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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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stände, so übertrifft unzweifelhaft Scribe seinen Vorgänger bei weitem. Nun
gibt es freilich bei uns noch immer eine literarische Richtung, die auch für das
Lustspiel die sogenannte poetische, idealistisch romantische Haltung verlangt und die
daher schon um der äußern Form willen Calderon den Vorzug geben mochte, allein
wir, werden uns dieser Ansicht solange uicht anschließen können, als man uns
davon nicht überzeugt haben wird, daß das Lustspiel etwas Anderes darstellen
solle, als bestimmte sittliche Zustände. Nach unserer Ueberzeugung muß grade
das Lustspiel durchaus realistisch sein, durchaus auf dem Boden der Beobachtung
des nationalen Lebens heranwachsen und soviel wir uns in der Literatur des
Lustspiels aller Zeiten und Völker umsehen, ist das auch überall geschehen, wenn
auch einzelne Stücke von Shakespeare eine Ausnahme machen (eigentlich nur der
"Sommernachtstraum, der Sturm, und wie es Euch gefällt").

Was endlich diejenigen Dramen betrifft, welche uns die Dialektik der spa¬
nischen Rechtsbegriffe entfalten (z. B. der Arzt seiner Ehre, drei VergehungM in eine
u. s. w.), so gilt von ihnen dasselbe, was wir von den religösen Stücken sagten,
eine prosaische vollständige Uebersekuug wäre in kulturhistorischer Beziehung sehr
wünschenswert!). Für unsere Kunst sind sie nicht zu gebrauchen.

Von den Uebersetzungen wenden wir uns zu den literar-historischen Ab¬
handlungen. Vor allem müssen wir des alten ehrlichen Bouterwek gedenken,
der in seiner Geschichte der Poesie und Beredtsamkeit (3. Bd. 1804) eine Reihe
sehr verständiger Notizen über Calderon gibt. Freilich sind diese Notizen unvoll¬
ständig und es laufen manche Irrthümer mit unter; aber es ist doch immer noch
mehr darin zu finden, als in allem, was die romantische Schule in den folgenden
achtzehn Jahren geliefert hat. Zum Schluß bei Gelegenheit der "Andacht zum
Kreuz", welche er fälschlich für ein Fronleichnamsstück hält^ die er vom künstleri¬
schen Standpunkt sehr lobt (S. 323), macht er die sehr zur Sache gehörige Be¬
merkung: "Aber die Vernunft und das moralische Gefühl werden durch den
phantastischen Glauben in diesen Schauspielen so mißhandelt, daß man den Na¬
tionen Glück wünschen muß / denen ihr besseres Schicksal eine solche Geisteser-
götzung versagte." -- Nach Bouterwek hat sich zunächst Valentin Schmidt
um die gelehrte Kenntniß Calderons verdient gemacht. In seiner Schrift über
"die Kirchentrennung von England" (Berlin 1819) und in dem Auzeigeblatt der
Wiener Jahrbücher der Literatur (-1822 Bd. -17 und -18) hat er namentlich über-
die Quellen, aus denen Calderon geschöpft hat, eine Reihe von Erläuterungen,
gegeben, die noch in keiner Weise übertroffen sind. Rosenkranz hat den Wunsch
ausgesprochen, daß die zerstreuten Schriften dieses ausgezeichneten Gelehrten über
die romantische Literatur gesammelt werden möchten. Wir schließen uns diesem
Wunsche auf das lebhafteste an. Der einzige Uebelstand dabei ist nur, daß seine
Notizen'von spätern Schriftstellern schon vielfältig benutzt und ausgeschrieben sind.
Das ästhetische Urtheil, welches Valentin Schmidt zuweilen, wenn auch sehr be-


stände, so übertrifft unzweifelhaft Scribe seinen Vorgänger bei weitem. Nun
gibt es freilich bei uns noch immer eine literarische Richtung, die auch für das
Lustspiel die sogenannte poetische, idealistisch romantische Haltung verlangt und die
daher schon um der äußern Form willen Calderon den Vorzug geben mochte, allein
wir, werden uns dieser Ansicht solange uicht anschließen können, als man uns
davon nicht überzeugt haben wird, daß das Lustspiel etwas Anderes darstellen
solle, als bestimmte sittliche Zustände. Nach unserer Ueberzeugung muß grade
das Lustspiel durchaus realistisch sein, durchaus auf dem Boden der Beobachtung
des nationalen Lebens heranwachsen und soviel wir uns in der Literatur des
Lustspiels aller Zeiten und Völker umsehen, ist das auch überall geschehen, wenn
auch einzelne Stücke von Shakespeare eine Ausnahme machen (eigentlich nur der
„Sommernachtstraum, der Sturm, und wie es Euch gefällt").

Was endlich diejenigen Dramen betrifft, welche uns die Dialektik der spa¬
nischen Rechtsbegriffe entfalten (z. B. der Arzt seiner Ehre, drei VergehungM in eine
u. s. w.), so gilt von ihnen dasselbe, was wir von den religösen Stücken sagten,
eine prosaische vollständige Uebersekuug wäre in kulturhistorischer Beziehung sehr
wünschenswert!). Für unsere Kunst sind sie nicht zu gebrauchen.

Von den Uebersetzungen wenden wir uns zu den literar-historischen Ab¬
handlungen. Vor allem müssen wir des alten ehrlichen Bouterwek gedenken,
der in seiner Geschichte der Poesie und Beredtsamkeit (3. Bd. 1804) eine Reihe
sehr verständiger Notizen über Calderon gibt. Freilich sind diese Notizen unvoll¬
ständig und es laufen manche Irrthümer mit unter; aber es ist doch immer noch
mehr darin zu finden, als in allem, was die romantische Schule in den folgenden
achtzehn Jahren geliefert hat. Zum Schluß bei Gelegenheit der „Andacht zum
Kreuz", welche er fälschlich für ein Fronleichnamsstück hält^ die er vom künstleri¬
schen Standpunkt sehr lobt (S. 323), macht er die sehr zur Sache gehörige Be¬
merkung: „Aber die Vernunft und das moralische Gefühl werden durch den
phantastischen Glauben in diesen Schauspielen so mißhandelt, daß man den Na¬
tionen Glück wünschen muß / denen ihr besseres Schicksal eine solche Geisteser-
götzung versagte." — Nach Bouterwek hat sich zunächst Valentin Schmidt
um die gelehrte Kenntniß Calderons verdient gemacht. In seiner Schrift über
„die Kirchentrennung von England" (Berlin 1819) und in dem Auzeigeblatt der
Wiener Jahrbücher der Literatur (-1822 Bd. -17 und -18) hat er namentlich über-
die Quellen, aus denen Calderon geschöpft hat, eine Reihe von Erläuterungen,
gegeben, die noch in keiner Weise übertroffen sind. Rosenkranz hat den Wunsch
ausgesprochen, daß die zerstreuten Schriften dieses ausgezeichneten Gelehrten über
die romantische Literatur gesammelt werden möchten. Wir schließen uns diesem
Wunsche auf das lebhafteste an. Der einzige Uebelstand dabei ist nur, daß seine
Notizen'von spätern Schriftstellern schon vielfältig benutzt und ausgeschrieben sind.
Das ästhetische Urtheil, welches Valentin Schmidt zuweilen, wenn auch sehr be-


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[0058] stände, so übertrifft unzweifelhaft Scribe seinen Vorgänger bei weitem. Nun gibt es freilich bei uns noch immer eine literarische Richtung, die auch für das Lustspiel die sogenannte poetische, idealistisch romantische Haltung verlangt und die daher schon um der äußern Form willen Calderon den Vorzug geben mochte, allein wir, werden uns dieser Ansicht solange uicht anschließen können, als man uns davon nicht überzeugt haben wird, daß das Lustspiel etwas Anderes darstellen solle, als bestimmte sittliche Zustände. Nach unserer Ueberzeugung muß grade das Lustspiel durchaus realistisch sein, durchaus auf dem Boden der Beobachtung des nationalen Lebens heranwachsen und soviel wir uns in der Literatur des Lustspiels aller Zeiten und Völker umsehen, ist das auch überall geschehen, wenn auch einzelne Stücke von Shakespeare eine Ausnahme machen (eigentlich nur der „Sommernachtstraum, der Sturm, und wie es Euch gefällt"). Was endlich diejenigen Dramen betrifft, welche uns die Dialektik der spa¬ nischen Rechtsbegriffe entfalten (z. B. der Arzt seiner Ehre, drei VergehungM in eine u. s. w.), so gilt von ihnen dasselbe, was wir von den religösen Stücken sagten, eine prosaische vollständige Uebersekuug wäre in kulturhistorischer Beziehung sehr wünschenswert!). Für unsere Kunst sind sie nicht zu gebrauchen. Von den Uebersetzungen wenden wir uns zu den literar-historischen Ab¬ handlungen. Vor allem müssen wir des alten ehrlichen Bouterwek gedenken, der in seiner Geschichte der Poesie und Beredtsamkeit (3. Bd. 1804) eine Reihe sehr verständiger Notizen über Calderon gibt. Freilich sind diese Notizen unvoll¬ ständig und es laufen manche Irrthümer mit unter; aber es ist doch immer noch mehr darin zu finden, als in allem, was die romantische Schule in den folgenden achtzehn Jahren geliefert hat. Zum Schluß bei Gelegenheit der „Andacht zum Kreuz", welche er fälschlich für ein Fronleichnamsstück hält^ die er vom künstleri¬ schen Standpunkt sehr lobt (S. 323), macht er die sehr zur Sache gehörige Be¬ merkung: „Aber die Vernunft und das moralische Gefühl werden durch den phantastischen Glauben in diesen Schauspielen so mißhandelt, daß man den Na¬ tionen Glück wünschen muß / denen ihr besseres Schicksal eine solche Geisteser- götzung versagte." — Nach Bouterwek hat sich zunächst Valentin Schmidt um die gelehrte Kenntniß Calderons verdient gemacht. In seiner Schrift über „die Kirchentrennung von England" (Berlin 1819) und in dem Auzeigeblatt der Wiener Jahrbücher der Literatur (-1822 Bd. -17 und -18) hat er namentlich über- die Quellen, aus denen Calderon geschöpft hat, eine Reihe von Erläuterungen, gegeben, die noch in keiner Weise übertroffen sind. Rosenkranz hat den Wunsch ausgesprochen, daß die zerstreuten Schriften dieses ausgezeichneten Gelehrten über die romantische Literatur gesammelt werden möchten. Wir schließen uns diesem Wunsche auf das lebhafteste an. Der einzige Uebelstand dabei ist nur, daß seine Notizen'von spätern Schriftstellern schon vielfältig benutzt und ausgeschrieben sind. Das ästhetische Urtheil, welches Valentin Schmidt zuweilen, wenn auch sehr be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/58>, abgerufen am 16.06.2024.