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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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in seiner alten Fülle und Unbefangenheit, bis seine innere Triebkraft völlig
erstickt war. In der römischen Kaiserzeit freilich hatte auch das Heidenthum
seine Religionsphilosophie, aber da war seine wirkliche Existenz bereits vor¬
über, und die Hofphilosophen des Kaiser Julian standen der Religion, die sie
speculativ zu begründen suchten, nicht anders gegenüber, als in unsrer Zeit
Schlegel und seine Anhänger dem Katholicismus.

Eine ganz andere Erscheinung zeigt uns das Christenthum. Kaum tritt
es ins Leben, so fängt es schon an, über sich selbst zu reflectiren; es sucht
seine einzelnen Legenden und Dogmen in einen innern Zusammenhang zu
bringen und sie zunächst freilich vor der Phantasie, dann aber auch vor dem
Verstände zu rechtfertigen. In der Bibel selbst sind diese Versuche freilich noch
sehr gering, wenn man etwa das Evangelium Johannis ausnimmt,; aber schon
im zweiten Jahrhundert überwiegt in den Kirchenvätern die Speculation, sie
gewinnt von Jahrhundert zu Jahrhundert einen größern Umfang und krystalli-
sirt sich, nachdem sie die Formen des Aristoteles zu ihrem Dienste ausgebeutet,
zu jenem System der Scholastik, welches trotz seiner nebelhaften Färbung
uns in Dante und ähnlichen Dichtern mit so eigenthümlichem Reiz ent¬
gegentritt.

Der Grund dieser Erscheinung liegt einfach darin, daß das Christenthum
eine historische Religion war, welche sich in einer Zeit der Völker bemächtigte,
wo diese schon eine reiche Philosophie aus sich- heraus entwickelt hatten. So
lange sich die neue Lehre innerhalb der Grenzen deS Judenthums bewegte,
konnte sie nicht philosophiren, denn die Juden waren kein spekulatives Volk;
aber der Grieche und Römer, der sich bekehrte, auch wenn er in der Theorie
damit begann, seine Vernunft zu Ehren des Glaubens in den Staub zu treten,
mußte sich doch bemühen, in der Art der Deduction, an die er bisher gewöhnt
war, seiner Vernunft nachzuweisen, daß sie es verdiene, in den Staub getreten
zu werden. Man entdeckte eine höhere Vernunft, die mit der neuen frohen
Botschaft vollkommen übereinstimmen müsse, da nur i>le endliche irdische Ver¬
nunft sich dagegen sträube. Aber man konnte für dieses neue Vermögen keine
andere Denkform entdecken, als die bisherige, deren sich der gemeine Verstand
bedient. Da alle diese Spekulationen von vvrnhein an die Vorstellungen des
Christenthums geknüpft waren, so kann man wol die gesammte Philosophie bis
zum Ende des 1ä. Jahrhunderts als christliche Philosophie bezeichnen.

AnVers wurde die Stellung der Philosophie zur Religion, als das classische
Alterthum wieder' entdeckt war. Zwar machte auch seitdem noch die Philosophie
von Zeit zu Zeit den Versuch, sich wohl oder übel mit der Kirche abzufinden,
sich ihr anzubequemen, oder die stärksten Widersprüche wenigstens zu vertuschen,
aber man-sieht diesem Bestreben an, baß es ganz äußerlich ist. Die Philo¬
sophie, die damals vorzugsweise in Italien blühte, war in ihrem innern Kern


in seiner alten Fülle und Unbefangenheit, bis seine innere Triebkraft völlig
erstickt war. In der römischen Kaiserzeit freilich hatte auch das Heidenthum
seine Religionsphilosophie, aber da war seine wirkliche Existenz bereits vor¬
über, und die Hofphilosophen des Kaiser Julian standen der Religion, die sie
speculativ zu begründen suchten, nicht anders gegenüber, als in unsrer Zeit
Schlegel und seine Anhänger dem Katholicismus.

Eine ganz andere Erscheinung zeigt uns das Christenthum. Kaum tritt
es ins Leben, so fängt es schon an, über sich selbst zu reflectiren; es sucht
seine einzelnen Legenden und Dogmen in einen innern Zusammenhang zu
bringen und sie zunächst freilich vor der Phantasie, dann aber auch vor dem
Verstände zu rechtfertigen. In der Bibel selbst sind diese Versuche freilich noch
sehr gering, wenn man etwa das Evangelium Johannis ausnimmt,; aber schon
im zweiten Jahrhundert überwiegt in den Kirchenvätern die Speculation, sie
gewinnt von Jahrhundert zu Jahrhundert einen größern Umfang und krystalli-
sirt sich, nachdem sie die Formen des Aristoteles zu ihrem Dienste ausgebeutet,
zu jenem System der Scholastik, welches trotz seiner nebelhaften Färbung
uns in Dante und ähnlichen Dichtern mit so eigenthümlichem Reiz ent¬
gegentritt.

Der Grund dieser Erscheinung liegt einfach darin, daß das Christenthum
eine historische Religion war, welche sich in einer Zeit der Völker bemächtigte,
wo diese schon eine reiche Philosophie aus sich- heraus entwickelt hatten. So
lange sich die neue Lehre innerhalb der Grenzen deS Judenthums bewegte,
konnte sie nicht philosophiren, denn die Juden waren kein spekulatives Volk;
aber der Grieche und Römer, der sich bekehrte, auch wenn er in der Theorie
damit begann, seine Vernunft zu Ehren des Glaubens in den Staub zu treten,
mußte sich doch bemühen, in der Art der Deduction, an die er bisher gewöhnt
war, seiner Vernunft nachzuweisen, daß sie es verdiene, in den Staub getreten
zu werden. Man entdeckte eine höhere Vernunft, die mit der neuen frohen
Botschaft vollkommen übereinstimmen müsse, da nur i>le endliche irdische Ver¬
nunft sich dagegen sträube. Aber man konnte für dieses neue Vermögen keine
andere Denkform entdecken, als die bisherige, deren sich der gemeine Verstand
bedient. Da alle diese Spekulationen von vvrnhein an die Vorstellungen des
Christenthums geknüpft waren, so kann man wol die gesammte Philosophie bis
zum Ende des 1ä. Jahrhunderts als christliche Philosophie bezeichnen.

AnVers wurde die Stellung der Philosophie zur Religion, als das classische
Alterthum wieder' entdeckt war. Zwar machte auch seitdem noch die Philosophie
von Zeit zu Zeit den Versuch, sich wohl oder übel mit der Kirche abzufinden,
sich ihr anzubequemen, oder die stärksten Widersprüche wenigstens zu vertuschen,
aber man-sieht diesem Bestreben an, baß es ganz äußerlich ist. Die Philo¬
sophie, die damals vorzugsweise in Italien blühte, war in ihrem innern Kern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/440>, abgerufen am 13.05.2024.