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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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geschnürt, wirklich nicht oomnis ü taut sein könne, und hätte mich mein Vorsatz
nach der Schweiz nicht in meinen eigenen Augen gerettet, ich würde selbst geglaubt
haben, daß ich gar nicht im geringsten zur conos ü taret-Classe gehöre. Paris
im Sommer hat seit einigen Jahren ein wahres Reisefieber ergriffen, man kann
es nicht anders nennen, und seit die Eisenbahnen eine Unzahl von Häfen und
Seestädtchen so zu sagen vor die Thore unserer Stadt setzten, kann kein Doctor
so ungalant mehr sein, einer Dame die süße Buße eiuer Reise aus Meer zu
versagen. Die Männer bezahlen Arzt und Badereise, und ein freundliches be¬
glückendes Lächeln der Dame beweist dem weltkuudigen Doctor, daß er auf das
medicinische Zutrauen des Hauses sortrechuen könne. Die Schauspielerinnen,
die Herzoginnen, Banquiersfrauen und Börseageutenfrauen beginnen den Zug, und
ihnen nach folgt alles, was nicht durch einen Laden oder eine sonstige Industrie
und Motivesklaverei an den Pariser Boden gekettet ist. Die Pariser packen ihr
Paris ein und führen es mit sich fort, so daß es um diese Zeit überall eher zu
finden ist als in Paris: in Spaa, in Baden-Baden, in Dieppe, Trouville, im
Havre, in den Pyrenäen und wer weiß noch wo. Wenn dann die Fremden hierher¬
kommen und in Mabille mit den tanzenden Excentricitäten des dreizehnten Arron-
dissements Bekanntschaft gemacht haben, oder in den Theatern die schlechtesten
Doubluren zu sehen bekommen, oder die Boulevards von Fremden erfüllt, dann
kehren sie glückselig mit der Idee heim, Paris gesehen zu haben, während sie
doch nur die Monumente von Paris zu Gesichte bekommen. Selbst die Sehens¬
würdigkeiten, wie der Louvre, die Bibliothek u. s. w., finden in dieser Saison
immer einen Vorwand, einen Theil ihrer Schönheiten verschlossen zu halten, und
die große Oper hält ihre Thüren systematisch sest zu. Wer Paris sehen will,
der muß im Winter kommen. Bei Gelegenheit des letzten Festes, das, im Vorbei¬
gehen gesagt, was Beleuchtung betrifft, zu den schönsten und prachtvollsten gehört,
welche diese Meisterin aller öffentlichen Schaustellungen je geboten, konnte man
sich so recht überzeugen, wie leer unsere Stadt in diesem Augenblicke ist. Dieses
leer ist eben ein Pariser Begriff, denn dem allgemeinen Sprachgebrauche nach kann
eine Stadt, deren Hotelbesitzer die Höfe zu Schlafzeiten umgestalten, nicht leer genannt
werden. Aber Pariser waren keine zu sehen, man sah Fremde und Provinzialisten, die
Bewohner der Banlieues, und die Stadt selbst war blos durch die arbeitende Bevölke¬
rung bei dieser Feierlichkeit vertreten. Vielleicht kam es anch daher, daß sich blos Neu¬
gierde unter den massenhaft in den Champs elysves hin- und herwogenden Zuschauern
äußerte und nicht eine Spur von Enthusiasmus, und mag das keiner politischen
Ursache Zugeschrieben werden. Diesen Umstand wird anch das kaiserliche Paar
getröstet haben für die lautlose Stille, mit welcher es empfangen wurde, als es
sich in den Straßen zeigte. Die Engländer können nicht französisch rufen und
die Deutschen haben ihre sechsunddreißig Fürsten nicht genug hoch leben lassen,


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geschnürt, wirklich nicht oomnis ü taut sein könne, und hätte mich mein Vorsatz
nach der Schweiz nicht in meinen eigenen Augen gerettet, ich würde selbst geglaubt
haben, daß ich gar nicht im geringsten zur conos ü taret-Classe gehöre. Paris
im Sommer hat seit einigen Jahren ein wahres Reisefieber ergriffen, man kann
es nicht anders nennen, und seit die Eisenbahnen eine Unzahl von Häfen und
Seestädtchen so zu sagen vor die Thore unserer Stadt setzten, kann kein Doctor
so ungalant mehr sein, einer Dame die süße Buße eiuer Reise aus Meer zu
versagen. Die Männer bezahlen Arzt und Badereise, und ein freundliches be¬
glückendes Lächeln der Dame beweist dem weltkuudigen Doctor, daß er auf das
medicinische Zutrauen des Hauses sortrechuen könne. Die Schauspielerinnen,
die Herzoginnen, Banquiersfrauen und Börseageutenfrauen beginnen den Zug, und
ihnen nach folgt alles, was nicht durch einen Laden oder eine sonstige Industrie
und Motivesklaverei an den Pariser Boden gekettet ist. Die Pariser packen ihr
Paris ein und führen es mit sich fort, so daß es um diese Zeit überall eher zu
finden ist als in Paris: in Spaa, in Baden-Baden, in Dieppe, Trouville, im
Havre, in den Pyrenäen und wer weiß noch wo. Wenn dann die Fremden hierher¬
kommen und in Mabille mit den tanzenden Excentricitäten des dreizehnten Arron-
dissements Bekanntschaft gemacht haben, oder in den Theatern die schlechtesten
Doubluren zu sehen bekommen, oder die Boulevards von Fremden erfüllt, dann
kehren sie glückselig mit der Idee heim, Paris gesehen zu haben, während sie
doch nur die Monumente von Paris zu Gesichte bekommen. Selbst die Sehens¬
würdigkeiten, wie der Louvre, die Bibliothek u. s. w., finden in dieser Saison
immer einen Vorwand, einen Theil ihrer Schönheiten verschlossen zu halten, und
die große Oper hält ihre Thüren systematisch sest zu. Wer Paris sehen will,
der muß im Winter kommen. Bei Gelegenheit des letzten Festes, das, im Vorbei¬
gehen gesagt, was Beleuchtung betrifft, zu den schönsten und prachtvollsten gehört,
welche diese Meisterin aller öffentlichen Schaustellungen je geboten, konnte man
sich so recht überzeugen, wie leer unsere Stadt in diesem Augenblicke ist. Dieses
leer ist eben ein Pariser Begriff, denn dem allgemeinen Sprachgebrauche nach kann
eine Stadt, deren Hotelbesitzer die Höfe zu Schlafzeiten umgestalten, nicht leer genannt
werden. Aber Pariser waren keine zu sehen, man sah Fremde und Provinzialisten, die
Bewohner der Banlieues, und die Stadt selbst war blos durch die arbeitende Bevölke¬
rung bei dieser Feierlichkeit vertreten. Vielleicht kam es anch daher, daß sich blos Neu¬
gierde unter den massenhaft in den Champs elysves hin- und herwogenden Zuschauern
äußerte und nicht eine Spur von Enthusiasmus, und mag das keiner politischen
Ursache Zugeschrieben werden. Diesen Umstand wird anch das kaiserliche Paar
getröstet haben für die lautlose Stille, mit welcher es empfangen wurde, als es
sich in den Straßen zeigte. Die Engländer können nicht französisch rufen und
die Deutschen haben ihre sechsunddreißig Fürsten nicht genug hoch leben lassen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/385>, abgerufen am 19.05.2024.