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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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verbreitend gedacht wird; von dem Nebensächlichen dagegen mag sich jeder nach
seiner Individualität aneignen, was ihm bequem ist. Dieses Verhältniß be¬
stand unleugbar im katholischen Cultus. Während vieles der Privatandacht
überlassen war, strahlte das Wunder der Brotwandlung über alle, kam
jedem, von Seiten der mittheilenden Kirche gedacht, in gleicher Weise zu Gute.
Anders bei Luther. Die Messe wurde hier wieder Abendmahl, unmittelbares
Genießen der Einzelnen, und dadurch die versammelte Gemeinde in activ und
passiv Betheiligte, d. h. in Abendmahlsgäste und Zuschauer, getheilt. Ja oft
mußte das Abendmahl wegen Mangel an Communicanten ganz ausgesetzt
werden. Dagegen sind der Predigt gegenüber doch alle ohne Ausnahme in
der glücklichen Lage, sich daran erbauen oder langweilen zu können. Bis man
also nicht in die Praxis der morgenländischen Kirche einmündet und allen ins¬
gesammt und jedem einzelnen besonders das Mahl reicht, wird von demselben
als Mittelpunkt des Gottesdienstes keine Rede sein können. Das dürste aber,
trotz der starken Hinneigung dieser altlutherischen Richtung zu der russisch¬
griechischen Kirche, doch noch eine Weile dauern. Ein Drittes von gleicher
Bedeutung neben Abendmahl und Predigt ist auch nicht vorhanden; so stehen
denn beide da als Widersprüche, die einander aufreiben. Der Kernpunkt des
Cultus braucht nicht absolut wahr zu sein, ja'er kann, wie das römische Me߬
opfer, rein auf dogmatischer Verirrung beruhen und doch den Gottesdienst
äußerlich zur Einheit gestalten, wenn die Gesammtheit einmal an ein solch
Mysterium glaubt; aber eins wird erfordert: aus dem Gottesdienst selbst alle
zwiespältigen widersprechenden Elemente sern zu halten, weil diese jede abge¬
rundete Gestaltung unmöglich machen.

Diese Sachlage ist so faßlich, daß sie mit Händen zu greifen. Kliefath
bewies, das Abendmahl gehöre zu einem vollständigen Gottesdienste; mit
Predigt, Gesang und der alten volleren Liturgie wäre es so etwas Voll¬
kommenes, daß nichts Höheres denkbar, nicht blos fürs sechzehnte, sondern
auch fürs neunzehnte Jahrhundert. Die Schrift von 18i7 hat noch nicht ganz
die Einseitigkeit der späteren, zeigt hin und wieder, besonders in den geschicht¬
lichen Partien, eine wohlthuende Frische und Kräftigtet, trägt aber dadurch
den Charakter einer echten Restaurationsschrift an sich, daß sie nach dem ersten
Anlauf im Bewundern einer- und Klagen andrerseits, schließlich, wo es an
das Wiederhersteller und Bessermachen geht, ganz dünn ausläuft. Viel höl¬
zerner und nur für die Partei genießbar sind die "Liturgischen Abhand¬
lungen." (Erster Band 18Sj. Schwerin, Stiller). Das starrste Dogma bildet
ihre Grundlage. Da sind nach der ersten Abhandlung von der "Ehe" die
mosaischen Ehegesetze bindend, weil sie von Moses herrühren und in der Bibel
stehen; da ist nach der zweiten vom ,,Begräbniß" aller moderne Chorgesang
und ähnliche Betheiligung der Hinterbliebenen Freunde vom Friedhofe zu


verbreitend gedacht wird; von dem Nebensächlichen dagegen mag sich jeder nach
seiner Individualität aneignen, was ihm bequem ist. Dieses Verhältniß be¬
stand unleugbar im katholischen Cultus. Während vieles der Privatandacht
überlassen war, strahlte das Wunder der Brotwandlung über alle, kam
jedem, von Seiten der mittheilenden Kirche gedacht, in gleicher Weise zu Gute.
Anders bei Luther. Die Messe wurde hier wieder Abendmahl, unmittelbares
Genießen der Einzelnen, und dadurch die versammelte Gemeinde in activ und
passiv Betheiligte, d. h. in Abendmahlsgäste und Zuschauer, getheilt. Ja oft
mußte das Abendmahl wegen Mangel an Communicanten ganz ausgesetzt
werden. Dagegen sind der Predigt gegenüber doch alle ohne Ausnahme in
der glücklichen Lage, sich daran erbauen oder langweilen zu können. Bis man
also nicht in die Praxis der morgenländischen Kirche einmündet und allen ins¬
gesammt und jedem einzelnen besonders das Mahl reicht, wird von demselben
als Mittelpunkt des Gottesdienstes keine Rede sein können. Das dürste aber,
trotz der starken Hinneigung dieser altlutherischen Richtung zu der russisch¬
griechischen Kirche, doch noch eine Weile dauern. Ein Drittes von gleicher
Bedeutung neben Abendmahl und Predigt ist auch nicht vorhanden; so stehen
denn beide da als Widersprüche, die einander aufreiben. Der Kernpunkt des
Cultus braucht nicht absolut wahr zu sein, ja'er kann, wie das römische Me߬
opfer, rein auf dogmatischer Verirrung beruhen und doch den Gottesdienst
äußerlich zur Einheit gestalten, wenn die Gesammtheit einmal an ein solch
Mysterium glaubt; aber eins wird erfordert: aus dem Gottesdienst selbst alle
zwiespältigen widersprechenden Elemente sern zu halten, weil diese jede abge¬
rundete Gestaltung unmöglich machen.

Diese Sachlage ist so faßlich, daß sie mit Händen zu greifen. Kliefath
bewies, das Abendmahl gehöre zu einem vollständigen Gottesdienste; mit
Predigt, Gesang und der alten volleren Liturgie wäre es so etwas Voll¬
kommenes, daß nichts Höheres denkbar, nicht blos fürs sechzehnte, sondern
auch fürs neunzehnte Jahrhundert. Die Schrift von 18i7 hat noch nicht ganz
die Einseitigkeit der späteren, zeigt hin und wieder, besonders in den geschicht¬
lichen Partien, eine wohlthuende Frische und Kräftigtet, trägt aber dadurch
den Charakter einer echten Restaurationsschrift an sich, daß sie nach dem ersten
Anlauf im Bewundern einer- und Klagen andrerseits, schließlich, wo es an
das Wiederhersteller und Bessermachen geht, ganz dünn ausläuft. Viel höl¬
zerner und nur für die Partei genießbar sind die „Liturgischen Abhand¬
lungen." (Erster Band 18Sj. Schwerin, Stiller). Das starrste Dogma bildet
ihre Grundlage. Da sind nach der ersten Abhandlung von der „Ehe" die
mosaischen Ehegesetze bindend, weil sie von Moses herrühren und in der Bibel
stehen; da ist nach der zweiten vom ,,Begräbniß" aller moderne Chorgesang
und ähnliche Betheiligung der Hinterbliebenen Freunde vom Friedhofe zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/420>, abgerufen am 26.05.2024.