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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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erschöpflicher Fülle zu, aber seine künstlerische Bildung hat bis jetzt etwas Un¬
reifes und Krankhaftes. Er hat im "Erbförster" versucht, dem harten, peinlichen
und widerwärtigen Schluß dadurch eine andere Wendung zu geben, daß er
den Erbförster das vermeintliche göttliche Recht an sich selbst ausüben läßt.
Ob das eine wirkliche Verbesserung ist, möchten wir bezweifeln. Der Fehler
liegt tiefer, er liegt im Organismus des ganzen Stücks, welches auf ein Lust¬
spiel angelegt sich plötzlich in eine Tragödie verwandelt. Diese Unangemessenheit,
welche das Publicum richtig empfand, hat auf der Bühne den Erfolg deS Stücks
beeinträchtigt, und wir können nicht sagen, mit Unrecht. Aber da das Stück
jetzt der Lectüre offen steht, so wird das gebildete Publicum sich allgemein
überzeugen, daß wir es auch in den Verirrungen mit einer Naturkraft zu thun
haben, wie sie seit den Zeiten Heinrichs v. Kleist nicht wieder dagewesen ist. --




Ein schweizer Dichter.

Dichtungen von Johann Martin Usteri. Herausgegeben von David Heß.
Zweite Auflage. 3 Bde. Leipzig, Hirzel. --

Der Ruhm hat zuweilen seine sonderbaren Launen,>, die aus der Natur
der Sache nicht grade zu erklären sind. Alle Welt kennt Usteri als den Dichter
des kleinen Liedes: "Freut euch des Lebens", von seinen Idyllen und Erzäh¬
lungen ist dagegen in Deutschland wenig bekannt geworden. Für das eine
würde der Grund ebenso schwer aufzufinden sein wie für das andere; jenes
Lied ist recht sehr unbedeutend, während in den Erzählungen ein reicher Stoff
vorhanden ist, der wol die Aufmerksamkeit eines jeden Freundes der Poesie
verdient.

Usteri gehört zu jenen liebenswürdigen Persönlichkeiten, deren Gedächtniß
man in der deutschen Literatur auf jede Weise hegen und pflegen muß, um
nicht dem beliebten Vorurtheil anheimzufallen, daß man krank und verstimmt
sein muß, um Poet zu werden. Er ist 1763 in Zürich geboren und 1827 ge¬
storben. Mit Ausnahme einer Reise durch Deutschland und Frankreich 1783
ist sein Leben fast ganz ohne Ereignisse dahingeflossen. Er lebte in äußerlich
guten Verhältnissen, geachtet und geliebt von aller Welt, zeichnete harmlose
Caricaturen und allerliebste Genrebilder in großer Zahl mit einem Talent,
welches an Chodowietzki erinnert, und trieb nebenbei systematische Studien der
historischen Alterthümer, namentlich aus dem 16. Jahrhundert. Für die gesell¬
schaftliche Entwicklung seiner Vaterstadt war er sehr thätig, und die allgemeine
Künstlergesellschaft der Schweiz, die sich im Jahre 1806 bildete, war hauptsäch¬
lich sein Werk. Bescheiden wie in seinem Leben, war er auch in seinen Dich¬
tungen , er.gab sie lediglich als Gelegenheitsstücke und legte nur Werth auf


erschöpflicher Fülle zu, aber seine künstlerische Bildung hat bis jetzt etwas Un¬
reifes und Krankhaftes. Er hat im „Erbförster" versucht, dem harten, peinlichen
und widerwärtigen Schluß dadurch eine andere Wendung zu geben, daß er
den Erbförster das vermeintliche göttliche Recht an sich selbst ausüben läßt.
Ob das eine wirkliche Verbesserung ist, möchten wir bezweifeln. Der Fehler
liegt tiefer, er liegt im Organismus des ganzen Stücks, welches auf ein Lust¬
spiel angelegt sich plötzlich in eine Tragödie verwandelt. Diese Unangemessenheit,
welche das Publicum richtig empfand, hat auf der Bühne den Erfolg deS Stücks
beeinträchtigt, und wir können nicht sagen, mit Unrecht. Aber da das Stück
jetzt der Lectüre offen steht, so wird das gebildete Publicum sich allgemein
überzeugen, daß wir es auch in den Verirrungen mit einer Naturkraft zu thun
haben, wie sie seit den Zeiten Heinrichs v. Kleist nicht wieder dagewesen ist. —




Ein schweizer Dichter.

Dichtungen von Johann Martin Usteri. Herausgegeben von David Heß.
Zweite Auflage. 3 Bde. Leipzig, Hirzel. —

Der Ruhm hat zuweilen seine sonderbaren Launen,>, die aus der Natur
der Sache nicht grade zu erklären sind. Alle Welt kennt Usteri als den Dichter
des kleinen Liedes: „Freut euch des Lebens", von seinen Idyllen und Erzäh¬
lungen ist dagegen in Deutschland wenig bekannt geworden. Für das eine
würde der Grund ebenso schwer aufzufinden sein wie für das andere; jenes
Lied ist recht sehr unbedeutend, während in den Erzählungen ein reicher Stoff
vorhanden ist, der wol die Aufmerksamkeit eines jeden Freundes der Poesie
verdient.

Usteri gehört zu jenen liebenswürdigen Persönlichkeiten, deren Gedächtniß
man in der deutschen Literatur auf jede Weise hegen und pflegen muß, um
nicht dem beliebten Vorurtheil anheimzufallen, daß man krank und verstimmt
sein muß, um Poet zu werden. Er ist 1763 in Zürich geboren und 1827 ge¬
storben. Mit Ausnahme einer Reise durch Deutschland und Frankreich 1783
ist sein Leben fast ganz ohne Ereignisse dahingeflossen. Er lebte in äußerlich
guten Verhältnissen, geachtet und geliebt von aller Welt, zeichnete harmlose
Caricaturen und allerliebste Genrebilder in großer Zahl mit einem Talent,
welches an Chodowietzki erinnert, und trieb nebenbei systematische Studien der
historischen Alterthümer, namentlich aus dem 16. Jahrhundert. Für die gesell¬
schaftliche Entwicklung seiner Vaterstadt war er sehr thätig, und die allgemeine
Künstlergesellschaft der Schweiz, die sich im Jahre 1806 bildete, war hauptsäch¬
lich sein Werk. Bescheiden wie in seinem Leben, war er auch in seinen Dich¬
tungen , er.gab sie lediglich als Gelegenheitsstücke und legte nur Werth auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/141>, abgerufen am 09.06.2024.