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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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bewegungen in allen Theilen seines Reiches vorzunehmen und Corps, mit ihrer
gesammten Artillerie und dem vollständigsten Kriegsmaterial, je nach Umständen
in dieser oder jener Richtung vor- oder zurückzuschieben -- aber er muß es sich
gefallen lassen, daß die Märsche, welche im Sommer bis auf fünf Meilen pro
Tag ausgedehnt werden, im Winter auf zwei und eine halbe Meile sich ver¬
kürzen, während die Eisenbahnen seinem Gegner, dem Kaiser Napoleon, gestat¬
ten, innerhalb der französischen Grenzen bedeutende Truppenmassen binnen
vierundzwanzig Stunden hundert Lieus und weiter zu transportiren; und
Preußen wie Oestreich dieselbe Möglichkeit für sich haben.

Der Moment wird daher einen bedeutenden Umschwung in den Macht¬
verhältnissen unsres Welttheils bezeichnen, wo die Hauptlinien des russischen
Eisenbahnsystems, dessen Entwurf in den seitherigen Maßregeln des Peters¬
burger Cabinets klar ausgesprochen ist, vollendet und zur militärischen Benutzung
bereit sein werden. Mehr wie jemals zuvor wird dann wieder Moskau der Punkt
sein, von wo aus das Zarthum über die Kräfte des weitgespannten Reiches
disponiren, mehr noch, wo es dieselben, wie mit einem Griff umspannend, in
der Hand halten wird. Die Bahnen, welche von dort auslaufend ihre End¬
punkte in Odessa, Asow, Astrachan, Kasan, in Warschau, Riga und Petersburg
haben werden"), sind ebensoviele innere Operationslinien für die russischen Streit¬
kräfte, mittels welcher dieselben nicht nur massenweise und mit einer nie gekann¬
ten Leichtigkeit, sondern zugleich mit einer Geschwindigkeit, welche die gegen¬
wärtige um das funfzigfache überbieten dürfte, nach den entferntesten Gleit¬
punkten transportirt werden können.

Wie jedermann weiß machen Masse und Geschwindigkeit die beiden Haupt¬
factoren aus, von denen die Gewalt des mechanischen Stoßes abhängig ist.
Dieses Gesetz der Dynamik läßt sich von dort her auf die Verhältnisse der in¬
ternationalen Politik übertragen; im besonderen auf die des Krieges. Rußland
wird im Stande sein, einen unvergleichlich stärkeren Stoß gegen den Westen
zu führen, wenn, im Verhältniß zu der Schnelligkeit seiner gegenwärtigen
Hceresbcwegungen, seine Armeen sich mit der funszigfachen Geschwindigkeit nach
vorwärts schieben lassen.

Es ist ein für unsre Tage noch durchaus berechtigtes Wort, wenn hier
un'd dort die Aeußerung fällt: der Westen habe Rußland wenig zu fürchten,
indem dieser gewaltige Staat eine nur geringe Offensivkraft besitze. Dieselbe
verliert sich allerdings heute noch in den weiten Räumen des Reichs und zwar
machen dieselben namentlich eine gleichzeitige und concentrirte Machtverwendung
des Zarats unmöglich. Nach Vollendung der Hauptsträuge des gro¬
ßen russischen Eisenbahnsystems wird indeß das alles anders sein.



*) Letztere Bahn ist bekanntlich vollendet und seit mehren Jahren schon im Betriebe.

bewegungen in allen Theilen seines Reiches vorzunehmen und Corps, mit ihrer
gesammten Artillerie und dem vollständigsten Kriegsmaterial, je nach Umständen
in dieser oder jener Richtung vor- oder zurückzuschieben — aber er muß es sich
gefallen lassen, daß die Märsche, welche im Sommer bis auf fünf Meilen pro
Tag ausgedehnt werden, im Winter auf zwei und eine halbe Meile sich ver¬
kürzen, während die Eisenbahnen seinem Gegner, dem Kaiser Napoleon, gestat¬
ten, innerhalb der französischen Grenzen bedeutende Truppenmassen binnen
vierundzwanzig Stunden hundert Lieus und weiter zu transportiren; und
Preußen wie Oestreich dieselbe Möglichkeit für sich haben.

Der Moment wird daher einen bedeutenden Umschwung in den Macht¬
verhältnissen unsres Welttheils bezeichnen, wo die Hauptlinien des russischen
Eisenbahnsystems, dessen Entwurf in den seitherigen Maßregeln des Peters¬
burger Cabinets klar ausgesprochen ist, vollendet und zur militärischen Benutzung
bereit sein werden. Mehr wie jemals zuvor wird dann wieder Moskau der Punkt
sein, von wo aus das Zarthum über die Kräfte des weitgespannten Reiches
disponiren, mehr noch, wo es dieselben, wie mit einem Griff umspannend, in
der Hand halten wird. Die Bahnen, welche von dort auslaufend ihre End¬
punkte in Odessa, Asow, Astrachan, Kasan, in Warschau, Riga und Petersburg
haben werden"), sind ebensoviele innere Operationslinien für die russischen Streit¬
kräfte, mittels welcher dieselben nicht nur massenweise und mit einer nie gekann¬
ten Leichtigkeit, sondern zugleich mit einer Geschwindigkeit, welche die gegen¬
wärtige um das funfzigfache überbieten dürfte, nach den entferntesten Gleit¬
punkten transportirt werden können.

Wie jedermann weiß machen Masse und Geschwindigkeit die beiden Haupt¬
factoren aus, von denen die Gewalt des mechanischen Stoßes abhängig ist.
Dieses Gesetz der Dynamik läßt sich von dort her auf die Verhältnisse der in¬
ternationalen Politik übertragen; im besonderen auf die des Krieges. Rußland
wird im Stande sein, einen unvergleichlich stärkeren Stoß gegen den Westen
zu führen, wenn, im Verhältniß zu der Schnelligkeit seiner gegenwärtigen
Hceresbcwegungen, seine Armeen sich mit der funszigfachen Geschwindigkeit nach
vorwärts schieben lassen.

Es ist ein für unsre Tage noch durchaus berechtigtes Wort, wenn hier
un'd dort die Aeußerung fällt: der Westen habe Rußland wenig zu fürchten,
indem dieser gewaltige Staat eine nur geringe Offensivkraft besitze. Dieselbe
verliert sich allerdings heute noch in den weiten Räumen des Reichs und zwar
machen dieselben namentlich eine gleichzeitige und concentrirte Machtverwendung
des Zarats unmöglich. Nach Vollendung der Hauptsträuge des gro¬
ßen russischen Eisenbahnsystems wird indeß das alles anders sein.



*) Letztere Bahn ist bekanntlich vollendet und seit mehren Jahren schon im Betriebe.
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[0229] bewegungen in allen Theilen seines Reiches vorzunehmen und Corps, mit ihrer gesammten Artillerie und dem vollständigsten Kriegsmaterial, je nach Umständen in dieser oder jener Richtung vor- oder zurückzuschieben — aber er muß es sich gefallen lassen, daß die Märsche, welche im Sommer bis auf fünf Meilen pro Tag ausgedehnt werden, im Winter auf zwei und eine halbe Meile sich ver¬ kürzen, während die Eisenbahnen seinem Gegner, dem Kaiser Napoleon, gestat¬ ten, innerhalb der französischen Grenzen bedeutende Truppenmassen binnen vierundzwanzig Stunden hundert Lieus und weiter zu transportiren; und Preußen wie Oestreich dieselbe Möglichkeit für sich haben. Der Moment wird daher einen bedeutenden Umschwung in den Macht¬ verhältnissen unsres Welttheils bezeichnen, wo die Hauptlinien des russischen Eisenbahnsystems, dessen Entwurf in den seitherigen Maßregeln des Peters¬ burger Cabinets klar ausgesprochen ist, vollendet und zur militärischen Benutzung bereit sein werden. Mehr wie jemals zuvor wird dann wieder Moskau der Punkt sein, von wo aus das Zarthum über die Kräfte des weitgespannten Reiches disponiren, mehr noch, wo es dieselben, wie mit einem Griff umspannend, in der Hand halten wird. Die Bahnen, welche von dort auslaufend ihre End¬ punkte in Odessa, Asow, Astrachan, Kasan, in Warschau, Riga und Petersburg haben werden"), sind ebensoviele innere Operationslinien für die russischen Streit¬ kräfte, mittels welcher dieselben nicht nur massenweise und mit einer nie gekann¬ ten Leichtigkeit, sondern zugleich mit einer Geschwindigkeit, welche die gegen¬ wärtige um das funfzigfache überbieten dürfte, nach den entferntesten Gleit¬ punkten transportirt werden können. Wie jedermann weiß machen Masse und Geschwindigkeit die beiden Haupt¬ factoren aus, von denen die Gewalt des mechanischen Stoßes abhängig ist. Dieses Gesetz der Dynamik läßt sich von dort her auf die Verhältnisse der in¬ ternationalen Politik übertragen; im besonderen auf die des Krieges. Rußland wird im Stande sein, einen unvergleichlich stärkeren Stoß gegen den Westen zu führen, wenn, im Verhältniß zu der Schnelligkeit seiner gegenwärtigen Hceresbcwegungen, seine Armeen sich mit der funszigfachen Geschwindigkeit nach vorwärts schieben lassen. Es ist ein für unsre Tage noch durchaus berechtigtes Wort, wenn hier un'd dort die Aeußerung fällt: der Westen habe Rußland wenig zu fürchten, indem dieser gewaltige Staat eine nur geringe Offensivkraft besitze. Dieselbe verliert sich allerdings heute noch in den weiten Räumen des Reichs und zwar machen dieselben namentlich eine gleichzeitige und concentrirte Machtverwendung des Zarats unmöglich. Nach Vollendung der Hauptsträuge des gro¬ ßen russischen Eisenbahnsystems wird indeß das alles anders sein. *) Letztere Bahn ist bekanntlich vollendet und seit mehren Jahren schon im Betriebe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/229>, abgerufen am 17.06.2024.