Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

commerciellen Ackerbau-Unternehmungen, social nirgend von dem Bürgerstande
abgeschlossen, und selbst von der Krone dnrch keine Anstellung in einer besondern
Branche der öffentlichen Aemter ausgezeichnet. Durch diese enge Jneinander-
schlingung der Geburth- und Besiizaristokratie ist die altliberale Partei sehr mäch¬
tig, jedoch auch politisch verständig und erfahren genug, um die nothwendigen
Reformen zu gewähren, und auszugeben, was nicht zu erreichen oder nicht wieder
zu gewinnen ist. Deshalb ist sie aber anch am empfindlichsten, wenn sie in ihren
Bevorzugungen materieller und aristokratischer Art angegriffen wird; zu deu
ersteren gehören die einträglicheren Colonialämter und die Antheile an den vom
Staate begünstigten Handelsunternehmungen, z. B. dem Institute der Handelö-
maatschappy; zu der zweiten die Staatsämter, welche aber nicht der geringen Ein¬
künfte wegen, souderu nur insofern Ansehen damit verbunden ist, gesucht werden.

Der Familieuaristvkratismus, das Cliquenwesen, wie die Gegner sagen, ist
ein altes Uebel der Niederlande, wie aller bürgerlichen Staatsaristokratie, und
deshalb das stärkste Agitativnsmittel für die dritte, die demokratische Partei, die
jüngste, aber durch ihre großen Hilfsmittel, welche ihr der Zeitgeist und die Ver¬
bindung mit der katholische" Partei liefern, nicht weniger als durch ihre Mäßigung
und die Talente ihres Führers, des früheren Ministers Thorbecke, wahrscheinlich
die Partei der Zukunft, wenn sie auch augenblicklich vom Nuder gedrängt ist.

Der Führer derselben ist auch ihr Schöpfer und Erzieher, ihr theoretisches
und praktisches Haupt, und wir dürfe" deshalb ohne einige Mittheilungen über
diesen merkwürdigen Mann nicht weiter gehen.

Geboren zu Zwolle von unbemittelten, aber großen Werth aus eine sorgfältige
Erziehung legenden Eltern, genoß er deu ersten Unterricht auf dem Gymnasium sei¬
ner Vaterstadt, besuchte dann das Athenäum zu Amsterdam und die Universität
Leyden, wo er sich so auszeichnete, daß die Regierung ihm ein Stipendium zu einer
wissenschaftlichen Reise gab, die er 1820 nach Deutschland unternahm, und während der
er sich mit der deutscheu Philosophie auf das innigste vertraut machte. 1822 nach
den Niederlanden zurückgekehrt, geriet!) er infolge dieser philosophische" Bildung in
einen solchem Verdacht religiöser Jucorrectheit, daß selbst sein mächtiger Gönner,
der Minister Falk, ihm keine Professur zu geben wagte. Er begab sich deshalb
auf 2 Jahre nach Deutschland zurück, hielt historische Vorlesungen zu Gießen,
lebte längere Zeit zu Göttingen, wo er einen Brief an Eichhorn "über den or¬
ganischen Charakter der Geschichte" herausgab, und sich bei den "Göttinger ge¬
lehrten Anzeigen" betheiligte. 1825 Professor zu Genf 1831 zu Leyden, schrieb
er während dieser Zeit eine Menge politischer und natnrrechtlicher Brochüren,
besonders aber 1831 : "über die Veränderung des allgemeinen Staatensystems
von Europa" und über die Anerkennung der Unabhängigkeit Belgiens. Bor
allem aber erwarb er sich Ruhm und Einfluß durch seine staatsrechtlichen Vor¬
lesungen über die constitutionelle Geschichte, die Geschichte der niederländischen


commerciellen Ackerbau-Unternehmungen, social nirgend von dem Bürgerstande
abgeschlossen, und selbst von der Krone dnrch keine Anstellung in einer besondern
Branche der öffentlichen Aemter ausgezeichnet. Durch diese enge Jneinander-
schlingung der Geburth- und Besiizaristokratie ist die altliberale Partei sehr mäch¬
tig, jedoch auch politisch verständig und erfahren genug, um die nothwendigen
Reformen zu gewähren, und auszugeben, was nicht zu erreichen oder nicht wieder
zu gewinnen ist. Deshalb ist sie aber anch am empfindlichsten, wenn sie in ihren
Bevorzugungen materieller und aristokratischer Art angegriffen wird; zu deu
ersteren gehören die einträglicheren Colonialämter und die Antheile an den vom
Staate begünstigten Handelsunternehmungen, z. B. dem Institute der Handelö-
maatschappy; zu der zweiten die Staatsämter, welche aber nicht der geringen Ein¬
künfte wegen, souderu nur insofern Ansehen damit verbunden ist, gesucht werden.

Der Familieuaristvkratismus, das Cliquenwesen, wie die Gegner sagen, ist
ein altes Uebel der Niederlande, wie aller bürgerlichen Staatsaristokratie, und
deshalb das stärkste Agitativnsmittel für die dritte, die demokratische Partei, die
jüngste, aber durch ihre großen Hilfsmittel, welche ihr der Zeitgeist und die Ver¬
bindung mit der katholische» Partei liefern, nicht weniger als durch ihre Mäßigung
und die Talente ihres Führers, des früheren Ministers Thorbecke, wahrscheinlich
die Partei der Zukunft, wenn sie auch augenblicklich vom Nuder gedrängt ist.

Der Führer derselben ist auch ihr Schöpfer und Erzieher, ihr theoretisches
und praktisches Haupt, und wir dürfe» deshalb ohne einige Mittheilungen über
diesen merkwürdigen Mann nicht weiter gehen.

Geboren zu Zwolle von unbemittelten, aber großen Werth aus eine sorgfältige
Erziehung legenden Eltern, genoß er deu ersten Unterricht auf dem Gymnasium sei¬
ner Vaterstadt, besuchte dann das Athenäum zu Amsterdam und die Universität
Leyden, wo er sich so auszeichnete, daß die Regierung ihm ein Stipendium zu einer
wissenschaftlichen Reise gab, die er 1820 nach Deutschland unternahm, und während der
er sich mit der deutscheu Philosophie auf das innigste vertraut machte. 1822 nach
den Niederlanden zurückgekehrt, geriet!) er infolge dieser philosophische» Bildung in
einen solchem Verdacht religiöser Jucorrectheit, daß selbst sein mächtiger Gönner,
der Minister Falk, ihm keine Professur zu geben wagte. Er begab sich deshalb
auf 2 Jahre nach Deutschland zurück, hielt historische Vorlesungen zu Gießen,
lebte längere Zeit zu Göttingen, wo er einen Brief an Eichhorn „über den or¬
ganischen Charakter der Geschichte" herausgab, und sich bei den „Göttinger ge¬
lehrten Anzeigen" betheiligte. 1825 Professor zu Genf 1831 zu Leyden, schrieb
er während dieser Zeit eine Menge politischer und natnrrechtlicher Brochüren,
besonders aber 1831 : „über die Veränderung des allgemeinen Staatensystems
von Europa" und über die Anerkennung der Unabhängigkeit Belgiens. Bor
allem aber erwarb er sich Ruhm und Einfluß durch seine staatsrechtlichen Vor¬
lesungen über die constitutionelle Geschichte, die Geschichte der niederländischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0051" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96226"/>
            <p xml:id="ID_132" prev="#ID_131"> commerciellen Ackerbau-Unternehmungen, social nirgend von dem Bürgerstande<lb/>
abgeschlossen, und selbst von der Krone dnrch keine Anstellung in einer besondern<lb/>
Branche der öffentlichen Aemter ausgezeichnet. Durch diese enge Jneinander-<lb/>
schlingung der Geburth- und Besiizaristokratie ist die altliberale Partei sehr mäch¬<lb/>
tig, jedoch auch politisch verständig und erfahren genug, um die nothwendigen<lb/>
Reformen zu gewähren, und auszugeben, was nicht zu erreichen oder nicht wieder<lb/>
zu gewinnen ist. Deshalb ist sie aber anch am empfindlichsten, wenn sie in ihren<lb/>
Bevorzugungen materieller und aristokratischer Art angegriffen wird; zu deu<lb/>
ersteren gehören die einträglicheren Colonialämter und die Antheile an den vom<lb/>
Staate begünstigten Handelsunternehmungen, z. B. dem Institute der Handelö-<lb/>
maatschappy; zu der zweiten die Staatsämter, welche aber nicht der geringen Ein¬<lb/>
künfte wegen, souderu nur insofern Ansehen damit verbunden ist, gesucht werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_133"> Der Familieuaristvkratismus, das Cliquenwesen, wie die Gegner sagen, ist<lb/>
ein altes Uebel der Niederlande, wie aller bürgerlichen Staatsaristokratie, und<lb/>
deshalb das stärkste Agitativnsmittel für die dritte, die demokratische Partei, die<lb/>
jüngste, aber durch ihre großen Hilfsmittel, welche ihr der Zeitgeist und die Ver¬<lb/>
bindung mit der katholische» Partei liefern, nicht weniger als durch ihre Mäßigung<lb/>
und die Talente ihres Führers, des früheren Ministers Thorbecke, wahrscheinlich<lb/>
die Partei der Zukunft, wenn sie auch augenblicklich vom Nuder gedrängt ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_134"> Der Führer derselben ist auch ihr Schöpfer und Erzieher, ihr theoretisches<lb/>
und praktisches Haupt, und wir dürfe» deshalb ohne einige Mittheilungen über<lb/>
diesen merkwürdigen Mann nicht weiter gehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_135" next="#ID_136"> Geboren zu Zwolle von unbemittelten, aber großen Werth aus eine sorgfältige<lb/>
Erziehung legenden Eltern, genoß er deu ersten Unterricht auf dem Gymnasium sei¬<lb/>
ner Vaterstadt, besuchte dann das Athenäum zu Amsterdam und die Universität<lb/>
Leyden, wo er sich so auszeichnete, daß die Regierung ihm ein Stipendium zu einer<lb/>
wissenschaftlichen Reise gab, die er 1820 nach Deutschland unternahm, und während der<lb/>
er sich mit der deutscheu Philosophie auf das innigste vertraut machte. 1822 nach<lb/>
den Niederlanden zurückgekehrt, geriet!) er infolge dieser philosophische» Bildung in<lb/>
einen solchem Verdacht religiöser Jucorrectheit, daß selbst sein mächtiger Gönner,<lb/>
der Minister Falk, ihm keine Professur zu geben wagte. Er begab sich deshalb<lb/>
auf 2 Jahre nach Deutschland zurück, hielt historische Vorlesungen zu Gießen,<lb/>
lebte längere Zeit zu Göttingen, wo er einen Brief an Eichhorn &#x201E;über den or¬<lb/>
ganischen Charakter der Geschichte" herausgab, und sich bei den &#x201E;Göttinger ge¬<lb/>
lehrten Anzeigen" betheiligte. 1825 Professor zu Genf 1831 zu Leyden, schrieb<lb/>
er während dieser Zeit eine Menge politischer und natnrrechtlicher Brochüren,<lb/>
besonders aber 1831 : &#x201E;über die Veränderung des allgemeinen Staatensystems<lb/>
von Europa" und über die Anerkennung der Unabhängigkeit Belgiens. Bor<lb/>
allem aber erwarb er sich Ruhm und Einfluß durch seine staatsrechtlichen Vor¬<lb/>
lesungen über die constitutionelle Geschichte, die Geschichte der niederländischen</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0051] commerciellen Ackerbau-Unternehmungen, social nirgend von dem Bürgerstande abgeschlossen, und selbst von der Krone dnrch keine Anstellung in einer besondern Branche der öffentlichen Aemter ausgezeichnet. Durch diese enge Jneinander- schlingung der Geburth- und Besiizaristokratie ist die altliberale Partei sehr mäch¬ tig, jedoch auch politisch verständig und erfahren genug, um die nothwendigen Reformen zu gewähren, und auszugeben, was nicht zu erreichen oder nicht wieder zu gewinnen ist. Deshalb ist sie aber anch am empfindlichsten, wenn sie in ihren Bevorzugungen materieller und aristokratischer Art angegriffen wird; zu deu ersteren gehören die einträglicheren Colonialämter und die Antheile an den vom Staate begünstigten Handelsunternehmungen, z. B. dem Institute der Handelö- maatschappy; zu der zweiten die Staatsämter, welche aber nicht der geringen Ein¬ künfte wegen, souderu nur insofern Ansehen damit verbunden ist, gesucht werden. Der Familieuaristvkratismus, das Cliquenwesen, wie die Gegner sagen, ist ein altes Uebel der Niederlande, wie aller bürgerlichen Staatsaristokratie, und deshalb das stärkste Agitativnsmittel für die dritte, die demokratische Partei, die jüngste, aber durch ihre großen Hilfsmittel, welche ihr der Zeitgeist und die Ver¬ bindung mit der katholische» Partei liefern, nicht weniger als durch ihre Mäßigung und die Talente ihres Führers, des früheren Ministers Thorbecke, wahrscheinlich die Partei der Zukunft, wenn sie auch augenblicklich vom Nuder gedrängt ist. Der Führer derselben ist auch ihr Schöpfer und Erzieher, ihr theoretisches und praktisches Haupt, und wir dürfe» deshalb ohne einige Mittheilungen über diesen merkwürdigen Mann nicht weiter gehen. Geboren zu Zwolle von unbemittelten, aber großen Werth aus eine sorgfältige Erziehung legenden Eltern, genoß er deu ersten Unterricht auf dem Gymnasium sei¬ ner Vaterstadt, besuchte dann das Athenäum zu Amsterdam und die Universität Leyden, wo er sich so auszeichnete, daß die Regierung ihm ein Stipendium zu einer wissenschaftlichen Reise gab, die er 1820 nach Deutschland unternahm, und während der er sich mit der deutscheu Philosophie auf das innigste vertraut machte. 1822 nach den Niederlanden zurückgekehrt, geriet!) er infolge dieser philosophische» Bildung in einen solchem Verdacht religiöser Jucorrectheit, daß selbst sein mächtiger Gönner, der Minister Falk, ihm keine Professur zu geben wagte. Er begab sich deshalb auf 2 Jahre nach Deutschland zurück, hielt historische Vorlesungen zu Gießen, lebte längere Zeit zu Göttingen, wo er einen Brief an Eichhorn „über den or¬ ganischen Charakter der Geschichte" herausgab, und sich bei den „Göttinger ge¬ lehrten Anzeigen" betheiligte. 1825 Professor zu Genf 1831 zu Leyden, schrieb er während dieser Zeit eine Menge politischer und natnrrechtlicher Brochüren, besonders aber 1831 : „über die Veränderung des allgemeinen Staatensystems von Europa" und über die Anerkennung der Unabhängigkeit Belgiens. Bor allem aber erwarb er sich Ruhm und Einfluß durch seine staatsrechtlichen Vor¬ lesungen über die constitutionelle Geschichte, die Geschichte der niederländischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/51
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/51>, abgerufen am 10.06.2024.