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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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stand, weil bei der neueren Literatur alles in die Breite geht, und weil daher
die Beispiele an Prägnanz und an Charakteristik verlieren. Bei einer Aesthetik
des Häßlichen mußte, was die Poesie' betrifft, nothwendigerweise Dante und
Shakespeare zu Grunde gelegt werden. Es kam darauf an, bevor vor einer
falschen Anwendung des Häßlichen gewarnt wurde, die richtige Anwendung des
Häßlichen an schlagenden Beispielen nachzuweisen, und aus diesen Beispielen
eine Theorie zu abstrahiren, auf die man sich nachher bei der Beurtheilung der
Uebertreibungen stützen konnte. Aber auch bei der Auswahl aus der neueren
Literatur ist der Verfasser eigentlich uicht glücklich gewesen, er hat z. B. einen
Dichter ganz und gar übersehen, der ihm doch die reichste Ausbeute gewährt hätte,
nämlich Walter Scott. Wenn Herr Rosenkranz hier genau zergliedert hätte, in¬
wiefern z. B. der "Sohn des Gespenstes" im "Fräulein am See", oder die
Leichenweiber in der "Braut vou Lammermoor", die Zigeuner im "Astrologen"
n. s. w. in das Gebiet der Poesie gehören, so hätte er sich eine Menge nichts¬
sagender und unbedeutender Citate ans Gutzkow ersparen können. Ferner haben
wir mit großem Erstannen zwei Dichter vermißt, die ihm einen ganzen Kanon
ästhetischer Häßlichkeit hätten liefern können, Balzac und Thakeray. Auch bei den
Dichtern, die er häufig benutzt, z. B. Dickens, hat er nicht immer die treffendsten
Beispiele gefunden.

Ein zweiter Umstand ist der Mangel an einem sichern Urtheil. Wir möchten
nicht gern mißverstanden werden:, es finden sich in dem Buch sehr viel Urtheile,
die ebenso neu als geistreich sind, denen wir beipflichten und aus denen wir
Belehrung schöpfen; aber es finden sich hart daneben auch Urtheile, bei denen
uns ganz wörtlich Hören und Scheu vergeht. Wir machen nur aus die Ansicht
von der theatralischen Bedeutung des zweiten Theils des Faust, p. 73, aufmerksam.
Wir müssen gestehen, daß wir schon hänfig darüber nachgedacht haben, wie bei
einem so sein gebildeten Mann, bei einem Mann von so augenscheinlicher Redlich¬
keit und Wahrheitsliebe, so unerhört häufig falsche Urtheile möglich sind. Zum
Theil glauben wir es uns aus einer im übrigen höchst anerkennenswerther Eigen¬
schaft herleiten zu müsse". Herr Rosenkranz ist eine jener glücklich organisirten
Naurer, die dazu bestimmt sind, überall nur Wohlwollen und Liebe, nirgends
Haß und Neid zu begegnen. Was er auch schreiben möge, er ist überall mit
der Totalität seiner Empfindung dabei; auch wo er über Werke urtheilt, ver¬
leugnet sich seine Theilnahme für den Schriftsteller nicht. Und da ein geistvoller
wohlwollender Mann, begabt mit jener Höflichkeit des Herzens, die nie verletzt,
anch wo sie nicht billigt, anch unbedeutenden Persönlichkeiten Interesse abgewinnen
wird, wenn sie nur nahe genug stehen, so erstreckt sich diese Theilnahme sehr weit.--

Aber sollte eine solche Natur zur Kritik berufen sein? Wir zweifeln daran,
wenigstens nnr in dem Fall, wenn sie sehr streng über sich selber wacht.
Nun scheint uns grade in unserer Zeit, wo in der schönen Literatur nicht blos


stand, weil bei der neueren Literatur alles in die Breite geht, und weil daher
die Beispiele an Prägnanz und an Charakteristik verlieren. Bei einer Aesthetik
des Häßlichen mußte, was die Poesie' betrifft, nothwendigerweise Dante und
Shakespeare zu Grunde gelegt werden. Es kam darauf an, bevor vor einer
falschen Anwendung des Häßlichen gewarnt wurde, die richtige Anwendung des
Häßlichen an schlagenden Beispielen nachzuweisen, und aus diesen Beispielen
eine Theorie zu abstrahiren, auf die man sich nachher bei der Beurtheilung der
Uebertreibungen stützen konnte. Aber auch bei der Auswahl aus der neueren
Literatur ist der Verfasser eigentlich uicht glücklich gewesen, er hat z. B. einen
Dichter ganz und gar übersehen, der ihm doch die reichste Ausbeute gewährt hätte,
nämlich Walter Scott. Wenn Herr Rosenkranz hier genau zergliedert hätte, in¬
wiefern z. B. der „Sohn des Gespenstes" im „Fräulein am See", oder die
Leichenweiber in der „Braut vou Lammermoor", die Zigeuner im „Astrologen"
n. s. w. in das Gebiet der Poesie gehören, so hätte er sich eine Menge nichts¬
sagender und unbedeutender Citate ans Gutzkow ersparen können. Ferner haben
wir mit großem Erstannen zwei Dichter vermißt, die ihm einen ganzen Kanon
ästhetischer Häßlichkeit hätten liefern können, Balzac und Thakeray. Auch bei den
Dichtern, die er häufig benutzt, z. B. Dickens, hat er nicht immer die treffendsten
Beispiele gefunden.

Ein zweiter Umstand ist der Mangel an einem sichern Urtheil. Wir möchten
nicht gern mißverstanden werden:, es finden sich in dem Buch sehr viel Urtheile,
die ebenso neu als geistreich sind, denen wir beipflichten und aus denen wir
Belehrung schöpfen; aber es finden sich hart daneben auch Urtheile, bei denen
uns ganz wörtlich Hören und Scheu vergeht. Wir machen nur aus die Ansicht
von der theatralischen Bedeutung des zweiten Theils des Faust, p. 73, aufmerksam.
Wir müssen gestehen, daß wir schon hänfig darüber nachgedacht haben, wie bei
einem so sein gebildeten Mann, bei einem Mann von so augenscheinlicher Redlich¬
keit und Wahrheitsliebe, so unerhört häufig falsche Urtheile möglich sind. Zum
Theil glauben wir es uns aus einer im übrigen höchst anerkennenswerther Eigen¬
schaft herleiten zu müsse». Herr Rosenkranz ist eine jener glücklich organisirten
Naurer, die dazu bestimmt sind, überall nur Wohlwollen und Liebe, nirgends
Haß und Neid zu begegnen. Was er auch schreiben möge, er ist überall mit
der Totalität seiner Empfindung dabei; auch wo er über Werke urtheilt, ver¬
leugnet sich seine Theilnahme für den Schriftsteller nicht. Und da ein geistvoller
wohlwollender Mann, begabt mit jener Höflichkeit des Herzens, die nie verletzt,
anch wo sie nicht billigt, anch unbedeutenden Persönlichkeiten Interesse abgewinnen
wird, wenn sie nur nahe genug stehen, so erstreckt sich diese Theilnahme sehr weit.—

Aber sollte eine solche Natur zur Kritik berufen sein? Wir zweifeln daran,
wenigstens nnr in dem Fall, wenn sie sehr streng über sich selber wacht.
Nun scheint uns grade in unserer Zeit, wo in der schönen Literatur nicht blos


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/16>, abgerufen am 27.05.2024.