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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Die Offensivkraft des Staates, welcher heute über eine Million Krieger ver¬
fügt und in zwei Jahrzehnten deren füglich zwei Millionen besitzen kann, muß
ins Ungeheure sich steigern, wenn alle Ursachen in Wegfall kommen, welche
deren freie Entwicklung gegenwärtig noch beengen und verhindern. ES ist
nicht anders denkbar, als daß Nußland dann keine Macht sich gegenüber fin¬
den wird, welche im Stande wäre, den wuchtigen Anprall seiner Massen zu
pariren.

Wie unbestreitbar es auch sein mag, daß die russischen Staatslenker besser
daran gethan haben würden, wenn sie ihr Attentat aus den Orient bis zu der
Zeit verschoben hätten, wo das Zarthum mittels der neuzuschaffenden Be¬
wegungslinien seine Kräfte in so gesteigerter Weise wird gebrauchen können,
-- ebenso gewiß erscheint es, daß die vier Garantiepunkte, welche Auslegung
ihnen auch gegeben werden mag, ganz unzureichend sein werden, um die Er¬
starrung Rußlands auf dem in Rede stehenden Wege zu hindern. Mag man
immerhin den Zaren, von der Donau abdrängen und an deren Mündung
Oestreichs Einfluß zum dominirenden machen: Nußland wird dessenungeachtet
den Schwerpunkt seiner Macht um das zehnfache der türkischen Grenze näher
gerückt wissen, wenn die jetzt in Angriff genommene Eisenbahn von Moskau
nach Odessa vollendet sein wird.

Ich kann nicht begreifen, daß diese Art die Dinge anzuschauen nicht
eine allgemeinere geworden ist, und namentlich daß sie im Parlament wie in
der Presse Englands seither nicht Eingang gefunden hat. Das Licht, welches
sie auf die unsrer harrende Zukunft wirft, mag ein grelles und für unsre Augen
schmerzhafte Eindrücke verursachendes sein, aber ohne Frage ist es das wahre
Licht. Wenn Kaiser Nikolaus heute einlenkt, so geschieht es zweifelsohne in
der richtigen Würdigung der gegenwärtigen Lage des russischen Reiches, ver¬
glichen mit der, in welcher sich diese Kolossalmacht nach zwanzig Jahren be¬
finden wird.

Der einzige Einwand, der sich mit Bezug auf eine spätere Vertheidigung
der türkischen Länder gegen russische Ancignungsversuche der dargelegten An¬
schauung gegenüber erheben läßt, dürste der sein, daß auch das osmanische
Reich in zwei Decennien sein Eisenbahnsystem vollendet haben und dem russi¬
schen Schienennetz, welches sich um das Jahr -I87ö vom weißen Meer bis
zum kaspischen und zur Donau ausdehnen dürfte, ein anderes, von der Mün¬
dung dieses Stromes bis zu der des Euphrat reichendes entgegenstellen wird.
Aber man wird auf diese allerdings in Aussicht stehende Thatsache keine um¬
fassendere Behauptung als die stützen können, daß dem osmanischen Reich
dadurch ein bedeutender Kraftzuwachs eröffnet werden wird -- unmöglich kann
man daraus herleiten wollen, dieses Reich werde aus diesem Anlaß in dem¬
selben Maße wie Rußland nach außenhin erstarken. Denn zwischen dem Zar-


Die Offensivkraft des Staates, welcher heute über eine Million Krieger ver¬
fügt und in zwei Jahrzehnten deren füglich zwei Millionen besitzen kann, muß
ins Ungeheure sich steigern, wenn alle Ursachen in Wegfall kommen, welche
deren freie Entwicklung gegenwärtig noch beengen und verhindern. ES ist
nicht anders denkbar, als daß Nußland dann keine Macht sich gegenüber fin¬
den wird, welche im Stande wäre, den wuchtigen Anprall seiner Massen zu
pariren.

Wie unbestreitbar es auch sein mag, daß die russischen Staatslenker besser
daran gethan haben würden, wenn sie ihr Attentat aus den Orient bis zu der
Zeit verschoben hätten, wo das Zarthum mittels der neuzuschaffenden Be¬
wegungslinien seine Kräfte in so gesteigerter Weise wird gebrauchen können,
— ebenso gewiß erscheint es, daß die vier Garantiepunkte, welche Auslegung
ihnen auch gegeben werden mag, ganz unzureichend sein werden, um die Er¬
starrung Rußlands auf dem in Rede stehenden Wege zu hindern. Mag man
immerhin den Zaren, von der Donau abdrängen und an deren Mündung
Oestreichs Einfluß zum dominirenden machen: Nußland wird dessenungeachtet
den Schwerpunkt seiner Macht um das zehnfache der türkischen Grenze näher
gerückt wissen, wenn die jetzt in Angriff genommene Eisenbahn von Moskau
nach Odessa vollendet sein wird.

Ich kann nicht begreifen, daß diese Art die Dinge anzuschauen nicht
eine allgemeinere geworden ist, und namentlich daß sie im Parlament wie in
der Presse Englands seither nicht Eingang gefunden hat. Das Licht, welches
sie auf die unsrer harrende Zukunft wirft, mag ein grelles und für unsre Augen
schmerzhafte Eindrücke verursachendes sein, aber ohne Frage ist es das wahre
Licht. Wenn Kaiser Nikolaus heute einlenkt, so geschieht es zweifelsohne in
der richtigen Würdigung der gegenwärtigen Lage des russischen Reiches, ver¬
glichen mit der, in welcher sich diese Kolossalmacht nach zwanzig Jahren be¬
finden wird.

Der einzige Einwand, der sich mit Bezug auf eine spätere Vertheidigung
der türkischen Länder gegen russische Ancignungsversuche der dargelegten An¬
schauung gegenüber erheben läßt, dürste der sein, daß auch das osmanische
Reich in zwei Decennien sein Eisenbahnsystem vollendet haben und dem russi¬
schen Schienennetz, welches sich um das Jahr -I87ö vom weißen Meer bis
zum kaspischen und zur Donau ausdehnen dürfte, ein anderes, von der Mün¬
dung dieses Stromes bis zu der des Euphrat reichendes entgegenstellen wird.
Aber man wird auf diese allerdings in Aussicht stehende Thatsache keine um¬
fassendere Behauptung als die stützen können, daß dem osmanischen Reich
dadurch ein bedeutender Kraftzuwachs eröffnet werden wird — unmöglich kann
man daraus herleiten wollen, dieses Reich werde aus diesem Anlaß in dem¬
selben Maße wie Rußland nach außenhin erstarken. Denn zwischen dem Zar-


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[0230] Die Offensivkraft des Staates, welcher heute über eine Million Krieger ver¬ fügt und in zwei Jahrzehnten deren füglich zwei Millionen besitzen kann, muß ins Ungeheure sich steigern, wenn alle Ursachen in Wegfall kommen, welche deren freie Entwicklung gegenwärtig noch beengen und verhindern. ES ist nicht anders denkbar, als daß Nußland dann keine Macht sich gegenüber fin¬ den wird, welche im Stande wäre, den wuchtigen Anprall seiner Massen zu pariren. Wie unbestreitbar es auch sein mag, daß die russischen Staatslenker besser daran gethan haben würden, wenn sie ihr Attentat aus den Orient bis zu der Zeit verschoben hätten, wo das Zarthum mittels der neuzuschaffenden Be¬ wegungslinien seine Kräfte in so gesteigerter Weise wird gebrauchen können, — ebenso gewiß erscheint es, daß die vier Garantiepunkte, welche Auslegung ihnen auch gegeben werden mag, ganz unzureichend sein werden, um die Er¬ starrung Rußlands auf dem in Rede stehenden Wege zu hindern. Mag man immerhin den Zaren, von der Donau abdrängen und an deren Mündung Oestreichs Einfluß zum dominirenden machen: Nußland wird dessenungeachtet den Schwerpunkt seiner Macht um das zehnfache der türkischen Grenze näher gerückt wissen, wenn die jetzt in Angriff genommene Eisenbahn von Moskau nach Odessa vollendet sein wird. Ich kann nicht begreifen, daß diese Art die Dinge anzuschauen nicht eine allgemeinere geworden ist, und namentlich daß sie im Parlament wie in der Presse Englands seither nicht Eingang gefunden hat. Das Licht, welches sie auf die unsrer harrende Zukunft wirft, mag ein grelles und für unsre Augen schmerzhafte Eindrücke verursachendes sein, aber ohne Frage ist es das wahre Licht. Wenn Kaiser Nikolaus heute einlenkt, so geschieht es zweifelsohne in der richtigen Würdigung der gegenwärtigen Lage des russischen Reiches, ver¬ glichen mit der, in welcher sich diese Kolossalmacht nach zwanzig Jahren be¬ finden wird. Der einzige Einwand, der sich mit Bezug auf eine spätere Vertheidigung der türkischen Länder gegen russische Ancignungsversuche der dargelegten An¬ schauung gegenüber erheben läßt, dürste der sein, daß auch das osmanische Reich in zwei Decennien sein Eisenbahnsystem vollendet haben und dem russi¬ schen Schienennetz, welches sich um das Jahr -I87ö vom weißen Meer bis zum kaspischen und zur Donau ausdehnen dürfte, ein anderes, von der Mün¬ dung dieses Stromes bis zu der des Euphrat reichendes entgegenstellen wird. Aber man wird auf diese allerdings in Aussicht stehende Thatsache keine um¬ fassendere Behauptung als die stützen können, daß dem osmanischen Reich dadurch ein bedeutender Kraftzuwachs eröffnet werden wird — unmöglich kann man daraus herleiten wollen, dieses Reich werde aus diesem Anlaß in dem¬ selben Maße wie Rußland nach außenhin erstarken. Denn zwischen dem Zar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/230>, abgerufen am 17.06.2024.