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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Röscher macht mit Recht darauf aufmerksam, daß jedes volkswirtschaft¬
liche System durch die allgemeinen Bedürfnisse und Stimmungen der Zeit
hervorgerufen wird. Die Entwicklung der Industrie und tie allgemeine Rich¬
tung auf die Selbstregierung waren die äußern Motive des Systems. Die
heutzutage klar herausgebetenen Folgen der unbedingten freien Concurrenz, der
fortwährend gesteigerten Arbeitstheilung und Maschinenanwendung konnte er
damals noch nicht in Erwägung ziehen. Eine Einseitigkeit dagegen war es,
wenn er sich so sehr in die wirthschaftlichen Elemente und Kräfte versenkte,
daß ihm darüber die sittliche Bestimmung des materiell producirenden Arbeiters,
die ethische Aufgabe des Gemeinwesens und der Werth aller derjenigen Classen
entging, welche nichts zur unmittelbaren materiellen Production beitragen. Er
sah die Gemeinschaft nur als eine Summe von Individuen an, und setzte ihren
alleinigen Zweck in die Förderung der Zwecke der Individuen. Seine An¬
nahme, daß der Privategoismus, wenn er in allen frei walte und wirke,
von selbst in der besten Weise das Gemeinwohl verwirkliche, hat sich nicht
bewährt.

In der Schule Adam Smiths treten vorzugsweise die Engländer Malthus,
Ricardo und Mill und der Franzose Say hervor. Der erste laute Gegner in
Deutschland war Adam Müller in seinen "Elementen der Staatskunst",
1809 :c. Er wirft ihm vor, daß er alle sittlichen. Mächte und Kräfte im Staat
vernichtete, nur eine Oekonomie der Sachen im Auge hätte, nur eine Theorie
des Geldes, des' Privateigentums und Privatnutzens ausstellte, wodurch das
Volk als ein Ganzes vernichtet und der geistige Zusammenhang zwischen den
verschiedenen Generationen aufgehoben werde. Er sehe nur auf die augen¬
blickliche Production durch und für die einzelnen Individuen, nicht aber auf
die Erhaltung der gesammten Production für die Generationen der Zukunft;
er frage nur nach der materiellen Production und nach den materiellen Pro¬
dukten, nicht aber nach den geistigen Producten und Genüssen und noch weniger
nach einer Veredlung der Bedürfnisse eines Volks; er entwickle unvollständig
das Princip der Arbeitstheilung, da er sie aus der natürlichen Anlage des
Menschen zum Tausche ableite, während sie vielmehr durch die von den früheren
Generationen aufgespeicherten Arbeitsproducte, durch das Capital entstehe und
seiner Arbeitstheilungsthevrie fehle das nothwendige Supplement, die Lehre von
der Arbeitsvereinigung. Auch kenne er nur das materielle Capital, nicht aber
das geistige, welches in jeder Nation durch die Sprache erhalten und zum
Gemeingut gemacht wird: das Capital der Nationalweisheit, der Gesinnung
und Erfahrung, welches von jeder Generation der folgenden vermehrt über¬
liefert werde. -- Wenn man Müller in seiner Kritik des bisherigen Systems
in vielen Punkten recht geben muß, so war doch das Positive seiner Lehren
aus das praktische Leben durchaus nicht anwendbar. Eine positive Seite für


Röscher macht mit Recht darauf aufmerksam, daß jedes volkswirtschaft¬
liche System durch die allgemeinen Bedürfnisse und Stimmungen der Zeit
hervorgerufen wird. Die Entwicklung der Industrie und tie allgemeine Rich¬
tung auf die Selbstregierung waren die äußern Motive des Systems. Die
heutzutage klar herausgebetenen Folgen der unbedingten freien Concurrenz, der
fortwährend gesteigerten Arbeitstheilung und Maschinenanwendung konnte er
damals noch nicht in Erwägung ziehen. Eine Einseitigkeit dagegen war es,
wenn er sich so sehr in die wirthschaftlichen Elemente und Kräfte versenkte,
daß ihm darüber die sittliche Bestimmung des materiell producirenden Arbeiters,
die ethische Aufgabe des Gemeinwesens und der Werth aller derjenigen Classen
entging, welche nichts zur unmittelbaren materiellen Production beitragen. Er
sah die Gemeinschaft nur als eine Summe von Individuen an, und setzte ihren
alleinigen Zweck in die Förderung der Zwecke der Individuen. Seine An¬
nahme, daß der Privategoismus, wenn er in allen frei walte und wirke,
von selbst in der besten Weise das Gemeinwohl verwirkliche, hat sich nicht
bewährt.

In der Schule Adam Smiths treten vorzugsweise die Engländer Malthus,
Ricardo und Mill und der Franzose Say hervor. Der erste laute Gegner in
Deutschland war Adam Müller in seinen „Elementen der Staatskunst",
1809 :c. Er wirft ihm vor, daß er alle sittlichen. Mächte und Kräfte im Staat
vernichtete, nur eine Oekonomie der Sachen im Auge hätte, nur eine Theorie
des Geldes, des' Privateigentums und Privatnutzens ausstellte, wodurch das
Volk als ein Ganzes vernichtet und der geistige Zusammenhang zwischen den
verschiedenen Generationen aufgehoben werde. Er sehe nur auf die augen¬
blickliche Production durch und für die einzelnen Individuen, nicht aber auf
die Erhaltung der gesammten Production für die Generationen der Zukunft;
er frage nur nach der materiellen Production und nach den materiellen Pro¬
dukten, nicht aber nach den geistigen Producten und Genüssen und noch weniger
nach einer Veredlung der Bedürfnisse eines Volks; er entwickle unvollständig
das Princip der Arbeitstheilung, da er sie aus der natürlichen Anlage des
Menschen zum Tausche ableite, während sie vielmehr durch die von den früheren
Generationen aufgespeicherten Arbeitsproducte, durch das Capital entstehe und
seiner Arbeitstheilungsthevrie fehle das nothwendige Supplement, die Lehre von
der Arbeitsvereinigung. Auch kenne er nur das materielle Capital, nicht aber
das geistige, welches in jeder Nation durch die Sprache erhalten und zum
Gemeingut gemacht wird: das Capital der Nationalweisheit, der Gesinnung
und Erfahrung, welches von jeder Generation der folgenden vermehrt über¬
liefert werde. — Wenn man Müller in seiner Kritik des bisherigen Systems
in vielen Punkten recht geben muß, so war doch das Positive seiner Lehren
aus das praktische Leben durchaus nicht anwendbar. Eine positive Seite für


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[0463] Röscher macht mit Recht darauf aufmerksam, daß jedes volkswirtschaft¬ liche System durch die allgemeinen Bedürfnisse und Stimmungen der Zeit hervorgerufen wird. Die Entwicklung der Industrie und tie allgemeine Rich¬ tung auf die Selbstregierung waren die äußern Motive des Systems. Die heutzutage klar herausgebetenen Folgen der unbedingten freien Concurrenz, der fortwährend gesteigerten Arbeitstheilung und Maschinenanwendung konnte er damals noch nicht in Erwägung ziehen. Eine Einseitigkeit dagegen war es, wenn er sich so sehr in die wirthschaftlichen Elemente und Kräfte versenkte, daß ihm darüber die sittliche Bestimmung des materiell producirenden Arbeiters, die ethische Aufgabe des Gemeinwesens und der Werth aller derjenigen Classen entging, welche nichts zur unmittelbaren materiellen Production beitragen. Er sah die Gemeinschaft nur als eine Summe von Individuen an, und setzte ihren alleinigen Zweck in die Förderung der Zwecke der Individuen. Seine An¬ nahme, daß der Privategoismus, wenn er in allen frei walte und wirke, von selbst in der besten Weise das Gemeinwohl verwirkliche, hat sich nicht bewährt. In der Schule Adam Smiths treten vorzugsweise die Engländer Malthus, Ricardo und Mill und der Franzose Say hervor. Der erste laute Gegner in Deutschland war Adam Müller in seinen „Elementen der Staatskunst", 1809 :c. Er wirft ihm vor, daß er alle sittlichen. Mächte und Kräfte im Staat vernichtete, nur eine Oekonomie der Sachen im Auge hätte, nur eine Theorie des Geldes, des' Privateigentums und Privatnutzens ausstellte, wodurch das Volk als ein Ganzes vernichtet und der geistige Zusammenhang zwischen den verschiedenen Generationen aufgehoben werde. Er sehe nur auf die augen¬ blickliche Production durch und für die einzelnen Individuen, nicht aber auf die Erhaltung der gesammten Production für die Generationen der Zukunft; er frage nur nach der materiellen Production und nach den materiellen Pro¬ dukten, nicht aber nach den geistigen Producten und Genüssen und noch weniger nach einer Veredlung der Bedürfnisse eines Volks; er entwickle unvollständig das Princip der Arbeitstheilung, da er sie aus der natürlichen Anlage des Menschen zum Tausche ableite, während sie vielmehr durch die von den früheren Generationen aufgespeicherten Arbeitsproducte, durch das Capital entstehe und seiner Arbeitstheilungsthevrie fehle das nothwendige Supplement, die Lehre von der Arbeitsvereinigung. Auch kenne er nur das materielle Capital, nicht aber das geistige, welches in jeder Nation durch die Sprache erhalten und zum Gemeingut gemacht wird: das Capital der Nationalweisheit, der Gesinnung und Erfahrung, welches von jeder Generation der folgenden vermehrt über¬ liefert werde. — Wenn man Müller in seiner Kritik des bisherigen Systems in vielen Punkten recht geben muß, so war doch das Positive seiner Lehren aus das praktische Leben durchaus nicht anwendbar. Eine positive Seite für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/463>, abgerufen am 17.06.2024.