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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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so war ihnen der höchst bequeme Weg gewiesen, alle drei Fragen zu bejahen, und
viele der Zuhörer erwarteten nichts Andres. Wenn sie aber dennoch die beiden
ersten Fragen gegen eine Stimme verneinten, weshalb sott man den Grund dazu
anders als in ihrer Gewissenhaftigkeit suche"? Verdrießlich war dies Resultat
allerdings für die Behörde, welche die Anklage erhoben hatte; aber das Beweisver¬
fahren machte in der That -- ich war diesmal nnbetheiligter Zuhörer -- den
Eindruck entschiedenster UnVollständigkeit.

Eine förmliche Abneigung habe ich bei den meisten Geschworenen gefunden,
sich auf Wortklaubereien und sonstige juristische Spitzfindigkeiten einzulassen: einer
Anklage lag die Gesetzesstelle zu Grunde: "Rotten sich mehre Personen zusammen,
um gegen Personen oder Sachen öffentlich Gewalt zu verüben, so" u. s. w.
Der Vertheidiger bot allen Scharfsinn und alle Beredtsamkeit auf, uns eine
äußerst künstliche Definition des Begriffs "öffentliche Gewalt" aufzuoctroyiren
und dieselbe mit verschiedenen Entscheidungen eines auswärtigen Obergerichts zu
belegen. Für ein rechtsgelehrtcs Richtercvllcgium wäre seine Ausführung gewiß
nicht bedeutungslos gewesen. Unter den Geschworenen aber sprach sich, sobald wir
uns zurückgezogen hatten, die ganz bestimmte Ansicht aus: wir machen unsre
Ueberzeugung nicht von den Entscheidungen eines fremden, rechtsgelehrten Gerichts¬
hofs abhängig; für uns ist "öffentliche Gewalt" das, was der gesunde Menschen¬
verstand als solche erkennen läßt.

So trat es in diesem Falle mit besondrer Schärfe hervor, worin ickj den
Hauptunterschied zwischen dem Schwurgerichte und jeder Art des Verfahrens
vor rechtsgelehrten Richtern finde: bei diese" wird das formale Recht immer
von ganz wesentlichem, oft von überwiegendem Einflüsse sein; dort entscheidet
d.urchaus mir das materielle Recht. Und wo das formale und das materielle
Recht auseinandergehen, da sehe ich in dem Siege des letzter" eine" ganz un¬
schätzbaren Gewinn, der eben nur durch Schwurgerichte erreicht werden kann;
sie bringen nicht mehr künstlich entwickelte Rechtsbegriffe, sondern das wirkliche
und wahrhaftige Recht zur Geltung, soweit dies überhaupt der dem Irrthum
stets ausgesetzte^ Mensch vermag. Der Grad von Berechtigung übrigens, der
dem formalen Recht nicht unbedingt abgesprochen werden soll, kommt bei der
Abmessung des Strafmaßes durch den Gerichtshof immer "och zu gebührender
Anwendung.

Beruht aber diese Auffassung nicht vielleicht auf einem persönliche" Vorur-
theil? Wol niemand wird die traurige Wahrheit ableugnen, daß während der
Herrschaft des alten Verfahrens jeder Strafgerichtshof im allgemeinen als eine
feindliche Macht betrachtet wurde, wenn man anch "och so fest von der Rechtlich¬
keit jedes einzelnen Mitgliedes überzeugt war. - Wenn also nicht schon vor dem
Urtheil eine sittliche Entrüstung gegen den Verbrecher vorhanden war -- oft
selbst noch in diesem Falle, -- so war der Verurtheilte sofort mehr ein Gegen-


so war ihnen der höchst bequeme Weg gewiesen, alle drei Fragen zu bejahen, und
viele der Zuhörer erwarteten nichts Andres. Wenn sie aber dennoch die beiden
ersten Fragen gegen eine Stimme verneinten, weshalb sott man den Grund dazu
anders als in ihrer Gewissenhaftigkeit suche»? Verdrießlich war dies Resultat
allerdings für die Behörde, welche die Anklage erhoben hatte; aber das Beweisver¬
fahren machte in der That — ich war diesmal nnbetheiligter Zuhörer — den
Eindruck entschiedenster UnVollständigkeit.

Eine förmliche Abneigung habe ich bei den meisten Geschworenen gefunden,
sich auf Wortklaubereien und sonstige juristische Spitzfindigkeiten einzulassen: einer
Anklage lag die Gesetzesstelle zu Grunde: „Rotten sich mehre Personen zusammen,
um gegen Personen oder Sachen öffentlich Gewalt zu verüben, so" u. s. w.
Der Vertheidiger bot allen Scharfsinn und alle Beredtsamkeit auf, uns eine
äußerst künstliche Definition des Begriffs „öffentliche Gewalt" aufzuoctroyiren
und dieselbe mit verschiedenen Entscheidungen eines auswärtigen Obergerichts zu
belegen. Für ein rechtsgelehrtcs Richtercvllcgium wäre seine Ausführung gewiß
nicht bedeutungslos gewesen. Unter den Geschworenen aber sprach sich, sobald wir
uns zurückgezogen hatten, die ganz bestimmte Ansicht aus: wir machen unsre
Ueberzeugung nicht von den Entscheidungen eines fremden, rechtsgelehrten Gerichts¬
hofs abhängig; für uns ist „öffentliche Gewalt" das, was der gesunde Menschen¬
verstand als solche erkennen läßt.

So trat es in diesem Falle mit besondrer Schärfe hervor, worin ickj den
Hauptunterschied zwischen dem Schwurgerichte und jeder Art des Verfahrens
vor rechtsgelehrten Richtern finde: bei diese» wird das formale Recht immer
von ganz wesentlichem, oft von überwiegendem Einflüsse sein; dort entscheidet
d.urchaus mir das materielle Recht. Und wo das formale und das materielle
Recht auseinandergehen, da sehe ich in dem Siege des letzter» eine» ganz un¬
schätzbaren Gewinn, der eben nur durch Schwurgerichte erreicht werden kann;
sie bringen nicht mehr künstlich entwickelte Rechtsbegriffe, sondern das wirkliche
und wahrhaftige Recht zur Geltung, soweit dies überhaupt der dem Irrthum
stets ausgesetzte^ Mensch vermag. Der Grad von Berechtigung übrigens, der
dem formalen Recht nicht unbedingt abgesprochen werden soll, kommt bei der
Abmessung des Strafmaßes durch den Gerichtshof immer »och zu gebührender
Anwendung.

Beruht aber diese Auffassung nicht vielleicht auf einem persönliche» Vorur-
theil? Wol niemand wird die traurige Wahrheit ableugnen, daß während der
Herrschaft des alten Verfahrens jeder Strafgerichtshof im allgemeinen als eine
feindliche Macht betrachtet wurde, wenn man anch »och so fest von der Rechtlich¬
keit jedes einzelnen Mitgliedes überzeugt war. - Wenn also nicht schon vor dem
Urtheil eine sittliche Entrüstung gegen den Verbrecher vorhanden war — oft
selbst noch in diesem Falle, — so war der Verurtheilte sofort mehr ein Gegen-


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[0264] so war ihnen der höchst bequeme Weg gewiesen, alle drei Fragen zu bejahen, und viele der Zuhörer erwarteten nichts Andres. Wenn sie aber dennoch die beiden ersten Fragen gegen eine Stimme verneinten, weshalb sott man den Grund dazu anders als in ihrer Gewissenhaftigkeit suche»? Verdrießlich war dies Resultat allerdings für die Behörde, welche die Anklage erhoben hatte; aber das Beweisver¬ fahren machte in der That — ich war diesmal nnbetheiligter Zuhörer — den Eindruck entschiedenster UnVollständigkeit. Eine förmliche Abneigung habe ich bei den meisten Geschworenen gefunden, sich auf Wortklaubereien und sonstige juristische Spitzfindigkeiten einzulassen: einer Anklage lag die Gesetzesstelle zu Grunde: „Rotten sich mehre Personen zusammen, um gegen Personen oder Sachen öffentlich Gewalt zu verüben, so" u. s. w. Der Vertheidiger bot allen Scharfsinn und alle Beredtsamkeit auf, uns eine äußerst künstliche Definition des Begriffs „öffentliche Gewalt" aufzuoctroyiren und dieselbe mit verschiedenen Entscheidungen eines auswärtigen Obergerichts zu belegen. Für ein rechtsgelehrtcs Richtercvllcgium wäre seine Ausführung gewiß nicht bedeutungslos gewesen. Unter den Geschworenen aber sprach sich, sobald wir uns zurückgezogen hatten, die ganz bestimmte Ansicht aus: wir machen unsre Ueberzeugung nicht von den Entscheidungen eines fremden, rechtsgelehrten Gerichts¬ hofs abhängig; für uns ist „öffentliche Gewalt" das, was der gesunde Menschen¬ verstand als solche erkennen läßt. So trat es in diesem Falle mit besondrer Schärfe hervor, worin ickj den Hauptunterschied zwischen dem Schwurgerichte und jeder Art des Verfahrens vor rechtsgelehrten Richtern finde: bei diese» wird das formale Recht immer von ganz wesentlichem, oft von überwiegendem Einflüsse sein; dort entscheidet d.urchaus mir das materielle Recht. Und wo das formale und das materielle Recht auseinandergehen, da sehe ich in dem Siege des letzter» eine» ganz un¬ schätzbaren Gewinn, der eben nur durch Schwurgerichte erreicht werden kann; sie bringen nicht mehr künstlich entwickelte Rechtsbegriffe, sondern das wirkliche und wahrhaftige Recht zur Geltung, soweit dies überhaupt der dem Irrthum stets ausgesetzte^ Mensch vermag. Der Grad von Berechtigung übrigens, der dem formalen Recht nicht unbedingt abgesprochen werden soll, kommt bei der Abmessung des Strafmaßes durch den Gerichtshof immer »och zu gebührender Anwendung. Beruht aber diese Auffassung nicht vielleicht auf einem persönliche» Vorur- theil? Wol niemand wird die traurige Wahrheit ableugnen, daß während der Herrschaft des alten Verfahrens jeder Strafgerichtshof im allgemeinen als eine feindliche Macht betrachtet wurde, wenn man anch »och so fest von der Rechtlich¬ keit jedes einzelnen Mitgliedes überzeugt war. - Wenn also nicht schon vor dem Urtheil eine sittliche Entrüstung gegen den Verbrecher vorhanden war — oft selbst noch in diesem Falle, — so war der Verurtheilte sofort mehr ein Gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/263>, abgerufen am 10.06.2024.