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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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weisen, dagegen der Psalmen- und Wechselgesang von der Gemeinde anzu¬
stimmen, und nicht etwa in kunstvollen, eindringlichen Tonsätzen, sondern eben
in der ganz monotonen, unmelodischer alten Leier, Psalmodie genannt, weil
es vormals so gewesen; da soll nach der dritten, handxlnd von der ,,Ordina-
tion" deS Priesters, die Herrschaft der Pastöre von neuem aufgerichtet werden,
weil diese Ehrwürdigen früher einmal etwas der Art besaßen. Die Abhand¬
lungen werden zur Zeit vielleicht um so mehr wirken, je sinnfälliger sie von
der Religion zum Götzendienst des Buchstabens und alter Formen hinleiten,
denn die Menschen wollen etwas "Positives" haben. Ihr Eclat ist übrigens
in der Stille schon auf das vollständigste vorbereitet. Vor dem Erscheinen
im Buchhandel sind sie, als Manuscript gedruckt, an die Gesinnungsgenossen
(besonders unter den Kirchenbehörden in Mecklenburg, Dresden, Hannover,
München, Erlangen u. s. w.) vertheilt, und erst nach deren Gutachten allen
insgemein zum Kauf geboten. Gleicherweise ging ihnen voraus des Verfassers
einflußreiche persönliche Wirksamkeit auf den Kirchenconferenzen in Eisenach
und Dresden, wie eS dieser Theolog denn überhaupt verstanden hat, die öf¬
fentliche Aufmerksamkeit so lange von sich abzulenken, bis der Mann ein statt¬
liches Amt und der Ruhm eine compacte Grundlage erhalten hatte.

Starke Einseitigkeiten können sich bei einem Menschen nur dann ausbilden,
wenn gewisse Organe fehlen oder verkrüppelt, andere dagegen in besonderem
Maße entwickelt sind. Hört man Kliefath über Cultus und Kirchenregiment
reden, so zweifelt man allerdings nicht, daß der Kunstsinn bei ihm fast gar
nicht vorhanden ist, der Sinn zum Herrschen sich dagegen einer vorzüglichen
Blüte erfreut. Es wäre besser, der letztere fehlte als der erstere; denn wer
in Sachen des Cultus etwas unternehmen will, der muß ein feines, künst¬
lerisches Gefühl besitzen. Wir sehen ganz davon ab, daß jede lebensvolle
Cultusform die Reihe der Künste herangezogen und durch eine Fülle von Auf¬
gaben beschäftigt hat, obwol auch dieses unsern Ausspruch bestätigt, wir sehen
rein auf den Verlauf der Gottesdienstordnung, ohne an eine der sieben Freien
zu denken. Da ergibt sich denn: der Gottesdienst, weil er durchaus in Form¬
thätigkeit verläuft, ist damit auch an die Gesetze aller Form d. h. an die
Schönheit gewiesen. Die Wirkung der Religion an sich hängt ab von ihrer
Wahrheit (vom Dogma wäre geschichtlich richtiger gesagt), die Wirkung des
Cultus an sich von der Schönheit; in jedem gottesdienstlichen Acte aber müssen
sich beide Elemente innig durchdringen. Monotonie, unverständliche Alter-
thümelei, haarsträubende Prosodie der Gesänge, nüchterner Formeldienst sind
der Tod des Cultus; diese Kostbarkeiten alle würden wir aber wiedergewinnen,
wenn einmal die "rein lutherische Gottesdienstordnung" ins Leben treten sollte.
Man möchte ja lieber in die Wüste lausen, als in eine solche Versammlung.
Das falsche, süßliche Aesthetisiren in verzückten Predigten und schwimmender


weisen, dagegen der Psalmen- und Wechselgesang von der Gemeinde anzu¬
stimmen, und nicht etwa in kunstvollen, eindringlichen Tonsätzen, sondern eben
in der ganz monotonen, unmelodischer alten Leier, Psalmodie genannt, weil
es vormals so gewesen; da soll nach der dritten, handxlnd von der ,,Ordina-
tion" deS Priesters, die Herrschaft der Pastöre von neuem aufgerichtet werden,
weil diese Ehrwürdigen früher einmal etwas der Art besaßen. Die Abhand¬
lungen werden zur Zeit vielleicht um so mehr wirken, je sinnfälliger sie von
der Religion zum Götzendienst des Buchstabens und alter Formen hinleiten,
denn die Menschen wollen etwas „Positives" haben. Ihr Eclat ist übrigens
in der Stille schon auf das vollständigste vorbereitet. Vor dem Erscheinen
im Buchhandel sind sie, als Manuscript gedruckt, an die Gesinnungsgenossen
(besonders unter den Kirchenbehörden in Mecklenburg, Dresden, Hannover,
München, Erlangen u. s. w.) vertheilt, und erst nach deren Gutachten allen
insgemein zum Kauf geboten. Gleicherweise ging ihnen voraus des Verfassers
einflußreiche persönliche Wirksamkeit auf den Kirchenconferenzen in Eisenach
und Dresden, wie eS dieser Theolog denn überhaupt verstanden hat, die öf¬
fentliche Aufmerksamkeit so lange von sich abzulenken, bis der Mann ein statt¬
liches Amt und der Ruhm eine compacte Grundlage erhalten hatte.

Starke Einseitigkeiten können sich bei einem Menschen nur dann ausbilden,
wenn gewisse Organe fehlen oder verkrüppelt, andere dagegen in besonderem
Maße entwickelt sind. Hört man Kliefath über Cultus und Kirchenregiment
reden, so zweifelt man allerdings nicht, daß der Kunstsinn bei ihm fast gar
nicht vorhanden ist, der Sinn zum Herrschen sich dagegen einer vorzüglichen
Blüte erfreut. Es wäre besser, der letztere fehlte als der erstere; denn wer
in Sachen des Cultus etwas unternehmen will, der muß ein feines, künst¬
lerisches Gefühl besitzen. Wir sehen ganz davon ab, daß jede lebensvolle
Cultusform die Reihe der Künste herangezogen und durch eine Fülle von Auf¬
gaben beschäftigt hat, obwol auch dieses unsern Ausspruch bestätigt, wir sehen
rein auf den Verlauf der Gottesdienstordnung, ohne an eine der sieben Freien
zu denken. Da ergibt sich denn: der Gottesdienst, weil er durchaus in Form¬
thätigkeit verläuft, ist damit auch an die Gesetze aller Form d. h. an die
Schönheit gewiesen. Die Wirkung der Religion an sich hängt ab von ihrer
Wahrheit (vom Dogma wäre geschichtlich richtiger gesagt), die Wirkung des
Cultus an sich von der Schönheit; in jedem gottesdienstlichen Acte aber müssen
sich beide Elemente innig durchdringen. Monotonie, unverständliche Alter-
thümelei, haarsträubende Prosodie der Gesänge, nüchterner Formeldienst sind
der Tod des Cultus; diese Kostbarkeiten alle würden wir aber wiedergewinnen,
wenn einmal die „rein lutherische Gottesdienstordnung" ins Leben treten sollte.
Man möchte ja lieber in die Wüste lausen, als in eine solche Versammlung.
Das falsche, süßliche Aesthetisiren in verzückten Predigten und schwimmender


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[0421] weisen, dagegen der Psalmen- und Wechselgesang von der Gemeinde anzu¬ stimmen, und nicht etwa in kunstvollen, eindringlichen Tonsätzen, sondern eben in der ganz monotonen, unmelodischer alten Leier, Psalmodie genannt, weil es vormals so gewesen; da soll nach der dritten, handxlnd von der ,,Ordina- tion" deS Priesters, die Herrschaft der Pastöre von neuem aufgerichtet werden, weil diese Ehrwürdigen früher einmal etwas der Art besaßen. Die Abhand¬ lungen werden zur Zeit vielleicht um so mehr wirken, je sinnfälliger sie von der Religion zum Götzendienst des Buchstabens und alter Formen hinleiten, denn die Menschen wollen etwas „Positives" haben. Ihr Eclat ist übrigens in der Stille schon auf das vollständigste vorbereitet. Vor dem Erscheinen im Buchhandel sind sie, als Manuscript gedruckt, an die Gesinnungsgenossen (besonders unter den Kirchenbehörden in Mecklenburg, Dresden, Hannover, München, Erlangen u. s. w.) vertheilt, und erst nach deren Gutachten allen insgemein zum Kauf geboten. Gleicherweise ging ihnen voraus des Verfassers einflußreiche persönliche Wirksamkeit auf den Kirchenconferenzen in Eisenach und Dresden, wie eS dieser Theolog denn überhaupt verstanden hat, die öf¬ fentliche Aufmerksamkeit so lange von sich abzulenken, bis der Mann ein statt¬ liches Amt und der Ruhm eine compacte Grundlage erhalten hatte. Starke Einseitigkeiten können sich bei einem Menschen nur dann ausbilden, wenn gewisse Organe fehlen oder verkrüppelt, andere dagegen in besonderem Maße entwickelt sind. Hört man Kliefath über Cultus und Kirchenregiment reden, so zweifelt man allerdings nicht, daß der Kunstsinn bei ihm fast gar nicht vorhanden ist, der Sinn zum Herrschen sich dagegen einer vorzüglichen Blüte erfreut. Es wäre besser, der letztere fehlte als der erstere; denn wer in Sachen des Cultus etwas unternehmen will, der muß ein feines, künst¬ lerisches Gefühl besitzen. Wir sehen ganz davon ab, daß jede lebensvolle Cultusform die Reihe der Künste herangezogen und durch eine Fülle von Auf¬ gaben beschäftigt hat, obwol auch dieses unsern Ausspruch bestätigt, wir sehen rein auf den Verlauf der Gottesdienstordnung, ohne an eine der sieben Freien zu denken. Da ergibt sich denn: der Gottesdienst, weil er durchaus in Form¬ thätigkeit verläuft, ist damit auch an die Gesetze aller Form d. h. an die Schönheit gewiesen. Die Wirkung der Religion an sich hängt ab von ihrer Wahrheit (vom Dogma wäre geschichtlich richtiger gesagt), die Wirkung des Cultus an sich von der Schönheit; in jedem gottesdienstlichen Acte aber müssen sich beide Elemente innig durchdringen. Monotonie, unverständliche Alter- thümelei, haarsträubende Prosodie der Gesänge, nüchterner Formeldienst sind der Tod des Cultus; diese Kostbarkeiten alle würden wir aber wiedergewinnen, wenn einmal die „rein lutherische Gottesdienstordnung" ins Leben treten sollte. Man möchte ja lieber in die Wüste lausen, als in eine solche Versammlung. Das falsche, süßliche Aesthetisiren in verzückten Predigten und schwimmender

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/421>, abgerufen am 17.06.2024.