß sie Philosophie wären.

Nehmen wir die zweite Bedeutung, so ergiebt sich derselbe Widerspruch.
Auch die anderen Wissenschaften haben ein absolutes Wissen in dem Raum, den
sie bereits erobert haben, und in dem, der sich noch ihrer Macht entzieht, streben
sie wenigstens nach absolutem Wissen. Die Mathematik weiß absolut, daß die
Quadrate der Katheten gleich dem Quadrate der Hypothenuse siud; die Me¬
chanik- weiß absolut, daß das Resultat zweier Kräfte vou verschiedener Stärke
und verschiedener Richtung auf einen Puukt hin durch die Diagonale des Parallelv-
grammms bestimmt wird; die Astronomie weiß absolut, was der Mond für Be¬
wegungen macht, das zeigen die Kalender; und um von den exacten Wissenschaften
abzugehen, die Philologie weiß absolut, was dieses oder jenes Wort bedeutet hat;
die Geschichte weiß absolut, daß diese oder jene Begebenheit in diesem oder jenem
Jahre vorgefallen sei. Der Charakter des absoluten Wissens kommt also allen
Wissenschaften zu, und wir werden bei der Philosophie immer wieder fragen:
Was ist es eigentlich, das sie absolut weiß?

Uns fällt dabei der Anfang des Platonischen Gorgias ein. Der Sophist
nimmt den Mund voll von den Vorzügen seiner Kunst, der Redekunst, welche
die Menschen befähigen soll, über Alles zu sprechen. Plato geht ihm darauf zu
Leibe und zeigt, daß, um über einen Gegenstand gut sprechen zu können, man
zuerst den Gegenstand kennen müsse, daß also die Redekunst, wenn sie ihre Ver¬
sprechungen erfüllen will, zunächst Kenntnisse von verschiedenen Gegenständen ihren
Schülern vermitteln müsse, und fragt nun weiter, welche Gegenstände es seien,
deren Kenntniß die Redekunst vermittele? Als der Sophist die Antwort schuldig
bleibt, nimmt Plato selber das Wort und antwortet auf die Frage, welche Kunst
die Redekunst sei: sie sei gar keine Kunst, sondern stehe ans einem Niveau mit
der Kochkunst, die zwar den Gegenständen einen eigenthümlichen Geschmack bei¬
zubringen wisse, aber selbst nichts Substantielles überliesere.

Wenn man die heutige Philosophie ansieht, so möchte man sich versucht füh¬
len, sie mit der Redekunst des Gorgias zu vergleichen; denn auch sie verspricht


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[0158] „Absolutes Wissen" kann sich entweder auf den Umfang oder auf die Me¬ thode des Wissens beziehen; es kaun entweder heißen, daß die Philosophie Alles wissen soll, oder daß sie Alles, was sie weiß, mit absoluter Gewißheit wissen soll. Nehmen wir^ die erste Bedeutung, so würde es keine Philosophie geben können, denn ein Wissen, welches keine Schranke des Nichtwissens'kennt, ist ein Unding. Alle Wissenschaften gehen zwar darauf aus, ihren Umfang beständig zu erweitern, aber wenn sie anch sämmtliche sichtbaren Sterne gezahlt, ihre Größe gemessen und ihre Schwere gewogen haben, so wird es doch immer noch Sterne geben, die unsren Augen unsichtbar sind, und so nach allen Seiten hin. Aber selbst davon abgesehen, würde die Philosophie immer uoch kein Privilegium des aus¬ schließlichen Wissens beanspruchen können, denn in den übrigen Wissenschaften wird auch Vieles gewußt, ohne daß sie Philosophie wären. Nehmen wir die zweite Bedeutung, so ergiebt sich derselbe Widerspruch. Auch die anderen Wissenschaften haben ein absolutes Wissen in dem Raum, den sie bereits erobert haben, und in dem, der sich noch ihrer Macht entzieht, streben sie wenigstens nach absolutem Wissen. Die Mathematik weiß absolut, daß die Quadrate der Katheten gleich dem Quadrate der Hypothenuse siud; die Me¬ chanik- weiß absolut, daß das Resultat zweier Kräfte vou verschiedener Stärke und verschiedener Richtung auf einen Puukt hin durch die Diagonale des Parallelv- grammms bestimmt wird; die Astronomie weiß absolut, was der Mond für Be¬ wegungen macht, das zeigen die Kalender; und um von den exacten Wissenschaften abzugehen, die Philologie weiß absolut, was dieses oder jenes Wort bedeutet hat; die Geschichte weiß absolut, daß diese oder jene Begebenheit in diesem oder jenem Jahre vorgefallen sei. Der Charakter des absoluten Wissens kommt also allen Wissenschaften zu, und wir werden bei der Philosophie immer wieder fragen: Was ist es eigentlich, das sie absolut weiß? Uns fällt dabei der Anfang des Platonischen Gorgias ein. Der Sophist nimmt den Mund voll von den Vorzügen seiner Kunst, der Redekunst, welche die Menschen befähigen soll, über Alles zu sprechen. Plato geht ihm darauf zu Leibe und zeigt, daß, um über einen Gegenstand gut sprechen zu können, man zuerst den Gegenstand kennen müsse, daß also die Redekunst, wenn sie ihre Ver¬ sprechungen erfüllen will, zunächst Kenntnisse von verschiedenen Gegenständen ihren Schülern vermitteln müsse, und fragt nun weiter, welche Gegenstände es seien, deren Kenntniß die Redekunst vermittele? Als der Sophist die Antwort schuldig bleibt, nimmt Plato selber das Wort und antwortet auf die Frage, welche Kunst die Redekunst sei: sie sei gar keine Kunst, sondern stehe ans einem Niveau mit der Kochkunst, die zwar den Gegenständen einen eigenthümlichen Geschmack bei¬ zubringen wisse, aber selbst nichts Substantielles überliesere. Wenn man die heutige Philosophie ansieht, so möchte man sich versucht füh¬ len, sie mit der Redekunst des Gorgias zu vergleichen; denn auch sie verspricht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/158>, abgerufen am 16.06.2024.