Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wickelungen, theils darin seinen Grund hat, daß die Prediger der niederländi¬
schen reformirten Kirchen in einer aufgeklärten, jedenfalls mehr hnman-
moralischen als dogmatischen Auffassung und Darstellung des Christenthums rascher
vorwärts gingen, als die Massen ihnen folgen konnten. 'Dieses hat sowol unter
den Vertretern der theologischen Wissenschaft, als in den Massen eine kirchlich¬
dogmatische Reaction hervorgerufen, die, auf der Universität Utrecht wissenschaft¬
lich entwickelt, im Volke in den zahlreichen Separatistengemeinden ihren Ausdruck
hat, während die fortschreitende Richtung durch die f. g. Groninger Schule, an
deren Spitze der Professor Hossstede de Groot steht, und die in Deutschland
zur nächsten Verwandtin die Tübinger Schule hat, minder, aber doch auch durch die
Leydener Universität vertreten ist und vorzüglich im Mittelstande ihre Anhänger hat,
und das hauptsächlich wegen der jahrelangen und weitgreifenden Bemühungen
der berühmten Maatschappy tot nut van het Algemeen, die mit ihren 600 Ab¬
theilungen und 2S,000 Mitgliedern das ganze Land übersponnen hat, und deren
Ziel die christlich-humane Bildung ist, wofür sie jetzt auf das bitterste von der
orthodoxen Partei angefeindet wird. Das Ziel des Herrn Grvcn und seiner
Anhänger ist der christliche Staat, über dessen Einrichtung die Partei aber eben¬
sowenig specielles und positives vorzubringen weiß, als ihre Glaubensverwandten
in Dentschlau.d; sie opponire dem Zeitgeiste, dem Materialismus, der Bureau¬
kratie, dem Liberalismus, der constitutionellen Regierungsform ?c.; aber an ihre
Stelle setzt sie nur Phrasen, Klagen und Anklagen, außer in zwei Fragen, der
über die Regulirung des Armenwesens und der Uuterrichtsfrage, indem sie bei
der ersten eine kirchliche, eine christlich-confessionelle Armenpflege, bei der zweiten
die confesstonslvse Schule in eine confessionell-christliche verwandeln will, nud in
der dadurch sicher entstehenden, stärkeren, confesstouellen Reibung ein Glück der
Menschheit sieht, selbst wenn es zunächst zum nationalen Verderben führen müsse.
Darin aber unterscheidet sie sich wesentlich von ihren Verwandten in anderen Län¬
dern, daß sie, mit Ausnahme der Angstabsvlutisten, dem Volke einen gebührenden
Antheil an der Regierung gewahrt wissen will. Die Hauptorgane dieser Partei
sind die Goudsche Krouyk und de Nederlauder.

Die aristokratisch-altliberale Partei ist in den wohlhabenderen und gebildeteren
Kreisen des Landes bei weitem am stärksten vertreten, nud besteht aus der alten
Staatenpartei, den Patricier" der Städte, den großen Grundbesitzern nud reichen
Kaufleuten, deu in den Provincial- und Generalstaaten bisher hauptsächlich ver¬
tretenen, mit Aemter" und Ehre" vorzüglich Begnadigten, alle aristokratisch ge¬
sinnt, aber nichts weniger als Junker, souderu ein bürgerlicher Adel in Denk- und
Handlungsweise; denn -- und das ist ein Hauptmerkmal des niederländischen
Staatslebens -- der holländische Adel ist völlig in den höheren Bürgerstand ver¬
schmolzen, dnrch Heirathen, Beschäftigung und Denkweise, und steht überall nur
in der vordersten Reihe desselben, ist deshalb betheiligt bei allen großen industriellen,


Wickelungen, theils darin seinen Grund hat, daß die Prediger der niederländi¬
schen reformirten Kirchen in einer aufgeklärten, jedenfalls mehr hnman-
moralischen als dogmatischen Auffassung und Darstellung des Christenthums rascher
vorwärts gingen, als die Massen ihnen folgen konnten. 'Dieses hat sowol unter
den Vertretern der theologischen Wissenschaft, als in den Massen eine kirchlich¬
dogmatische Reaction hervorgerufen, die, auf der Universität Utrecht wissenschaft¬
lich entwickelt, im Volke in den zahlreichen Separatistengemeinden ihren Ausdruck
hat, während die fortschreitende Richtung durch die f. g. Groninger Schule, an
deren Spitze der Professor Hossstede de Groot steht, und die in Deutschland
zur nächsten Verwandtin die Tübinger Schule hat, minder, aber doch auch durch die
Leydener Universität vertreten ist und vorzüglich im Mittelstande ihre Anhänger hat,
und das hauptsächlich wegen der jahrelangen und weitgreifenden Bemühungen
der berühmten Maatschappy tot nut van het Algemeen, die mit ihren 600 Ab¬
theilungen und 2S,000 Mitgliedern das ganze Land übersponnen hat, und deren
Ziel die christlich-humane Bildung ist, wofür sie jetzt auf das bitterste von der
orthodoxen Partei angefeindet wird. Das Ziel des Herrn Grvcn und seiner
Anhänger ist der christliche Staat, über dessen Einrichtung die Partei aber eben¬
sowenig specielles und positives vorzubringen weiß, als ihre Glaubensverwandten
in Dentschlau.d; sie opponire dem Zeitgeiste, dem Materialismus, der Bureau¬
kratie, dem Liberalismus, der constitutionellen Regierungsform ?c.; aber an ihre
Stelle setzt sie nur Phrasen, Klagen und Anklagen, außer in zwei Fragen, der
über die Regulirung des Armenwesens und der Uuterrichtsfrage, indem sie bei
der ersten eine kirchliche, eine christlich-confessionelle Armenpflege, bei der zweiten
die confesstonslvse Schule in eine confessionell-christliche verwandeln will, nud in
der dadurch sicher entstehenden, stärkeren, confesstouellen Reibung ein Glück der
Menschheit sieht, selbst wenn es zunächst zum nationalen Verderben führen müsse.
Darin aber unterscheidet sie sich wesentlich von ihren Verwandten in anderen Län¬
dern, daß sie, mit Ausnahme der Angstabsvlutisten, dem Volke einen gebührenden
Antheil an der Regierung gewahrt wissen will. Die Hauptorgane dieser Partei
sind die Goudsche Krouyk und de Nederlauder.

Die aristokratisch-altliberale Partei ist in den wohlhabenderen und gebildeteren
Kreisen des Landes bei weitem am stärksten vertreten, nud besteht aus der alten
Staatenpartei, den Patricier» der Städte, den großen Grundbesitzern nud reichen
Kaufleuten, deu in den Provincial- und Generalstaaten bisher hauptsächlich ver¬
tretenen, mit Aemter» und Ehre» vorzüglich Begnadigten, alle aristokratisch ge¬
sinnt, aber nichts weniger als Junker, souderu ein bürgerlicher Adel in Denk- und
Handlungsweise; denn — und das ist ein Hauptmerkmal des niederländischen
Staatslebens — der holländische Adel ist völlig in den höheren Bürgerstand ver¬
schmolzen, dnrch Heirathen, Beschäftigung und Denkweise, und steht überall nur
in der vordersten Reihe desselben, ist deshalb betheiligt bei allen großen industriellen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0050" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96225"/>
            <p xml:id="ID_130" prev="#ID_129"> Wickelungen, theils darin seinen Grund hat, daß die Prediger der niederländi¬<lb/>
schen reformirten Kirchen in einer aufgeklärten, jedenfalls mehr hnman-<lb/>
moralischen als dogmatischen Auffassung und Darstellung des Christenthums rascher<lb/>
vorwärts gingen, als die Massen ihnen folgen konnten. 'Dieses hat sowol unter<lb/>
den Vertretern der theologischen Wissenschaft, als in den Massen eine kirchlich¬<lb/>
dogmatische Reaction hervorgerufen, die, auf der Universität Utrecht wissenschaft¬<lb/>
lich entwickelt, im Volke in den zahlreichen Separatistengemeinden ihren Ausdruck<lb/>
hat, während die fortschreitende Richtung durch die f. g. Groninger Schule, an<lb/>
deren Spitze der Professor Hossstede de Groot steht, und die in Deutschland<lb/>
zur nächsten Verwandtin die Tübinger Schule hat, minder, aber doch auch durch die<lb/>
Leydener Universität vertreten ist und vorzüglich im Mittelstande ihre Anhänger hat,<lb/>
und das hauptsächlich wegen der jahrelangen und weitgreifenden Bemühungen<lb/>
der berühmten Maatschappy tot nut van het Algemeen, die mit ihren 600 Ab¬<lb/>
theilungen und 2S,000 Mitgliedern das ganze Land übersponnen hat, und deren<lb/>
Ziel die christlich-humane Bildung ist, wofür sie jetzt auf das bitterste von der<lb/>
orthodoxen Partei angefeindet wird. Das Ziel des Herrn Grvcn und seiner<lb/>
Anhänger ist der christliche Staat, über dessen Einrichtung die Partei aber eben¬<lb/>
sowenig specielles und positives vorzubringen weiß, als ihre Glaubensverwandten<lb/>
in Dentschlau.d; sie opponire dem Zeitgeiste, dem Materialismus, der Bureau¬<lb/>
kratie, dem Liberalismus, der constitutionellen Regierungsform ?c.; aber an ihre<lb/>
Stelle setzt sie nur Phrasen, Klagen und Anklagen, außer in zwei Fragen, der<lb/>
über die Regulirung des Armenwesens und der Uuterrichtsfrage, indem sie bei<lb/>
der ersten eine kirchliche, eine christlich-confessionelle Armenpflege, bei der zweiten<lb/>
die confesstonslvse Schule in eine confessionell-christliche verwandeln will, nud in<lb/>
der dadurch sicher entstehenden, stärkeren, confesstouellen Reibung ein Glück der<lb/>
Menschheit sieht, selbst wenn es zunächst zum nationalen Verderben führen müsse.<lb/>
Darin aber unterscheidet sie sich wesentlich von ihren Verwandten in anderen Län¬<lb/>
dern, daß sie, mit Ausnahme der Angstabsvlutisten, dem Volke einen gebührenden<lb/>
Antheil an der Regierung gewahrt wissen will. Die Hauptorgane dieser Partei<lb/>
sind die Goudsche Krouyk und de Nederlauder.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_131" next="#ID_132"> Die aristokratisch-altliberale Partei ist in den wohlhabenderen und gebildeteren<lb/>
Kreisen des Landes bei weitem am stärksten vertreten, nud besteht aus der alten<lb/>
Staatenpartei, den Patricier» der Städte, den großen Grundbesitzern nud reichen<lb/>
Kaufleuten, deu in den Provincial- und Generalstaaten bisher hauptsächlich ver¬<lb/>
tretenen, mit Aemter» und Ehre» vorzüglich Begnadigten, alle aristokratisch ge¬<lb/>
sinnt, aber nichts weniger als Junker, souderu ein bürgerlicher Adel in Denk- und<lb/>
Handlungsweise; denn &#x2014; und das ist ein Hauptmerkmal des niederländischen<lb/>
Staatslebens &#x2014; der holländische Adel ist völlig in den höheren Bürgerstand ver¬<lb/>
schmolzen, dnrch Heirathen, Beschäftigung und Denkweise, und steht überall nur<lb/>
in der vordersten Reihe desselben, ist deshalb betheiligt bei allen großen industriellen,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0050] Wickelungen, theils darin seinen Grund hat, daß die Prediger der niederländi¬ schen reformirten Kirchen in einer aufgeklärten, jedenfalls mehr hnman- moralischen als dogmatischen Auffassung und Darstellung des Christenthums rascher vorwärts gingen, als die Massen ihnen folgen konnten. 'Dieses hat sowol unter den Vertretern der theologischen Wissenschaft, als in den Massen eine kirchlich¬ dogmatische Reaction hervorgerufen, die, auf der Universität Utrecht wissenschaft¬ lich entwickelt, im Volke in den zahlreichen Separatistengemeinden ihren Ausdruck hat, während die fortschreitende Richtung durch die f. g. Groninger Schule, an deren Spitze der Professor Hossstede de Groot steht, und die in Deutschland zur nächsten Verwandtin die Tübinger Schule hat, minder, aber doch auch durch die Leydener Universität vertreten ist und vorzüglich im Mittelstande ihre Anhänger hat, und das hauptsächlich wegen der jahrelangen und weitgreifenden Bemühungen der berühmten Maatschappy tot nut van het Algemeen, die mit ihren 600 Ab¬ theilungen und 2S,000 Mitgliedern das ganze Land übersponnen hat, und deren Ziel die christlich-humane Bildung ist, wofür sie jetzt auf das bitterste von der orthodoxen Partei angefeindet wird. Das Ziel des Herrn Grvcn und seiner Anhänger ist der christliche Staat, über dessen Einrichtung die Partei aber eben¬ sowenig specielles und positives vorzubringen weiß, als ihre Glaubensverwandten in Dentschlau.d; sie opponire dem Zeitgeiste, dem Materialismus, der Bureau¬ kratie, dem Liberalismus, der constitutionellen Regierungsform ?c.; aber an ihre Stelle setzt sie nur Phrasen, Klagen und Anklagen, außer in zwei Fragen, der über die Regulirung des Armenwesens und der Uuterrichtsfrage, indem sie bei der ersten eine kirchliche, eine christlich-confessionelle Armenpflege, bei der zweiten die confesstonslvse Schule in eine confessionell-christliche verwandeln will, nud in der dadurch sicher entstehenden, stärkeren, confesstouellen Reibung ein Glück der Menschheit sieht, selbst wenn es zunächst zum nationalen Verderben führen müsse. Darin aber unterscheidet sie sich wesentlich von ihren Verwandten in anderen Län¬ dern, daß sie, mit Ausnahme der Angstabsvlutisten, dem Volke einen gebührenden Antheil an der Regierung gewahrt wissen will. Die Hauptorgane dieser Partei sind die Goudsche Krouyk und de Nederlauder. Die aristokratisch-altliberale Partei ist in den wohlhabenderen und gebildeteren Kreisen des Landes bei weitem am stärksten vertreten, nud besteht aus der alten Staatenpartei, den Patricier» der Städte, den großen Grundbesitzern nud reichen Kaufleuten, deu in den Provincial- und Generalstaaten bisher hauptsächlich ver¬ tretenen, mit Aemter» und Ehre» vorzüglich Begnadigten, alle aristokratisch ge¬ sinnt, aber nichts weniger als Junker, souderu ein bürgerlicher Adel in Denk- und Handlungsweise; denn — und das ist ein Hauptmerkmal des niederländischen Staatslebens — der holländische Adel ist völlig in den höheren Bürgerstand ver¬ schmolzen, dnrch Heirathen, Beschäftigung und Denkweise, und steht überall nur in der vordersten Reihe desselben, ist deshalb betheiligt bei allen großen industriellen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/50
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/50>, abgerufen am 19.05.2024.