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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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durchaus heidnisch, wie die Denkart, aus der sie hervorgegangen war. Ein
nüchterner gebildeter Beobachter jener Zeit hätte sehr leicht zu dem Irrthum
verleitet werden können, daS Christenthum werde der Philosophie auf eine ähn¬
liche Weise erliegen, wie ihr das Heidenthum erlegen war.

Aber die Reformation gab der Sache eine' neue Wendung. Mit der sitt¬
lichen Begeisterung deS Glaubens lehnte sie sich gegen das naturalistische
Princip der neuen Philosophie, gegen die Verweltlichung der Kirche auf. Sie
entsagte der eigentlichen Speculation, rettete, was von dem bisherigen Kirchen¬
glauben zu retten war, und behandelte diesen Rest, den sie in der Bibel zu¬
sammenfand, theils philologisch, theils erbaulich. Wenn die alte Kirche diesem
neuen mächtigen Geist widerstehen wollte, so mußte sie sich der Waffen ihres
Gegners bedienen. Sie entsagte also gleichfalls ihrer bisherigen heidnischen
Philosophie, bildete in den Schulen der Jesuiten und Jansenisten eine neue,
antiprotestantische Theologie, die in vieler Beziehung als eine Fortsetzung der
alten Scholastik zu betrachten war, nur daß sie dies Mal mehr die ethische, als
die metaphysische Seite der Religion ins Auge faßte.

Indeß setzte der Humanismus, unbekümmert um den Streit der beiden
Kirchen, sein Werk im Stillen fort, in einer viel größern Freikeit als früher,
wo er sich noch immer auf die Formen der Kirche wenigstens indirect beziehen
mußte, und kam endlich in der deistischen Philosophie der Engländer und Fran¬
zosen zum Ausbruch. Einerlei, ob realistisch oder idealistisch, die ganze da¬
malige Philosophie war gegen das Christenthum gerichtet und verfuhr nur in
den seltensten Fällen so schonend, es überhaupt zu ignoriren. Meistentheils
überhäufte sie es mit bitterm Spott.

In den großen Erschütterungen, die zu Ende des vorigen Jahrhunderts
ausbrachen, mußte man sehr schmerzlich die Unseligkeit eines Daseins empfin¬
den, das seinen Mittelpunkt verloren hatte, und die Philosophie, die immer
von den herrschenden Stimmungen der Zeit geleitet wird, mußte als ihre Auf¬
gabe erkennen, den verlorenen Glauben wieder aufzusuchen. Zuerst begnügte
man sich mit dem sittlichen Inhalt des Christenthums, und in dieser Beziehung
hat Kant das Bewundernswürdigste geleistet, dann aber kam man zu der Ent¬
deckung, daß die gesammte christliche Dogmatik sich in Begriffe übersetzen lasse,
und indem man diese Begriffe in ein System brachte, schien das höchste Ziel
der christlichen Philosophie erreicht. Dieser Proceß konnte nur so vor sich
gehe", daß man den Inhalt der frühern christlichen Philosophie für den In¬
halt der christlichen Religion nahm. Das System der christlichen Philosophie
ist nicht blos sehr geschickt ausgearbeitet worden, sondern zum Theil auch mit
einem Vnständniß, daS tief in die Sache eindrang; und wennauch die Kirchen¬
väter in vielen Fällen über das, was Hegel aus ihnen gemacht, in die größte
Verwunderung versetzt sein würden, so wären sie doch auch stutzig gemacht


Greiijboteu. IV. 5-j

durchaus heidnisch, wie die Denkart, aus der sie hervorgegangen war. Ein
nüchterner gebildeter Beobachter jener Zeit hätte sehr leicht zu dem Irrthum
verleitet werden können, daS Christenthum werde der Philosophie auf eine ähn¬
liche Weise erliegen, wie ihr das Heidenthum erlegen war.

Aber die Reformation gab der Sache eine' neue Wendung. Mit der sitt¬
lichen Begeisterung deS Glaubens lehnte sie sich gegen das naturalistische
Princip der neuen Philosophie, gegen die Verweltlichung der Kirche auf. Sie
entsagte der eigentlichen Speculation, rettete, was von dem bisherigen Kirchen¬
glauben zu retten war, und behandelte diesen Rest, den sie in der Bibel zu¬
sammenfand, theils philologisch, theils erbaulich. Wenn die alte Kirche diesem
neuen mächtigen Geist widerstehen wollte, so mußte sie sich der Waffen ihres
Gegners bedienen. Sie entsagte also gleichfalls ihrer bisherigen heidnischen
Philosophie, bildete in den Schulen der Jesuiten und Jansenisten eine neue,
antiprotestantische Theologie, die in vieler Beziehung als eine Fortsetzung der
alten Scholastik zu betrachten war, nur daß sie dies Mal mehr die ethische, als
die metaphysische Seite der Religion ins Auge faßte.

Indeß setzte der Humanismus, unbekümmert um den Streit der beiden
Kirchen, sein Werk im Stillen fort, in einer viel größern Freikeit als früher,
wo er sich noch immer auf die Formen der Kirche wenigstens indirect beziehen
mußte, und kam endlich in der deistischen Philosophie der Engländer und Fran¬
zosen zum Ausbruch. Einerlei, ob realistisch oder idealistisch, die ganze da¬
malige Philosophie war gegen das Christenthum gerichtet und verfuhr nur in
den seltensten Fällen so schonend, es überhaupt zu ignoriren. Meistentheils
überhäufte sie es mit bitterm Spott.

In den großen Erschütterungen, die zu Ende des vorigen Jahrhunderts
ausbrachen, mußte man sehr schmerzlich die Unseligkeit eines Daseins empfin¬
den, das seinen Mittelpunkt verloren hatte, und die Philosophie, die immer
von den herrschenden Stimmungen der Zeit geleitet wird, mußte als ihre Auf¬
gabe erkennen, den verlorenen Glauben wieder aufzusuchen. Zuerst begnügte
man sich mit dem sittlichen Inhalt des Christenthums, und in dieser Beziehung
hat Kant das Bewundernswürdigste geleistet, dann aber kam man zu der Ent¬
deckung, daß die gesammte christliche Dogmatik sich in Begriffe übersetzen lasse,
und indem man diese Begriffe in ein System brachte, schien das höchste Ziel
der christlichen Philosophie erreicht. Dieser Proceß konnte nur so vor sich
gehe», daß man den Inhalt der frühern christlichen Philosophie für den In¬
halt der christlichen Religion nahm. Das System der christlichen Philosophie
ist nicht blos sehr geschickt ausgearbeitet worden, sondern zum Theil auch mit
einem Vnständniß, daS tief in die Sache eindrang; und wennauch die Kirchen¬
väter in vielen Fällen über das, was Hegel aus ihnen gemacht, in die größte
Verwunderung versetzt sein würden, so wären sie doch auch stutzig gemacht


Greiijboteu. IV. 5-j
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[0441] durchaus heidnisch, wie die Denkart, aus der sie hervorgegangen war. Ein nüchterner gebildeter Beobachter jener Zeit hätte sehr leicht zu dem Irrthum verleitet werden können, daS Christenthum werde der Philosophie auf eine ähn¬ liche Weise erliegen, wie ihr das Heidenthum erlegen war. Aber die Reformation gab der Sache eine' neue Wendung. Mit der sitt¬ lichen Begeisterung deS Glaubens lehnte sie sich gegen das naturalistische Princip der neuen Philosophie, gegen die Verweltlichung der Kirche auf. Sie entsagte der eigentlichen Speculation, rettete, was von dem bisherigen Kirchen¬ glauben zu retten war, und behandelte diesen Rest, den sie in der Bibel zu¬ sammenfand, theils philologisch, theils erbaulich. Wenn die alte Kirche diesem neuen mächtigen Geist widerstehen wollte, so mußte sie sich der Waffen ihres Gegners bedienen. Sie entsagte also gleichfalls ihrer bisherigen heidnischen Philosophie, bildete in den Schulen der Jesuiten und Jansenisten eine neue, antiprotestantische Theologie, die in vieler Beziehung als eine Fortsetzung der alten Scholastik zu betrachten war, nur daß sie dies Mal mehr die ethische, als die metaphysische Seite der Religion ins Auge faßte. Indeß setzte der Humanismus, unbekümmert um den Streit der beiden Kirchen, sein Werk im Stillen fort, in einer viel größern Freikeit als früher, wo er sich noch immer auf die Formen der Kirche wenigstens indirect beziehen mußte, und kam endlich in der deistischen Philosophie der Engländer und Fran¬ zosen zum Ausbruch. Einerlei, ob realistisch oder idealistisch, die ganze da¬ malige Philosophie war gegen das Christenthum gerichtet und verfuhr nur in den seltensten Fällen so schonend, es überhaupt zu ignoriren. Meistentheils überhäufte sie es mit bitterm Spott. In den großen Erschütterungen, die zu Ende des vorigen Jahrhunderts ausbrachen, mußte man sehr schmerzlich die Unseligkeit eines Daseins empfin¬ den, das seinen Mittelpunkt verloren hatte, und die Philosophie, die immer von den herrschenden Stimmungen der Zeit geleitet wird, mußte als ihre Auf¬ gabe erkennen, den verlorenen Glauben wieder aufzusuchen. Zuerst begnügte man sich mit dem sittlichen Inhalt des Christenthums, und in dieser Beziehung hat Kant das Bewundernswürdigste geleistet, dann aber kam man zu der Ent¬ deckung, daß die gesammte christliche Dogmatik sich in Begriffe übersetzen lasse, und indem man diese Begriffe in ein System brachte, schien das höchste Ziel der christlichen Philosophie erreicht. Dieser Proceß konnte nur so vor sich gehe», daß man den Inhalt der frühern christlichen Philosophie für den In¬ halt der christlichen Religion nahm. Das System der christlichen Philosophie ist nicht blos sehr geschickt ausgearbeitet worden, sondern zum Theil auch mit einem Vnständniß, daS tief in die Sache eindrang; und wennauch die Kirchen¬ väter in vielen Fällen über das, was Hegel aus ihnen gemacht, in die größte Verwunderung versetzt sein würden, so wären sie doch auch stutzig gemacht Greiijboteu. IV. 5-j

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/441>, abgerufen am 28.05.2024.