Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Hiermit tritt Pichat auch dem deutschen Wesen näher. -- Er mag sich
noch so sehr in französischen Paradoxen ergehen, noch so sehr von Esprit funkeln,
diesen Spielereien des Geistes liegt immer Gemüthlichkeit zu Grunde, sowie
die ganze Analyse seiner Charaktere auf dem Bestreben nach sittlichem GeHalle be¬
ruht. Auch Balzac zeichnete sich vor den französischen Zeit- und Ruhmesgenossen
durch intime Schilderung und oft durch zuweit getriebene Zergliederung gesell¬
schaftlicher Charaktere aus. Laurent Pichat befindet sich auf ähnlichem Wege
in seinen "LarteZ sur tabls", er hält sich von Zufälligkeiten, welche die Ober¬
fläche nur berühren, fern und versucht den Gebrechen der Zeit auf den
Grund zu kommen. Er schildert zwei junge Männer, die mitten ins Gewühl
des pariser Treibens gestürzt werden. Der eine, ein junger Arzt von gereiftem
Charakter, der die Welt nimmt wie sie genommen zu werden verdient, ohne
daß ihm die Täuschungen des Lebens seine ideale Menschenanschauung ge¬
raubt hätten, Verändere, sein Freund und Telemach, ein liebenswürdiger Jüng¬
ling voll Liebesbedürfniß, dem sein plötzlich ererbtes Vermögen Gefahren
bereitet, die der erfahrne Freund von ihm abzulenken sucht. Die beiden steuern
auf dem schmuzigen See voll verpesteter Ausdünstungen dahin und wir machen
Bekanntschaft mit Typen aus allen Theilen der Gesellschaft, denen heutzutage
Rechnung getragen werden muß. Pichat läßt seiner Satire alle Zügel schießen
und wir folgen ihm gern in all seinen Boutaden, weil, wie gesagt, wirkliche
Menschenliebe und Menschenachtung dahinter steckt. Er geisselt nicht blos
zum Scherz und xour cle consLl"zue.<z, um ein Recht zu erlangen, uns
unflätige Scenen vorzuführen -- sein Haß ist legitimer und gesunder Natur.
Die Tarlüferie, sie mag sich nun auf die Religion, auf die Politik oder auf
gesellschaftliche Verhältnisse beziehen, wird auf sehr dramatische Weise geschil¬
dert. Die Gegensätze jeder Art, wie sie das Leben von Paris jedem, der
nur zu beobachten versteht, so reichlich bietet, treten mit einer Lebendigkeit vor
unser Auge, wie sonst in keinem Buche der modernen Literatur. Seine Charak¬
tere sind nur insoweit erdichtet, als nothwendig ist, um das Allgemeine mit
dem Individuellen in gehörigem Maße zu verschmelzen. Wer etwas über das
hiesige Leben zu erfahren wünscht, dem empfehlen wir diese interessante Erzählung,
die, was sittlichen Inhalt und psychische Behandlung betrifft, dem deutschen
Leser sympathischer erscheinen wird, als ähnliche Erzeugnisse der heutigen
Nomanwelt. Wenn wir dem Buche etwas vorwerfen, so ist es Mangel an
Einfachheit. Die fantaisistische Schule, welcher Laurent Pichat angehört, ge¬
fällt sich in Ueberladungen an Details -- es sind Goldschmiede, die mit Edel¬
steinen, die ihnen zur Fassung anvertraut sind, nicht sparsam d. l). künstlerisch
unsparsam umgehen. Jede Auseinandersetzung, jede Schilderung eines Mo¬
mentes überwuchert von Einzelnheiten und Arabesken, welche sozusagen ein
Abgesondertes ausmachen und das Buch, das doch auf einer sestgegliederteii,


Hiermit tritt Pichat auch dem deutschen Wesen näher. — Er mag sich
noch so sehr in französischen Paradoxen ergehen, noch so sehr von Esprit funkeln,
diesen Spielereien des Geistes liegt immer Gemüthlichkeit zu Grunde, sowie
die ganze Analyse seiner Charaktere auf dem Bestreben nach sittlichem GeHalle be¬
ruht. Auch Balzac zeichnete sich vor den französischen Zeit- und Ruhmesgenossen
durch intime Schilderung und oft durch zuweit getriebene Zergliederung gesell¬
schaftlicher Charaktere aus. Laurent Pichat befindet sich auf ähnlichem Wege
in seinen „LarteZ sur tabls", er hält sich von Zufälligkeiten, welche die Ober¬
fläche nur berühren, fern und versucht den Gebrechen der Zeit auf den
Grund zu kommen. Er schildert zwei junge Männer, die mitten ins Gewühl
des pariser Treibens gestürzt werden. Der eine, ein junger Arzt von gereiftem
Charakter, der die Welt nimmt wie sie genommen zu werden verdient, ohne
daß ihm die Täuschungen des Lebens seine ideale Menschenanschauung ge¬
raubt hätten, Verändere, sein Freund und Telemach, ein liebenswürdiger Jüng¬
ling voll Liebesbedürfniß, dem sein plötzlich ererbtes Vermögen Gefahren
bereitet, die der erfahrne Freund von ihm abzulenken sucht. Die beiden steuern
auf dem schmuzigen See voll verpesteter Ausdünstungen dahin und wir machen
Bekanntschaft mit Typen aus allen Theilen der Gesellschaft, denen heutzutage
Rechnung getragen werden muß. Pichat läßt seiner Satire alle Zügel schießen
und wir folgen ihm gern in all seinen Boutaden, weil, wie gesagt, wirkliche
Menschenliebe und Menschenachtung dahinter steckt. Er geisselt nicht blos
zum Scherz und xour cle consLl«zue.<z, um ein Recht zu erlangen, uns
unflätige Scenen vorzuführen — sein Haß ist legitimer und gesunder Natur.
Die Tarlüferie, sie mag sich nun auf die Religion, auf die Politik oder auf
gesellschaftliche Verhältnisse beziehen, wird auf sehr dramatische Weise geschil¬
dert. Die Gegensätze jeder Art, wie sie das Leben von Paris jedem, der
nur zu beobachten versteht, so reichlich bietet, treten mit einer Lebendigkeit vor
unser Auge, wie sonst in keinem Buche der modernen Literatur. Seine Charak¬
tere sind nur insoweit erdichtet, als nothwendig ist, um das Allgemeine mit
dem Individuellen in gehörigem Maße zu verschmelzen. Wer etwas über das
hiesige Leben zu erfahren wünscht, dem empfehlen wir diese interessante Erzählung,
die, was sittlichen Inhalt und psychische Behandlung betrifft, dem deutschen
Leser sympathischer erscheinen wird, als ähnliche Erzeugnisse der heutigen
Nomanwelt. Wenn wir dem Buche etwas vorwerfen, so ist es Mangel an
Einfachheit. Die fantaisistische Schule, welcher Laurent Pichat angehört, ge¬
fällt sich in Ueberladungen an Details — es sind Goldschmiede, die mit Edel¬
steinen, die ihnen zur Fassung anvertraut sind, nicht sparsam d. l). künstlerisch
unsparsam umgehen. Jede Auseinandersetzung, jede Schilderung eines Mo¬
mentes überwuchert von Einzelnheiten und Arabesken, welche sozusagen ein
Abgesondertes ausmachen und das Buch, das doch auf einer sestgegliederteii,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100648"/>
          <p xml:id="ID_549" next="#ID_550"> Hiermit tritt Pichat auch dem deutschen Wesen näher. &#x2014; Er mag sich<lb/>
noch so sehr in französischen Paradoxen ergehen, noch so sehr von Esprit funkeln,<lb/>
diesen Spielereien des Geistes liegt immer Gemüthlichkeit zu Grunde, sowie<lb/>
die ganze Analyse seiner Charaktere auf dem Bestreben nach sittlichem GeHalle be¬<lb/>
ruht. Auch Balzac zeichnete sich vor den französischen Zeit- und Ruhmesgenossen<lb/>
durch intime Schilderung und oft durch zuweit getriebene Zergliederung gesell¬<lb/>
schaftlicher Charaktere aus. Laurent Pichat befindet sich auf ähnlichem Wege<lb/>
in seinen &#x201E;LarteZ sur tabls", er hält sich von Zufälligkeiten, welche die Ober¬<lb/>
fläche nur berühren, fern und versucht den Gebrechen der Zeit auf den<lb/>
Grund zu kommen. Er schildert zwei junge Männer, die mitten ins Gewühl<lb/>
des pariser Treibens gestürzt werden. Der eine, ein junger Arzt von gereiftem<lb/>
Charakter, der die Welt nimmt wie sie genommen zu werden verdient, ohne<lb/>
daß ihm die Täuschungen des Lebens seine ideale Menschenanschauung ge¬<lb/>
raubt hätten, Verändere, sein Freund und Telemach, ein liebenswürdiger Jüng¬<lb/>
ling voll Liebesbedürfniß, dem sein plötzlich ererbtes Vermögen Gefahren<lb/>
bereitet, die der erfahrne Freund von ihm abzulenken sucht. Die beiden steuern<lb/>
auf dem schmuzigen See voll verpesteter Ausdünstungen dahin und wir machen<lb/>
Bekanntschaft mit Typen aus allen Theilen der Gesellschaft, denen heutzutage<lb/>
Rechnung getragen werden muß. Pichat läßt seiner Satire alle Zügel schießen<lb/>
und wir folgen ihm gern in all seinen Boutaden, weil, wie gesagt, wirkliche<lb/>
Menschenliebe und Menschenachtung dahinter steckt. Er geisselt nicht blos<lb/>
zum Scherz und xour cle consLl«zue.&lt;z, um ein Recht zu erlangen, uns<lb/>
unflätige Scenen vorzuführen &#x2014; sein Haß ist legitimer und gesunder Natur.<lb/>
Die Tarlüferie, sie mag sich nun auf die Religion, auf die Politik oder auf<lb/>
gesellschaftliche Verhältnisse beziehen, wird auf sehr dramatische Weise geschil¬<lb/>
dert. Die Gegensätze jeder Art, wie sie das Leben von Paris jedem, der<lb/>
nur zu beobachten versteht, so reichlich bietet, treten mit einer Lebendigkeit vor<lb/>
unser Auge, wie sonst in keinem Buche der modernen Literatur. Seine Charak¬<lb/>
tere sind nur insoweit erdichtet, als nothwendig ist, um das Allgemeine mit<lb/>
dem Individuellen in gehörigem Maße zu verschmelzen. Wer etwas über das<lb/>
hiesige Leben zu erfahren wünscht, dem empfehlen wir diese interessante Erzählung,<lb/>
die, was sittlichen Inhalt und psychische Behandlung betrifft, dem deutschen<lb/>
Leser sympathischer erscheinen wird, als ähnliche Erzeugnisse der heutigen<lb/>
Nomanwelt. Wenn wir dem Buche etwas vorwerfen, so ist es Mangel an<lb/>
Einfachheit. Die fantaisistische Schule, welcher Laurent Pichat angehört, ge¬<lb/>
fällt sich in Ueberladungen an Details &#x2014; es sind Goldschmiede, die mit Edel¬<lb/>
steinen, die ihnen zur Fassung anvertraut sind, nicht sparsam d. l). künstlerisch<lb/>
unsparsam umgehen. Jede Auseinandersetzung, jede Schilderung eines Mo¬<lb/>
mentes überwuchert von Einzelnheiten und Arabesken, welche sozusagen ein<lb/>
Abgesondertes ausmachen und das Buch, das doch auf einer sestgegliederteii,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0194] Hiermit tritt Pichat auch dem deutschen Wesen näher. — Er mag sich noch so sehr in französischen Paradoxen ergehen, noch so sehr von Esprit funkeln, diesen Spielereien des Geistes liegt immer Gemüthlichkeit zu Grunde, sowie die ganze Analyse seiner Charaktere auf dem Bestreben nach sittlichem GeHalle be¬ ruht. Auch Balzac zeichnete sich vor den französischen Zeit- und Ruhmesgenossen durch intime Schilderung und oft durch zuweit getriebene Zergliederung gesell¬ schaftlicher Charaktere aus. Laurent Pichat befindet sich auf ähnlichem Wege in seinen „LarteZ sur tabls", er hält sich von Zufälligkeiten, welche die Ober¬ fläche nur berühren, fern und versucht den Gebrechen der Zeit auf den Grund zu kommen. Er schildert zwei junge Männer, die mitten ins Gewühl des pariser Treibens gestürzt werden. Der eine, ein junger Arzt von gereiftem Charakter, der die Welt nimmt wie sie genommen zu werden verdient, ohne daß ihm die Täuschungen des Lebens seine ideale Menschenanschauung ge¬ raubt hätten, Verändere, sein Freund und Telemach, ein liebenswürdiger Jüng¬ ling voll Liebesbedürfniß, dem sein plötzlich ererbtes Vermögen Gefahren bereitet, die der erfahrne Freund von ihm abzulenken sucht. Die beiden steuern auf dem schmuzigen See voll verpesteter Ausdünstungen dahin und wir machen Bekanntschaft mit Typen aus allen Theilen der Gesellschaft, denen heutzutage Rechnung getragen werden muß. Pichat läßt seiner Satire alle Zügel schießen und wir folgen ihm gern in all seinen Boutaden, weil, wie gesagt, wirkliche Menschenliebe und Menschenachtung dahinter steckt. Er geisselt nicht blos zum Scherz und xour cle consLl«zue.<z, um ein Recht zu erlangen, uns unflätige Scenen vorzuführen — sein Haß ist legitimer und gesunder Natur. Die Tarlüferie, sie mag sich nun auf die Religion, auf die Politik oder auf gesellschaftliche Verhältnisse beziehen, wird auf sehr dramatische Weise geschil¬ dert. Die Gegensätze jeder Art, wie sie das Leben von Paris jedem, der nur zu beobachten versteht, so reichlich bietet, treten mit einer Lebendigkeit vor unser Auge, wie sonst in keinem Buche der modernen Literatur. Seine Charak¬ tere sind nur insoweit erdichtet, als nothwendig ist, um das Allgemeine mit dem Individuellen in gehörigem Maße zu verschmelzen. Wer etwas über das hiesige Leben zu erfahren wünscht, dem empfehlen wir diese interessante Erzählung, die, was sittlichen Inhalt und psychische Behandlung betrifft, dem deutschen Leser sympathischer erscheinen wird, als ähnliche Erzeugnisse der heutigen Nomanwelt. Wenn wir dem Buche etwas vorwerfen, so ist es Mangel an Einfachheit. Die fantaisistische Schule, welcher Laurent Pichat angehört, ge¬ fällt sich in Ueberladungen an Details — es sind Goldschmiede, die mit Edel¬ steinen, die ihnen zur Fassung anvertraut sind, nicht sparsam d. l). künstlerisch unsparsam umgehen. Jede Auseinandersetzung, jede Schilderung eines Mo¬ mentes überwuchert von Einzelnheiten und Arabesken, welche sozusagen ein Abgesondertes ausmachen und das Buch, das doch auf einer sestgegliederteii,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/194
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/194>, abgerufen am 26.05.2024.