Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ist aus Südfrankreich, dem Vaterlande sovieler Poeten, und war ursprünglich zum
geistlichen Stande bestimmt. Was er weiß, d. h. an Gelernten, stammt aus
einem katholischen Seminar. Er kam nach Paris, wo er viel mit Elend zu
kämpfen hatte, aber er fand auch Freunde, die ihm ein wenig unter die Arme
griffen. Während der ersten Monate, die auf die Februarrevolution folgten,
begab sich der Dichter regelmäßig in die Volksversammlungen. Wenn die Ge¬
müther durch die Discussion zu heftig erregt waren, bestieg Lachambeaudie die
Tribune und trug eine auf die Gelegenheit passende Fabel vor, und eS gelang
ihm, einem neuen David, oft durch seine poetischen Laute den Sturm zu be¬
schwören. Nach den Junitagen, während welcher er sich daheim ruhig bei
Weib und Kind verhielt, wurde er infolge einer Angeberei verhaftet und nach
einer der Festungen gebracht, wohin man die Insurgenten abführte. "Man hat
sich geirrt," sagte er ruhig, "man wird den Irrthum erkennen." Beranger hatte
kaum das Schicksal des geschätzten Dichters erfahren, als er sich sofort für dessen
Befreiung bemühte, welche ihm auch zugestanden wurde. Er begab sich selbst
in das Gefängniß, um Lachambeaudie seine Befreiung persönlich anzukündigen:
"Ich wußte es wol, daß Gott und Sie mich nicht verlassen würden," rief der
Volksdichter zum andern. Am folgenden Tag schrieb er folgende Verse an
Beranger:

Bis zum Jahre konnte Lachambeaudie keinen Verleger für seine von
der Akademie zweimal gekrönten Fabeln finden. Im Jahre 1839 halfen ihm
einige Freunde zur Veröffentlichung eines kleinen Bändchens. Seither hatte
Lachambeaudie viele neue Fabeln hinzugedichtet und viele Jahre hindurch
gab er selbst den Colporteur und den Verkäufer dieser Fabeln ab, welche er
seinen Freunden und den Freunden seiner Freunde ins Haus trug. Er lebte
von dem kargen Erträgniß dieses sonderbaren Handels. Er dichtet unterwegs
und des Abends schreibt er das poetische Resultat seiner Wanderungen nieder.
Nach dem Staatsstreiche mußte der Fabeldichter wie soviele andere in die
Verbannung wandern. Er ging nach Belgien, wo er sein Leben eben auf
keine glänzende Weise fristet. Seine Frau ist kurz nach seiner Verbannung
aus Kummer und Verzweiflung im Irrenhause gestorben. Seine Kinder sind
in Paris untergebracht. Lachambeaudie wird allgemein als ein durchaus ehren-
werther Charakter voll warmen Mitgefühls für alle, die leiden geschildert. Er
trägt, seine Fabeln sehr gut vor und singt mit großem Ausdrucke seine weniger
bedeutenden Lieder, begünstigt durch eine sehr angenehme Stimme. Er producirt
langsam un5 mit großer Sorgfalt auf die Form. Was die Conception betrifft,


23*

ist aus Südfrankreich, dem Vaterlande sovieler Poeten, und war ursprünglich zum
geistlichen Stande bestimmt. Was er weiß, d. h. an Gelernten, stammt aus
einem katholischen Seminar. Er kam nach Paris, wo er viel mit Elend zu
kämpfen hatte, aber er fand auch Freunde, die ihm ein wenig unter die Arme
griffen. Während der ersten Monate, die auf die Februarrevolution folgten,
begab sich der Dichter regelmäßig in die Volksversammlungen. Wenn die Ge¬
müther durch die Discussion zu heftig erregt waren, bestieg Lachambeaudie die
Tribune und trug eine auf die Gelegenheit passende Fabel vor, und eS gelang
ihm, einem neuen David, oft durch seine poetischen Laute den Sturm zu be¬
schwören. Nach den Junitagen, während welcher er sich daheim ruhig bei
Weib und Kind verhielt, wurde er infolge einer Angeberei verhaftet und nach
einer der Festungen gebracht, wohin man die Insurgenten abführte. „Man hat
sich geirrt," sagte er ruhig, „man wird den Irrthum erkennen." Beranger hatte
kaum das Schicksal des geschätzten Dichters erfahren, als er sich sofort für dessen
Befreiung bemühte, welche ihm auch zugestanden wurde. Er begab sich selbst
in das Gefängniß, um Lachambeaudie seine Befreiung persönlich anzukündigen:
„Ich wußte es wol, daß Gott und Sie mich nicht verlassen würden," rief der
Volksdichter zum andern. Am folgenden Tag schrieb er folgende Verse an
Beranger:

Bis zum Jahre konnte Lachambeaudie keinen Verleger für seine von
der Akademie zweimal gekrönten Fabeln finden. Im Jahre 1839 halfen ihm
einige Freunde zur Veröffentlichung eines kleinen Bändchens. Seither hatte
Lachambeaudie viele neue Fabeln hinzugedichtet und viele Jahre hindurch
gab er selbst den Colporteur und den Verkäufer dieser Fabeln ab, welche er
seinen Freunden und den Freunden seiner Freunde ins Haus trug. Er lebte
von dem kargen Erträgniß dieses sonderbaren Handels. Er dichtet unterwegs
und des Abends schreibt er das poetische Resultat seiner Wanderungen nieder.
Nach dem Staatsstreiche mußte der Fabeldichter wie soviele andere in die
Verbannung wandern. Er ging nach Belgien, wo er sein Leben eben auf
keine glänzende Weise fristet. Seine Frau ist kurz nach seiner Verbannung
aus Kummer und Verzweiflung im Irrenhause gestorben. Seine Kinder sind
in Paris untergebracht. Lachambeaudie wird allgemein als ein durchaus ehren-
werther Charakter voll warmen Mitgefühls für alle, die leiden geschildert. Er
trägt, seine Fabeln sehr gut vor und singt mit großem Ausdrucke seine weniger
bedeutenden Lieder, begünstigt durch eine sehr angenehme Stimme. Er producirt
langsam un5 mit großer Sorgfalt auf die Form. Was die Conception betrifft,


23*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0203" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99055"/>
          <p xml:id="ID_685" prev="#ID_684"> ist aus Südfrankreich, dem Vaterlande sovieler Poeten, und war ursprünglich zum<lb/>
geistlichen Stande bestimmt. Was er weiß, d. h. an Gelernten, stammt aus<lb/>
einem katholischen Seminar. Er kam nach Paris, wo er viel mit Elend zu<lb/>
kämpfen hatte, aber er fand auch Freunde, die ihm ein wenig unter die Arme<lb/>
griffen. Während der ersten Monate, die auf die Februarrevolution folgten,<lb/>
begab sich der Dichter regelmäßig in die Volksversammlungen. Wenn die Ge¬<lb/>
müther durch die Discussion zu heftig erregt waren, bestieg Lachambeaudie die<lb/>
Tribune und trug eine auf die Gelegenheit passende Fabel vor, und eS gelang<lb/>
ihm, einem neuen David, oft durch seine poetischen Laute den Sturm zu be¬<lb/>
schwören. Nach den Junitagen, während welcher er sich daheim ruhig bei<lb/>
Weib und Kind verhielt, wurde er infolge einer Angeberei verhaftet und nach<lb/>
einer der Festungen gebracht, wohin man die Insurgenten abführte. &#x201E;Man hat<lb/>
sich geirrt," sagte er ruhig, &#x201E;man wird den Irrthum erkennen." Beranger hatte<lb/>
kaum das Schicksal des geschätzten Dichters erfahren, als er sich sofort für dessen<lb/>
Befreiung bemühte, welche ihm auch zugestanden wurde. Er begab sich selbst<lb/>
in das Gefängniß, um Lachambeaudie seine Befreiung persönlich anzukündigen:<lb/>
&#x201E;Ich wußte es wol, daß Gott und Sie mich nicht verlassen würden," rief der<lb/>
Volksdichter zum andern. Am folgenden Tag schrieb er folgende Verse an<lb/>
Beranger:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_20" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_686" next="#ID_687"> Bis zum Jahre konnte Lachambeaudie keinen Verleger für seine von<lb/>
der Akademie zweimal gekrönten Fabeln finden. Im Jahre 1839 halfen ihm<lb/>
einige Freunde zur Veröffentlichung eines kleinen Bändchens. Seither hatte<lb/>
Lachambeaudie viele neue Fabeln hinzugedichtet und viele Jahre hindurch<lb/>
gab er selbst den Colporteur und den Verkäufer dieser Fabeln ab, welche er<lb/>
seinen Freunden und den Freunden seiner Freunde ins Haus trug. Er lebte<lb/>
von dem kargen Erträgniß dieses sonderbaren Handels. Er dichtet unterwegs<lb/>
und des Abends schreibt er das poetische Resultat seiner Wanderungen nieder.<lb/>
Nach dem Staatsstreiche mußte der Fabeldichter wie soviele andere in die<lb/>
Verbannung wandern. Er ging nach Belgien, wo er sein Leben eben auf<lb/>
keine glänzende Weise fristet. Seine Frau ist kurz nach seiner Verbannung<lb/>
aus Kummer und Verzweiflung im Irrenhause gestorben. Seine Kinder sind<lb/>
in Paris untergebracht. Lachambeaudie wird allgemein als ein durchaus ehren-<lb/>
werther Charakter voll warmen Mitgefühls für alle, die leiden geschildert. Er<lb/>
trägt, seine Fabeln sehr gut vor und singt mit großem Ausdrucke seine weniger<lb/>
bedeutenden Lieder, begünstigt durch eine sehr angenehme Stimme. Er producirt<lb/>
langsam un5 mit großer Sorgfalt auf die Form. Was die Conception betrifft,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 23*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0203] ist aus Südfrankreich, dem Vaterlande sovieler Poeten, und war ursprünglich zum geistlichen Stande bestimmt. Was er weiß, d. h. an Gelernten, stammt aus einem katholischen Seminar. Er kam nach Paris, wo er viel mit Elend zu kämpfen hatte, aber er fand auch Freunde, die ihm ein wenig unter die Arme griffen. Während der ersten Monate, die auf die Februarrevolution folgten, begab sich der Dichter regelmäßig in die Volksversammlungen. Wenn die Ge¬ müther durch die Discussion zu heftig erregt waren, bestieg Lachambeaudie die Tribune und trug eine auf die Gelegenheit passende Fabel vor, und eS gelang ihm, einem neuen David, oft durch seine poetischen Laute den Sturm zu be¬ schwören. Nach den Junitagen, während welcher er sich daheim ruhig bei Weib und Kind verhielt, wurde er infolge einer Angeberei verhaftet und nach einer der Festungen gebracht, wohin man die Insurgenten abführte. „Man hat sich geirrt," sagte er ruhig, „man wird den Irrthum erkennen." Beranger hatte kaum das Schicksal des geschätzten Dichters erfahren, als er sich sofort für dessen Befreiung bemühte, welche ihm auch zugestanden wurde. Er begab sich selbst in das Gefängniß, um Lachambeaudie seine Befreiung persönlich anzukündigen: „Ich wußte es wol, daß Gott und Sie mich nicht verlassen würden," rief der Volksdichter zum andern. Am folgenden Tag schrieb er folgende Verse an Beranger: Bis zum Jahre konnte Lachambeaudie keinen Verleger für seine von der Akademie zweimal gekrönten Fabeln finden. Im Jahre 1839 halfen ihm einige Freunde zur Veröffentlichung eines kleinen Bändchens. Seither hatte Lachambeaudie viele neue Fabeln hinzugedichtet und viele Jahre hindurch gab er selbst den Colporteur und den Verkäufer dieser Fabeln ab, welche er seinen Freunden und den Freunden seiner Freunde ins Haus trug. Er lebte von dem kargen Erträgniß dieses sonderbaren Handels. Er dichtet unterwegs und des Abends schreibt er das poetische Resultat seiner Wanderungen nieder. Nach dem Staatsstreiche mußte der Fabeldichter wie soviele andere in die Verbannung wandern. Er ging nach Belgien, wo er sein Leben eben auf keine glänzende Weise fristet. Seine Frau ist kurz nach seiner Verbannung aus Kummer und Verzweiflung im Irrenhause gestorben. Seine Kinder sind in Paris untergebracht. Lachambeaudie wird allgemein als ein durchaus ehren- werther Charakter voll warmen Mitgefühls für alle, die leiden geschildert. Er trägt, seine Fabeln sehr gut vor und singt mit großem Ausdrucke seine weniger bedeutenden Lieder, begünstigt durch eine sehr angenehme Stimme. Er producirt langsam un5 mit großer Sorgfalt auf die Form. Was die Conception betrifft, 23*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/203
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/203>, abgerufen am 27.05.2024.