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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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lag, Konstantinopel zu überfallen, bevor Europa alarmirt gewesen wäre. Diese
Stunde, welche mit dem Eintreffen der Flotten ablief, hat er vorübergehen lassen.
Ob er ebenso die Frist sich entschlüpfen lasse" wird, die ihm noch bleibt, um sich
ohne erheblichen Widerstand der sechs Hochpässe zu bemeistern, über die hinweg
Rumelien und Bulgarien ihre Verbindung suchen? Nur kurz noch ist sie bemessen!
Von allen Seiten her sind die türkischen Kolonnen im Marsch. Einige Tage
vielleicht nur noch und selbst die Uebergangspunkte über die Donau würden nicht
ohne einen hartnäckigen Kampf in Besitz genommen werden können.

Es war vorauszusehen, daß die östreichischen, insbesondere Wiener Blätter
nicht verfehle-n wurden, die ersten militärischen Anstrengungen, welche seit nun¬
mehr zwei Monaten die Pforte gemacht hat, als unkluge Maßregeln darzustellen.
Sie würden das Reich letztlich völlig entkräften, bekommt man an hundert Stellen
zu lesen, und namentlich seinen endlichen völligen finanziellen Ruin unvermeidlich
machen. Dessenungeachtet war selten ein Entschluß des Divans von den Um¬
ständen in dem Maße gerechtfertigt, keiner ging unabweisbarer als Nothwendig¬
keit aus den obwaltenden Umständen hervor wie der, sich nach Kräften in Ver-
theidigungszustand zu setzen. Am ungerechtesten aber würde man urtheile", wenn
man die Rüstungen zwecklos nennen wollte. Solche Behauptung kann in der
That nur verblendete Parteisucht aufstelle". Mag auch immerhin eingeräumt
werden, daß mit westeuropäische" Armeen das türkische Heer nur beziehungsweise
in Vergleich gestellt werde" kann, so ist der Unterschied hinsichtlich der Brauchbar¬
keit des einzelnen Mannes, zwischen den russischen und türkischen Truppen schon
nicht mehr überwiegend groß, ja man kann dreist sagen, daß, abgesehen von der
ohne Frage besseren Führung der ersteren, die individuelle Ueberlegenheit sich ans
Seite des osmanischen Soldaten befindet. Indeß wäre" es kaum dergleichen
Betrachtungen, welche das türkische Ministerium, zu seinen enormen Vertheidigungs¬
maßregeln bestimmten. Dieselben wurde" ganz einfach in der Absicht angeordnet,
um mit den eigenen Kräften, im Fall Rußland zum Angriff schritte, mindestens
solange widerstehen zu können, bis die Hilfsarmeen Frankreichs und Englands
auf dem Kampfplatz erschienen wären.

Damit ist der eigentliche Gesichtspunkt für die Beurtheilung der in Rede
stehende" Rüstungen bezeichnet; er trägt seine politische Rechtfertigung in sich
selber; anders steht es um die Frage: ob die Mittel der Türkei für de" ange¬
strebte" Zweck ausreichen, d. h. ob sie nicht z" schwach sei" werden, um Rußland
während des bezeichneten Zeitraumes eine wirksame Schranke entgegenzustellen.

Solche Befürchtung scheint man nun aber weder in Paris noch in London,
an welchen beiden Orten man die osmanischen Kräfte wohl zu beurtheile" ver¬
steht und anch einer richtigen Einsicht in die russische" nicht entbehrt, keineswegs
zu hegen, und allem Anschein nach mit Recht. Es ist vom Feldzug 1828 her
bekannt, daß damals 25,000 Maun osmanische, zum Theil irreguläre Truppen


lag, Konstantinopel zu überfallen, bevor Europa alarmirt gewesen wäre. Diese
Stunde, welche mit dem Eintreffen der Flotten ablief, hat er vorübergehen lassen.
Ob er ebenso die Frist sich entschlüpfen lasse» wird, die ihm noch bleibt, um sich
ohne erheblichen Widerstand der sechs Hochpässe zu bemeistern, über die hinweg
Rumelien und Bulgarien ihre Verbindung suchen? Nur kurz noch ist sie bemessen!
Von allen Seiten her sind die türkischen Kolonnen im Marsch. Einige Tage
vielleicht nur noch und selbst die Uebergangspunkte über die Donau würden nicht
ohne einen hartnäckigen Kampf in Besitz genommen werden können.

Es war vorauszusehen, daß die östreichischen, insbesondere Wiener Blätter
nicht verfehle-n wurden, die ersten militärischen Anstrengungen, welche seit nun¬
mehr zwei Monaten die Pforte gemacht hat, als unkluge Maßregeln darzustellen.
Sie würden das Reich letztlich völlig entkräften, bekommt man an hundert Stellen
zu lesen, und namentlich seinen endlichen völligen finanziellen Ruin unvermeidlich
machen. Dessenungeachtet war selten ein Entschluß des Divans von den Um¬
ständen in dem Maße gerechtfertigt, keiner ging unabweisbarer als Nothwendig¬
keit aus den obwaltenden Umständen hervor wie der, sich nach Kräften in Ver-
theidigungszustand zu setzen. Am ungerechtesten aber würde man urtheile», wenn
man die Rüstungen zwecklos nennen wollte. Solche Behauptung kann in der
That nur verblendete Parteisucht aufstelle». Mag auch immerhin eingeräumt
werden, daß mit westeuropäische» Armeen das türkische Heer nur beziehungsweise
in Vergleich gestellt werde» kann, so ist der Unterschied hinsichtlich der Brauchbar¬
keit des einzelnen Mannes, zwischen den russischen und türkischen Truppen schon
nicht mehr überwiegend groß, ja man kann dreist sagen, daß, abgesehen von der
ohne Frage besseren Führung der ersteren, die individuelle Ueberlegenheit sich ans
Seite des osmanischen Soldaten befindet. Indeß wäre» es kaum dergleichen
Betrachtungen, welche das türkische Ministerium, zu seinen enormen Vertheidigungs¬
maßregeln bestimmten. Dieselben wurde» ganz einfach in der Absicht angeordnet,
um mit den eigenen Kräften, im Fall Rußland zum Angriff schritte, mindestens
solange widerstehen zu können, bis die Hilfsarmeen Frankreichs und Englands
auf dem Kampfplatz erschienen wären.

Damit ist der eigentliche Gesichtspunkt für die Beurtheilung der in Rede
stehende» Rüstungen bezeichnet; er trägt seine politische Rechtfertigung in sich
selber; anders steht es um die Frage: ob die Mittel der Türkei für de« ange¬
strebte» Zweck ausreichen, d. h. ob sie nicht z» schwach sei» werden, um Rußland
während des bezeichneten Zeitraumes eine wirksame Schranke entgegenzustellen.

Solche Befürchtung scheint man nun aber weder in Paris noch in London,
an welchen beiden Orten man die osmanischen Kräfte wohl zu beurtheile» ver¬
steht und anch einer richtigen Einsicht in die russische» nicht entbehrt, keineswegs
zu hegen, und allem Anschein nach mit Recht. Es ist vom Feldzug 1828 her
bekannt, daß damals 25,000 Maun osmanische, zum Theil irreguläre Truppen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/382>, abgerufen am 28.05.2024.