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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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stand des öffentlichen Mitleidens als der Verachtung oder des Abscheus; so hatte
die Ausübung der Gerechtigkeit nicht zugleich auch eine sittliche Wirkung, weder
auf deu Verbrecher, der sich höchstens als Besiegten ansah, noch auf dessen Mit¬
bürger, die eine traurige Wirkung vor Augen hatten, ohne die sittliche Berechti¬
gung derselben sich zum vollen und klaren Bewußtsein bringen zu können. Für
die jetzige Sachlage führe ich wieder ein einzelnes Beispiel an: bin angesehner
Bauer war auf Meineid angeklagt, der Stand der Voruntersuchung war ihm
nicht günstig. An dem Tage der öffentlichen Verhandlung waren ans dem fünf
Stunden entfernten Dorfe über hundert Leute herbeigekommen, Pfarrer und Leh¬
rer fehlten uicht; acht bis nenn Stunden wohnten sie alle der Verhandlung bei,
Mo als diese, der mehre Zeugenaussagen eine unerwartete Wendung gaben, mit ein¬
stimmiger Freisprechung geschlossen hatte, bezeugten alle, mit denen ich zusammen¬
traf, weniger ihre Freude über die Befreiung des Angeklagten, als ihre freudige
Beistimmung zu der vollen Gerechtigkeit des Ausspruchs. In diesem Dorfe ist
das sittliche Ansehen der Schwurgerichte für immer begründet.

Und dieselbe Ueberzeugung verbreitet sich auf mannigfaltigen Wegen weiter,':
gewiß keiner von uns Geschworenen hat den Gerichtssitz verlassen ohne das Ge¬
fühl, daß sein eignes Rechtsgefühl gekräftigt sei. Von diesem und jenem konnte
man beim Scheiden hören: "Wochenlang werde ich auf meinem Dorfe zu erzählen
haben, wie es hier zugegangen ist; das ist doch ein Gericht, wo frei und offen
jedem geschieht, wie er es verdient hat." Ein schönes Selbstgefühl erfüllte und
Hob die einfachsten Naturen, welche nicht ohne sittlich veredelnde Nachwirkung
auf sie und ihre Umgebung bleiben kann. Und so zweifle ich nicht, daß nur die
Schwurgerichte den schönsten Beruf eines Nechtsinstituts wirklich erfüllen können,
daß sie durch die Verbreitung sittlichen Ernstes nach und nach einiges zur Ver¬
minderung der Verbrechen beitragen werden.

Ehe ich selbst Geschworener war, habe ich für das neue Verfahren vermöge
, einer nnr halb klaren Vorstellung und aus Gründen, die doch im weitesten Sinne
als politische gezählt werden mußten, ein günstiges Vorurtheil gehabt. Seit ich
selbst Geschworener gewesen bin, hege ich die festeste Ueberzeugung, daß das wirk¬
liche und warhaftige Recht, da^ ganze Recht und nichts als das Recht ohne alle
und jede Nebenrücksicht nicht kräftiger gefördert und sichrer gewahrt werden kann,
als dnrch Schwurgerichte.




Omer Pascha.

-- Wenn Sie zu Omer Pascha kämen und kurz zuvor gehört hätten, daß
er erst siebenundvierzig Jahre zählt, so würden Sie sicherlich darüber erschrecken,
wie sehr er vor der Zeit gealtert ist. Sein Haupthaar zwar ist dicht und sein


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stand des öffentlichen Mitleidens als der Verachtung oder des Abscheus; so hatte
die Ausübung der Gerechtigkeit nicht zugleich auch eine sittliche Wirkung, weder
auf deu Verbrecher, der sich höchstens als Besiegten ansah, noch auf dessen Mit¬
bürger, die eine traurige Wirkung vor Augen hatten, ohne die sittliche Berechti¬
gung derselben sich zum vollen und klaren Bewußtsein bringen zu können. Für
die jetzige Sachlage führe ich wieder ein einzelnes Beispiel an: bin angesehner
Bauer war auf Meineid angeklagt, der Stand der Voruntersuchung war ihm
nicht günstig. An dem Tage der öffentlichen Verhandlung waren ans dem fünf
Stunden entfernten Dorfe über hundert Leute herbeigekommen, Pfarrer und Leh¬
rer fehlten uicht; acht bis nenn Stunden wohnten sie alle der Verhandlung bei,
Mo als diese, der mehre Zeugenaussagen eine unerwartete Wendung gaben, mit ein¬
stimmiger Freisprechung geschlossen hatte, bezeugten alle, mit denen ich zusammen¬
traf, weniger ihre Freude über die Befreiung des Angeklagten, als ihre freudige
Beistimmung zu der vollen Gerechtigkeit des Ausspruchs. In diesem Dorfe ist
das sittliche Ansehen der Schwurgerichte für immer begründet.

Und dieselbe Ueberzeugung verbreitet sich auf mannigfaltigen Wegen weiter,':
gewiß keiner von uns Geschworenen hat den Gerichtssitz verlassen ohne das Ge¬
fühl, daß sein eignes Rechtsgefühl gekräftigt sei. Von diesem und jenem konnte
man beim Scheiden hören: „Wochenlang werde ich auf meinem Dorfe zu erzählen
haben, wie es hier zugegangen ist; das ist doch ein Gericht, wo frei und offen
jedem geschieht, wie er es verdient hat." Ein schönes Selbstgefühl erfüllte und
Hob die einfachsten Naturen, welche nicht ohne sittlich veredelnde Nachwirkung
auf sie und ihre Umgebung bleiben kann. Und so zweifle ich nicht, daß nur die
Schwurgerichte den schönsten Beruf eines Nechtsinstituts wirklich erfüllen können,
daß sie durch die Verbreitung sittlichen Ernstes nach und nach einiges zur Ver¬
minderung der Verbrechen beitragen werden.

Ehe ich selbst Geschworener war, habe ich für das neue Verfahren vermöge
, einer nnr halb klaren Vorstellung und aus Gründen, die doch im weitesten Sinne
als politische gezählt werden mußten, ein günstiges Vorurtheil gehabt. Seit ich
selbst Geschworener gewesen bin, hege ich die festeste Ueberzeugung, daß das wirk¬
liche und warhaftige Recht, da^ ganze Recht und nichts als das Recht ohne alle
und jede Nebenrücksicht nicht kräftiger gefördert und sichrer gewahrt werden kann,
als dnrch Schwurgerichte.




Omer Pascha.

— Wenn Sie zu Omer Pascha kämen und kurz zuvor gehört hätten, daß
er erst siebenundvierzig Jahre zählt, so würden Sie sicherlich darüber erschrecken,
wie sehr er vor der Zeit gealtert ist. Sein Haupthaar zwar ist dicht und sein


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[0265] stand des öffentlichen Mitleidens als der Verachtung oder des Abscheus; so hatte die Ausübung der Gerechtigkeit nicht zugleich auch eine sittliche Wirkung, weder auf deu Verbrecher, der sich höchstens als Besiegten ansah, noch auf dessen Mit¬ bürger, die eine traurige Wirkung vor Augen hatten, ohne die sittliche Berechti¬ gung derselben sich zum vollen und klaren Bewußtsein bringen zu können. Für die jetzige Sachlage führe ich wieder ein einzelnes Beispiel an: bin angesehner Bauer war auf Meineid angeklagt, der Stand der Voruntersuchung war ihm nicht günstig. An dem Tage der öffentlichen Verhandlung waren ans dem fünf Stunden entfernten Dorfe über hundert Leute herbeigekommen, Pfarrer und Leh¬ rer fehlten uicht; acht bis nenn Stunden wohnten sie alle der Verhandlung bei, Mo als diese, der mehre Zeugenaussagen eine unerwartete Wendung gaben, mit ein¬ stimmiger Freisprechung geschlossen hatte, bezeugten alle, mit denen ich zusammen¬ traf, weniger ihre Freude über die Befreiung des Angeklagten, als ihre freudige Beistimmung zu der vollen Gerechtigkeit des Ausspruchs. In diesem Dorfe ist das sittliche Ansehen der Schwurgerichte für immer begründet. Und dieselbe Ueberzeugung verbreitet sich auf mannigfaltigen Wegen weiter,': gewiß keiner von uns Geschworenen hat den Gerichtssitz verlassen ohne das Ge¬ fühl, daß sein eignes Rechtsgefühl gekräftigt sei. Von diesem und jenem konnte man beim Scheiden hören: „Wochenlang werde ich auf meinem Dorfe zu erzählen haben, wie es hier zugegangen ist; das ist doch ein Gericht, wo frei und offen jedem geschieht, wie er es verdient hat." Ein schönes Selbstgefühl erfüllte und Hob die einfachsten Naturen, welche nicht ohne sittlich veredelnde Nachwirkung auf sie und ihre Umgebung bleiben kann. Und so zweifle ich nicht, daß nur die Schwurgerichte den schönsten Beruf eines Nechtsinstituts wirklich erfüllen können, daß sie durch die Verbreitung sittlichen Ernstes nach und nach einiges zur Ver¬ minderung der Verbrechen beitragen werden. Ehe ich selbst Geschworener war, habe ich für das neue Verfahren vermöge , einer nnr halb klaren Vorstellung und aus Gründen, die doch im weitesten Sinne als politische gezählt werden mußten, ein günstiges Vorurtheil gehabt. Seit ich selbst Geschworener gewesen bin, hege ich die festeste Ueberzeugung, daß das wirk¬ liche und warhaftige Recht, da^ ganze Recht und nichts als das Recht ohne alle und jede Nebenrücksicht nicht kräftiger gefördert und sichrer gewahrt werden kann, als dnrch Schwurgerichte. Omer Pascha. — Wenn Sie zu Omer Pascha kämen und kurz zuvor gehört hätten, daß er erst siebenundvierzig Jahre zählt, so würden Sie sicherlich darüber erschrecken, wie sehr er vor der Zeit gealtert ist. Sein Haupthaar zwar ist dicht und sein Grenzlwten. II. 18si. 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/264>, abgerufen am 19.05.2024.