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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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vielmehr aus den übrigen Werken ergänzen muß, um ein Totalbild von seiner
Auffassung der Geschichte zu gewinnen. .Er nimmt endlich an, daß die Philo¬
sophie der Geschichte nicht blos der Kulminationspunkt, sondern der eigentliche
letzte Zweck' der gesammten Hegelschen Philosophie gewesen ist. -- Wenn wir
ihm in allen diesen Punkten beitreten, so reicht diese Einsicht in den Zusammen¬
hang der Hegelschen Werke doch, keineswegs aus, durch Ineinanderschiebung
der verschiedenen populären Stellen, die sich bei Hegel über diesen Gegenstand
zerstreut vorfinden, ein kunstgerechtes Ganze zu bilden. Wenn auch namentlich
bei den Vorlesungen vieles einzelne nur zufällig die Stelle gefunden hat, die
es jetzt grade einnimmt, so sind doch die Werke im allgemeinen keineswegs
Sammlungen von Fragmenten, die man beliebig voneinander trennen und
nach andern Absichten und Tendenzen wieder zusammenfügen könnte. Sie
haben ein eignes organisches Leben, und die meisten der Stellen verlieren, wenn
man sie aus dem Zusammenhang reißt, ihren Sinn und ihre Bedeutung.
Von dieser Seite würde also das gebildete Publicum, welches Hegel aus dem
vorliegenden Werk kennen lernen wollte, dem großen Philosophen keineswegs
gerecht werden, denn die ganze Schrift macht den Eindruck der Mosaikarbeit,
und das ist keineswegs der Eindruck der wirklichen Schriften Hagels. Auch
die ziemlich zahlreichen erläuternden Bemerkungen, die Herr Thaulow hinzu-
fügt, sind nicht glücklich; sie sind zwar sämmtlich wohlgemeint und enthalten
hin und wieder einen zweckmäßigen Wink für das Verständniß, aber im all¬
gemeinen sind sie fast nur panegyrisch und, was schlimmer ist, trivial. So
etwas kann den Leser nur verstimmen, und Herr Thaulow hätte besser daran
gethan, feine Collectaneen als das zu geben, was sie sind, als Bruchstücke,
jedes mit einer besondern Ueberschrift versehen und dazu bestimmt, für die wirk¬
liche Lectüre Hegels als Fingerzeige zu> diene".

Denn der Plan des Werks an sich ist keineswegs zu mißbilligen. Es ist
sehr zweckmäßig, daß dem größern Publicum, welches Hegels Werke nur von
Hörensagen kennt, eingeschärft wird, wieviele außerordentlich geistreiche, tiefe
und dabei doch klare Gedanken sich bei Hegel vorfinden; der eine oder andre
dürfte doch dadurch angeregt werden, sich dann genauer um die Werke selbst
zu kümmern, und wenn er vorher diejenigen Gedanken aufgefaßt hat, , die im
gewöhnlichen Deutsch ausgesprochen sind, so wird er vielleicht auch den Schlüssel
für die dunkeln und verworrenen finden. Wir unsrerseits wollen diese Gelegen¬
heit dazu benutzen, auf den genetischen Zusammenhang des Hegelschen Systems
hinzuweisen, wobei sich von selbst versteht, daß die Natur einer Zeitschrift ein
ausführlicheres Eingehen auf den Gegenstand ausschließt.

Wir halten es im gegenwärtigen Augenblick für sehr wünschenswert!),
wieder aus die positive Seite der Hegelschen Philosophie hinzuweisen, weil die
Gefahr, mit der unsre Literatur von den Hegelianern bedroht wurde, glücklich


vielmehr aus den übrigen Werken ergänzen muß, um ein Totalbild von seiner
Auffassung der Geschichte zu gewinnen. .Er nimmt endlich an, daß die Philo¬
sophie der Geschichte nicht blos der Kulminationspunkt, sondern der eigentliche
letzte Zweck' der gesammten Hegelschen Philosophie gewesen ist. — Wenn wir
ihm in allen diesen Punkten beitreten, so reicht diese Einsicht in den Zusammen¬
hang der Hegelschen Werke doch, keineswegs aus, durch Ineinanderschiebung
der verschiedenen populären Stellen, die sich bei Hegel über diesen Gegenstand
zerstreut vorfinden, ein kunstgerechtes Ganze zu bilden. Wenn auch namentlich
bei den Vorlesungen vieles einzelne nur zufällig die Stelle gefunden hat, die
es jetzt grade einnimmt, so sind doch die Werke im allgemeinen keineswegs
Sammlungen von Fragmenten, die man beliebig voneinander trennen und
nach andern Absichten und Tendenzen wieder zusammenfügen könnte. Sie
haben ein eignes organisches Leben, und die meisten der Stellen verlieren, wenn
man sie aus dem Zusammenhang reißt, ihren Sinn und ihre Bedeutung.
Von dieser Seite würde also das gebildete Publicum, welches Hegel aus dem
vorliegenden Werk kennen lernen wollte, dem großen Philosophen keineswegs
gerecht werden, denn die ganze Schrift macht den Eindruck der Mosaikarbeit,
und das ist keineswegs der Eindruck der wirklichen Schriften Hagels. Auch
die ziemlich zahlreichen erläuternden Bemerkungen, die Herr Thaulow hinzu-
fügt, sind nicht glücklich; sie sind zwar sämmtlich wohlgemeint und enthalten
hin und wieder einen zweckmäßigen Wink für das Verständniß, aber im all¬
gemeinen sind sie fast nur panegyrisch und, was schlimmer ist, trivial. So
etwas kann den Leser nur verstimmen, und Herr Thaulow hätte besser daran
gethan, feine Collectaneen als das zu geben, was sie sind, als Bruchstücke,
jedes mit einer besondern Ueberschrift versehen und dazu bestimmt, für die wirk¬
liche Lectüre Hegels als Fingerzeige zu> diene».

Denn der Plan des Werks an sich ist keineswegs zu mißbilligen. Es ist
sehr zweckmäßig, daß dem größern Publicum, welches Hegels Werke nur von
Hörensagen kennt, eingeschärft wird, wieviele außerordentlich geistreiche, tiefe
und dabei doch klare Gedanken sich bei Hegel vorfinden; der eine oder andre
dürfte doch dadurch angeregt werden, sich dann genauer um die Werke selbst
zu kümmern, und wenn er vorher diejenigen Gedanken aufgefaßt hat, , die im
gewöhnlichen Deutsch ausgesprochen sind, so wird er vielleicht auch den Schlüssel
für die dunkeln und verworrenen finden. Wir unsrerseits wollen diese Gelegen¬
heit dazu benutzen, auf den genetischen Zusammenhang des Hegelschen Systems
hinzuweisen, wobei sich von selbst versteht, daß die Natur einer Zeitschrift ein
ausführlicheres Eingehen auf den Gegenstand ausschließt.

Wir halten es im gegenwärtigen Augenblick für sehr wünschenswert!),
wieder aus die positive Seite der Hegelschen Philosophie hinzuweisen, weil die
Gefahr, mit der unsre Literatur von den Hegelianern bedroht wurde, glücklich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/250>, abgerufen am 17.06.2024.