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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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unsres hiesigen Orchesters begründet, und nicht ohne Aufwand von bedeutenden
Mitteln zu beseitigen sind. Es liegr in der Natur der Sache, wenn man in
dieser Hinsicht größeren Kräften gegenüber in Leipzig seine Anforderungen be¬
schränken muß. Allein was durch eine sachkundige und umsichtige Verwendung
der vorhandenen Mittel, durch eifriges und sorgfältiges Einstudiren, verbunden
mit einer geistreichen und künstlerischen Auffassung geleistet werden kann, das
ist erreicht worden. Die Aufführung der Jnstrumentalwerke war durchweg
vortrefflich und gelungen, man konnte sie theilweise den ausgezeichnetesten
Leistungen an die Seite stellen, welche die Glanzzeit unsrer Concerte unter
Mendelssohn hervorgerufen hat, und sie bildeten in der Regel einen erfreu¬
lichen Kunstgenuß. Diese unumwundene Anerkennung soll nicht getrübt wer¬
den durch das Hervorheben einzelner kleiner Unglücksfälle, vor denen die
größten Virtuosen sowenig sicher sind als das best einstudirte Orchester, die, weil
sie jedem bemerkbar werden, dem großen Publicum und gewissen Journalisten
freilich eine willkommene Veranlassung bieten eine kritische Erecution zu veran¬
stalten, in'der That aber keinen Maßstab für die Beurtheilung eines Künst¬
lers oder eines Orchesters geben; sie müßten denn zur Gewohnheit geworden
sein -- und hier kommen sie wahrhaftig selten genug vor. Ebensowenig würde
es angemessen sein, hier über Verschiedenheiten in der Auffassung einzelner
Musikstücke zu rechten, was ohne tiefer eingehende Begründung doch nur auf
ein subjectives Meinen hinauslaufen würde; aber eine dankbare Anerkennung
verdient die durchstehend bemerkbare Mäßigung des Tempo. Es ist einleuch¬
tend, daß Musik bestimmt ist gehört, und durch das Gehör verstanden zu wer¬
den, daß also Deutlichkeit und Klarheit jedes Einzelnen die erste Bedingung alles
Verständnisses ist, daß ferner große Schnelligkeit keineswegs identisch mit Feuer,
sehr oft aber dem Ausdruck der Energie und Kraft ebenso hinderlich ist als der Zart¬
heit und gefühlvollen Empfindung. Die Schnelligkeit der Locomotive ist da
erwünscht, wo man nur von einem Ort zum andern kommen will; um sich in
schöner Gegend zu erfreuen geht man auch heute zu Fuße -- wer will aber
eine Symphonie oder Ouvertüre hören um sobald als möglich am Schluß zu
sein? Es war unverkennbar, wie manche Musikstücke z. B. die Ouvertüre zu Corio-
lan durch das mäßigere Tempo erst den wahren Charakter, das rechte Colorit
erhielten. Es ist wol wahr, daß Beethovensche Compositionen bei der com-
Pacten Masse und schweren Wucht ihres Inhalts bei einem zu raschen Tempo
immer noch eine große Wirkung ausüben, während bei manchen anderen die
Zierlichkeit, heitere Anmuth und saubere Detailausführung durch übertriebene
Schnelligkeit ganz vernichtet wird; allein das, was die Beethovensche Musik vor
allem auszeichnet, die Kraft und Energie, die männliche Würde, geht bei zu
schnellem Tempo unwiederbringlich verloren. Die Tradition der meisten Tempi,
wie man sie in Wien und sonst von Zeitgenossen lernen kann, ist entschieden


Grenzboten. I. 8

unsres hiesigen Orchesters begründet, und nicht ohne Aufwand von bedeutenden
Mitteln zu beseitigen sind. Es liegr in der Natur der Sache, wenn man in
dieser Hinsicht größeren Kräften gegenüber in Leipzig seine Anforderungen be¬
schränken muß. Allein was durch eine sachkundige und umsichtige Verwendung
der vorhandenen Mittel, durch eifriges und sorgfältiges Einstudiren, verbunden
mit einer geistreichen und künstlerischen Auffassung geleistet werden kann, das
ist erreicht worden. Die Aufführung der Jnstrumentalwerke war durchweg
vortrefflich und gelungen, man konnte sie theilweise den ausgezeichnetesten
Leistungen an die Seite stellen, welche die Glanzzeit unsrer Concerte unter
Mendelssohn hervorgerufen hat, und sie bildeten in der Regel einen erfreu¬
lichen Kunstgenuß. Diese unumwundene Anerkennung soll nicht getrübt wer¬
den durch das Hervorheben einzelner kleiner Unglücksfälle, vor denen die
größten Virtuosen sowenig sicher sind als das best einstudirte Orchester, die, weil
sie jedem bemerkbar werden, dem großen Publicum und gewissen Journalisten
freilich eine willkommene Veranlassung bieten eine kritische Erecution zu veran¬
stalten, in'der That aber keinen Maßstab für die Beurtheilung eines Künst¬
lers oder eines Orchesters geben; sie müßten denn zur Gewohnheit geworden
sein — und hier kommen sie wahrhaftig selten genug vor. Ebensowenig würde
es angemessen sein, hier über Verschiedenheiten in der Auffassung einzelner
Musikstücke zu rechten, was ohne tiefer eingehende Begründung doch nur auf
ein subjectives Meinen hinauslaufen würde; aber eine dankbare Anerkennung
verdient die durchstehend bemerkbare Mäßigung des Tempo. Es ist einleuch¬
tend, daß Musik bestimmt ist gehört, und durch das Gehör verstanden zu wer¬
den, daß also Deutlichkeit und Klarheit jedes Einzelnen die erste Bedingung alles
Verständnisses ist, daß ferner große Schnelligkeit keineswegs identisch mit Feuer,
sehr oft aber dem Ausdruck der Energie und Kraft ebenso hinderlich ist als der Zart¬
heit und gefühlvollen Empfindung. Die Schnelligkeit der Locomotive ist da
erwünscht, wo man nur von einem Ort zum andern kommen will; um sich in
schöner Gegend zu erfreuen geht man auch heute zu Fuße — wer will aber
eine Symphonie oder Ouvertüre hören um sobald als möglich am Schluß zu
sein? Es war unverkennbar, wie manche Musikstücke z. B. die Ouvertüre zu Corio-
lan durch das mäßigere Tempo erst den wahren Charakter, das rechte Colorit
erhielten. Es ist wol wahr, daß Beethovensche Compositionen bei der com-
Pacten Masse und schweren Wucht ihres Inhalts bei einem zu raschen Tempo
immer noch eine große Wirkung ausüben, während bei manchen anderen die
Zierlichkeit, heitere Anmuth und saubere Detailausführung durch übertriebene
Schnelligkeit ganz vernichtet wird; allein das, was die Beethovensche Musik vor
allem auszeichnet, die Kraft und Energie, die männliche Würde, geht bei zu
schnellem Tempo unwiederbringlich verloren. Die Tradition der meisten Tempi,
wie man sie in Wien und sonst von Zeitgenossen lernen kann, ist entschieden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/65>, abgerufen am 25.05.2024.