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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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das Mittelmäßige, sondern das absolut Schädliche und Häßliche von allen Seiten
das Große und Bedeutende überwuchert, diese Strenge die erste und heiligste
Pflicht der Kritik zu sein. Nicht blos dem Volk gegenüber, sondern auch aus
Gerechtigkeitsgefühl gegen verhältnißmäßig bedeutende Erscheinungen. So unter¬
wirft z. B. Herr Rosenkranz die Dramen von Hebbel einer scharfen und sehr
gerechten Kritik, der wir in allen Punkten beistimmen; aber diese Schärfe stimmt
nicht zu dem Ton, den der Verfasser anderen Erscheinungen von gleichen Fehlern
und geringerer Begabung gegenüber anstimme.

Wir wissen nicht, ob der Leser aus unserer Darstellung genau den Eindruck ent¬
nehmen wird, den wir beabsichtigen. Wir mußten uns scharf und bestimmt aus-
sprechen, weil es sich zum Theil um Lebensfragen auf dem Gebiet der Aesthetik
handelte, aber wir haben dabei immer das Gefühl, eigentlich einer interessanten
und bedeutenden Erscheinung gegenüber zu stehen, bei der es uus nur ungeduldig
macht, daß sie nicht vollständig das leistet, was wir von ihr zu erwarten berech¬
tigt sind. Und dieses Gefühl mochten wir auch unseren Lesern einflößen.




Deutschland und die orientalische Frage.

Die Times bemerkt in einem ihrer gelesensten Artikel über die orientalische
Frage, es sei sehr unbillig von der deutschen Presse, die ganze Last der orien¬
talischen Verwirrung England aufzubürden, und die beiden deutschen Großmächte,
welche die Sache doch zunächst anginge, ganz aus dem Spiel zu lassen. So
viel wahres leider in diesen versteckten Vorwürfen liegt, so hat doch England
keineswegs ein Recht dazu, uns mit Hohn zu überschütten; und am wenigsten
sollte sich jenes Blatt dazu veranlaßt fühlen, welches gegen Deutschland fortwäh¬
rend die perfideste Haltung eingenommen hat. Leider ist die Lage Deutschlands
von der Art, daß eine jede neu auftauchende Frage im Orient für uns nur be¬
drohliche Aussichten eröffnet, während jede der anderen Großmächte aus
irgend eine Weise hoffen kann, dabei zu gewinnen. Jeder neue Schritt, durch
den sich Rußland seinem großen Ziele, der Herrschaft über die Türkei, nähert,
bahnt ihm zugleich einen Weg zur Herrschaft über die östreichischen Slaven
und eröffnet ihm damit eine Bresche in das Herz Deutschlands; und ans der
andern Seite lauert unser eifersüchtiger Nachbar, Frankreich, nur auf einen
Zusammenstoß der Großmächte im Orient, um diese Gelegenheit zu einem Ein¬
marsch in die deutsche" Rheinprovinzen zu benutzen. Es ist das nicht etwa erst
der Fall seit der Herrschaft Napoleons; schon unter dem friedliebenden und
bürgerfreundlichen Louis Philipp war in die gestimmte französische Nation von
den ersten Staatsmännern bis herunter zu den letzten Gassenjungen in Paris ein


Grenzboten, III. 2

das Mittelmäßige, sondern das absolut Schädliche und Häßliche von allen Seiten
das Große und Bedeutende überwuchert, diese Strenge die erste und heiligste
Pflicht der Kritik zu sein. Nicht blos dem Volk gegenüber, sondern auch aus
Gerechtigkeitsgefühl gegen verhältnißmäßig bedeutende Erscheinungen. So unter¬
wirft z. B. Herr Rosenkranz die Dramen von Hebbel einer scharfen und sehr
gerechten Kritik, der wir in allen Punkten beistimmen; aber diese Schärfe stimmt
nicht zu dem Ton, den der Verfasser anderen Erscheinungen von gleichen Fehlern
und geringerer Begabung gegenüber anstimme.

Wir wissen nicht, ob der Leser aus unserer Darstellung genau den Eindruck ent¬
nehmen wird, den wir beabsichtigen. Wir mußten uns scharf und bestimmt aus-
sprechen, weil es sich zum Theil um Lebensfragen auf dem Gebiet der Aesthetik
handelte, aber wir haben dabei immer das Gefühl, eigentlich einer interessanten
und bedeutenden Erscheinung gegenüber zu stehen, bei der es uus nur ungeduldig
macht, daß sie nicht vollständig das leistet, was wir von ihr zu erwarten berech¬
tigt sind. Und dieses Gefühl mochten wir auch unseren Lesern einflößen.




Deutschland und die orientalische Frage.

Die Times bemerkt in einem ihrer gelesensten Artikel über die orientalische
Frage, es sei sehr unbillig von der deutschen Presse, die ganze Last der orien¬
talischen Verwirrung England aufzubürden, und die beiden deutschen Großmächte,
welche die Sache doch zunächst anginge, ganz aus dem Spiel zu lassen. So
viel wahres leider in diesen versteckten Vorwürfen liegt, so hat doch England
keineswegs ein Recht dazu, uns mit Hohn zu überschütten; und am wenigsten
sollte sich jenes Blatt dazu veranlaßt fühlen, welches gegen Deutschland fortwäh¬
rend die perfideste Haltung eingenommen hat. Leider ist die Lage Deutschlands
von der Art, daß eine jede neu auftauchende Frage im Orient für uns nur be¬
drohliche Aussichten eröffnet, während jede der anderen Großmächte aus
irgend eine Weise hoffen kann, dabei zu gewinnen. Jeder neue Schritt, durch
den sich Rußland seinem großen Ziele, der Herrschaft über die Türkei, nähert,
bahnt ihm zugleich einen Weg zur Herrschaft über die östreichischen Slaven
und eröffnet ihm damit eine Bresche in das Herz Deutschlands; und ans der
andern Seite lauert unser eifersüchtiger Nachbar, Frankreich, nur auf einen
Zusammenstoß der Großmächte im Orient, um diese Gelegenheit zu einem Ein¬
marsch in die deutsche« Rheinprovinzen zu benutzen. Es ist das nicht etwa erst
der Fall seit der Herrschaft Napoleons; schon unter dem friedliebenden und
bürgerfreundlichen Louis Philipp war in die gestimmte französische Nation von
den ersten Staatsmännern bis herunter zu den letzten Gassenjungen in Paris ein


Grenzboten, III. 2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/17>, abgerufen am 27.05.2024.