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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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Logik abgegangen ist und sie mit der Metaphysik Verbunden hat, eine Reihe sehr
verschiedener Begriffsverbindungen, die scheinbar aus einander hergeleitet werden,
eigentlich aber den verschiedenen Wissenschaften entnommen sind. Wenn man das
Gebiet der sogenannten exacten Wissenschaften übersteht, so ergiebt sich eine ziemlich
vollständige Reihe, die mit der Abstraction anfängt und immer weiter in's Con-
crete überleitet. In dieser Reihe werden zuweilen die nämlichen Begriffe, weil
sich allmählich ein immer reicherer Inhalt in ihnen vorfindet, in verschiedenem
Sinn gebraucht. So ist z. B. der Raum, wie ihn die reine Mathematik gebraucht,
ein viel abstracterer Begriff, als der Raum in der Astronomie; so gewinnt der
Begriff der Unendlichkeit, der in der Elementar-Mathematik etwas blos Negatives
ist, das NichtVorhandensein einer Grenze, in dem analytischen Theil der Mathe¬
matik wieder eine ganz andere Bedeutung. Wir können uns hier nicht ans das
Einzelne einlassen und bemerken nur, daß der Mathematiker in . der Fortbildung
seiner Begriffe naiv zu Werke geht. Er macht es gerade so, wie in der Ele¬
mentarmathematik, wo er zuerst z. B. eine bestimmte Definition von Potenzen
giebt, dann dnrch Rechnung ans negative und gebrochene Exponenten kommt und
von diesen beweist, daß auf sie dieselben Gesetze Anwendung finden, ohne sich im
geringsten dadurch irren zu lassen, daß diese Begriffe auf seiue erste Definition
nicht mehr im geringsten passen. Es ist ihm immer nur um den nächsten posi¬
tiven Schritt zu thun, das Ganze hat für ihn wenig Interesse. Wir haben
dieses aller Welt geläufige Beispiel gewählt, in der höhern Mathematik würden
sich noch viel schlagendere ausfinden lassen. Hier hat nun ein philosophischer
Kopf, was bei uns ungefähr so viel heißt, als ein synthetischer Kopf, der sich
der realen Grundlage des Wissens bemächtigt hat, eine sehr dankenswerthe Auf¬
gabe, indem er an dem Fortschreiten der Wissenschaft das Bild von dem Fort¬
schreiten des menschlichen Erkenntnißvermögens in seiner idealsten Gestalt studirt.
Er wird nicht fragen, was Raum, Zeit, Bewegung, Unendlichkeit u. s. in. ist,
denn das sind ganz leere Fragen, sondern wie in diesen Begriffen der menschliche
Geist in ganz nothwendiger Stufenfolge die Natur und ihre Entwickelung vom
Abstracten zum Concreten in sich selber reproducirt. Wenn auf diese Weise die
Philosophie, anstatt sich in stolzer Selbstgenügsamkeit zu wiegen, sich an die Reihe
der wirklichen Wissenschaften anlehnt, so wird sie dieselben auf eine fruchtbare
Weise ergänzen, indem sie zur Analyse die Synthese hinzufügt. Sie wird nichts
Anderes wissen wollen, als was die Wissenschaft weiß; sie wird es aber von
einem höhern, freiern Standpunkte anschauen. Es versteht sich dabei von selbst,
daß ein Philosoph nach unserer Definition kein anderer sein kann, als ein solcher,
der die Disciplin, über die er philosophiren will, in der gewöhnlichen wissen>
schastjichen Weise vollkommen beherrscht.

Alle diese Betrachtungen gelten nur von einer Zeit, in der die Wissenschaft
im höhern Sinne wirklich existirt; in Uebergangsperioden dagegen hat sie eine


Logik abgegangen ist und sie mit der Metaphysik Verbunden hat, eine Reihe sehr
verschiedener Begriffsverbindungen, die scheinbar aus einander hergeleitet werden,
eigentlich aber den verschiedenen Wissenschaften entnommen sind. Wenn man das
Gebiet der sogenannten exacten Wissenschaften übersteht, so ergiebt sich eine ziemlich
vollständige Reihe, die mit der Abstraction anfängt und immer weiter in's Con-
crete überleitet. In dieser Reihe werden zuweilen die nämlichen Begriffe, weil
sich allmählich ein immer reicherer Inhalt in ihnen vorfindet, in verschiedenem
Sinn gebraucht. So ist z. B. der Raum, wie ihn die reine Mathematik gebraucht,
ein viel abstracterer Begriff, als der Raum in der Astronomie; so gewinnt der
Begriff der Unendlichkeit, der in der Elementar-Mathematik etwas blos Negatives
ist, das NichtVorhandensein einer Grenze, in dem analytischen Theil der Mathe¬
matik wieder eine ganz andere Bedeutung. Wir können uns hier nicht ans das
Einzelne einlassen und bemerken nur, daß der Mathematiker in . der Fortbildung
seiner Begriffe naiv zu Werke geht. Er macht es gerade so, wie in der Ele¬
mentarmathematik, wo er zuerst z. B. eine bestimmte Definition von Potenzen
giebt, dann dnrch Rechnung ans negative und gebrochene Exponenten kommt und
von diesen beweist, daß auf sie dieselben Gesetze Anwendung finden, ohne sich im
geringsten dadurch irren zu lassen, daß diese Begriffe auf seiue erste Definition
nicht mehr im geringsten passen. Es ist ihm immer nur um den nächsten posi¬
tiven Schritt zu thun, das Ganze hat für ihn wenig Interesse. Wir haben
dieses aller Welt geläufige Beispiel gewählt, in der höhern Mathematik würden
sich noch viel schlagendere ausfinden lassen. Hier hat nun ein philosophischer
Kopf, was bei uns ungefähr so viel heißt, als ein synthetischer Kopf, der sich
der realen Grundlage des Wissens bemächtigt hat, eine sehr dankenswerthe Auf¬
gabe, indem er an dem Fortschreiten der Wissenschaft das Bild von dem Fort¬
schreiten des menschlichen Erkenntnißvermögens in seiner idealsten Gestalt studirt.
Er wird nicht fragen, was Raum, Zeit, Bewegung, Unendlichkeit u. s. in. ist,
denn das sind ganz leere Fragen, sondern wie in diesen Begriffen der menschliche
Geist in ganz nothwendiger Stufenfolge die Natur und ihre Entwickelung vom
Abstracten zum Concreten in sich selber reproducirt. Wenn auf diese Weise die
Philosophie, anstatt sich in stolzer Selbstgenügsamkeit zu wiegen, sich an die Reihe
der wirklichen Wissenschaften anlehnt, so wird sie dieselben auf eine fruchtbare
Weise ergänzen, indem sie zur Analyse die Synthese hinzufügt. Sie wird nichts
Anderes wissen wollen, als was die Wissenschaft weiß; sie wird es aber von
einem höhern, freiern Standpunkte anschauen. Es versteht sich dabei von selbst,
daß ein Philosoph nach unserer Definition kein anderer sein kann, als ein solcher,
der die Disciplin, über die er philosophiren will, in der gewöhnlichen wissen>
schastjichen Weise vollkommen beherrscht.

Alle diese Betrachtungen gelten nur von einer Zeit, in der die Wissenschaft
im höhern Sinne wirklich existirt; in Uebergangsperioden dagegen hat sie eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/160>, abgerufen am 15.06.2024.