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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Da sie ohne jene scharfen Accente sind, welche Sänger und Publicum wie
mit Fingern auf das hinweisen, waS hervorgehoben werden soll, so ist es durch¬
aus nothwendig, die Grundstimmung eines jeden Tonstücks klar zu erkennen
und völlig nachzuempfinden, um mit vollkommner Sicherheit den leisen
Schwingungen dieser einfachen und schönen Umrißl-mien nachzugehen; der Sän¬
ger muß beständig das Bewußtsein des Zusammenhangs haben, um jedem Ein¬
zelnen sein Recht in der Weise widerfahren zu lassen, daß es beiträgt, das
Ganze als solches wirken zu lassen. Diese Totalität der Empfindung und der
organische Zusammenhang der künstlerischen Gestaltung charakterisirt den großen
Künstler, nicht allein den schaffenden, sondern auch den reproducirenden, und
steht weit über dem Vorzug, einzelne Momente selbst in hinreißender Vortreff-
lichkeit wiederzugeben. Aber von Miß Stabbach galt weder das eine noch
das andere, man kann ihr nur eine erträgliche Mittelmäßigkeit zugestehen und
da ist man wol berechtigt zu fragen, ob es sich verlohnte, eine solche aus
England zu verschreiben, im Grunde doch nur, weil die Direction glaubt, es
gehöre zur Definition eines Leipziger Abonnementeoncerts, daß in jedem zwei
Sopranarien gesungen werden.

Vorübergehende Erscheinungen waren Frau Stradiot - Meute, welche
in einer Arie aus Titus (Höll per ^uest" iLtaMe) und der großen Arie aus Fivelio
durch ein Uebermaß theatralischen Affects, wie es schien, das Deficit von Miß
Stabbach decken wollte, nur daß leider hier eine Compensation nicht wol an¬
wendbar ist; und Fräulein A. Koch, die noch in ihrer Ausbildung begriffen
ist. Es war unrecht, daß man sie mit einer Cavatine von Mendelssohn aus¬
treten ließ, welche der Componist selbst aus guten Gründen zurückgelegt hat,
denn sie ist nicht bedeutend. Am wenigsten eignete sie sich für das Debüt einer
jungen Sängerin, da sie wol durch einen vollendet feinen und beseelten Vortrag
hätte gehoben werden können, doch in keiner Weise eine unerfahrene Sängerin
zu heben und vortheilhaft einzuführen im Stande war.

Von Sängern hörten wir Herrn Elters, einen Baritonisten von recht ange¬
nehmer Stimme und verständig gebildetem Vortrag und Herrn Guglielmi, der
dem guten Eindruck einer schönen Stimme durch Manierirtheit Eintrag that. Au¬
ßerdem sang Herr Schneider die Arie aus Hans Heilina, und mit Herrn Behr
das Duett aus der Entführung. Wir sind bei diesen braven Sängern, welche
ihr wahres und eifriges Interesse für gute Musik bei jeder Gelegenheit bethä¬
tigen, stets verständiger künstlerischer Ausassung und vollkommener Sicherheit
im Vortrag gewiß, welche sie auch dies Mal nicht vermissen ließen, aber die
Musikstücke waren nicht ganz glücklich gewählt. Die Arie aus Hans Helling ist
gewiß nicht die beste Nummer in dieser sonst sehr schätzbaren Oper, sie ,hat
einen weichlich sentimentalen Charakter, dem Herr Schneider eher ausweichen
als ihn aussuchen sollte. Und die prachtvolle Scene aus der Entführung ist


Da sie ohne jene scharfen Accente sind, welche Sänger und Publicum wie
mit Fingern auf das hinweisen, waS hervorgehoben werden soll, so ist es durch¬
aus nothwendig, die Grundstimmung eines jeden Tonstücks klar zu erkennen
und völlig nachzuempfinden, um mit vollkommner Sicherheit den leisen
Schwingungen dieser einfachen und schönen Umrißl-mien nachzugehen; der Sän¬
ger muß beständig das Bewußtsein des Zusammenhangs haben, um jedem Ein¬
zelnen sein Recht in der Weise widerfahren zu lassen, daß es beiträgt, das
Ganze als solches wirken zu lassen. Diese Totalität der Empfindung und der
organische Zusammenhang der künstlerischen Gestaltung charakterisirt den großen
Künstler, nicht allein den schaffenden, sondern auch den reproducirenden, und
steht weit über dem Vorzug, einzelne Momente selbst in hinreißender Vortreff-
lichkeit wiederzugeben. Aber von Miß Stabbach galt weder das eine noch
das andere, man kann ihr nur eine erträgliche Mittelmäßigkeit zugestehen und
da ist man wol berechtigt zu fragen, ob es sich verlohnte, eine solche aus
England zu verschreiben, im Grunde doch nur, weil die Direction glaubt, es
gehöre zur Definition eines Leipziger Abonnementeoncerts, daß in jedem zwei
Sopranarien gesungen werden.

Vorübergehende Erscheinungen waren Frau Stradiot - Meute, welche
in einer Arie aus Titus (Höll per ^uest« iLtaMe) und der großen Arie aus Fivelio
durch ein Uebermaß theatralischen Affects, wie es schien, das Deficit von Miß
Stabbach decken wollte, nur daß leider hier eine Compensation nicht wol an¬
wendbar ist; und Fräulein A. Koch, die noch in ihrer Ausbildung begriffen
ist. Es war unrecht, daß man sie mit einer Cavatine von Mendelssohn aus¬
treten ließ, welche der Componist selbst aus guten Gründen zurückgelegt hat,
denn sie ist nicht bedeutend. Am wenigsten eignete sie sich für das Debüt einer
jungen Sängerin, da sie wol durch einen vollendet feinen und beseelten Vortrag
hätte gehoben werden können, doch in keiner Weise eine unerfahrene Sängerin
zu heben und vortheilhaft einzuführen im Stande war.

Von Sängern hörten wir Herrn Elters, einen Baritonisten von recht ange¬
nehmer Stimme und verständig gebildetem Vortrag und Herrn Guglielmi, der
dem guten Eindruck einer schönen Stimme durch Manierirtheit Eintrag that. Au¬
ßerdem sang Herr Schneider die Arie aus Hans Heilina, und mit Herrn Behr
das Duett aus der Entführung. Wir sind bei diesen braven Sängern, welche
ihr wahres und eifriges Interesse für gute Musik bei jeder Gelegenheit bethä¬
tigen, stets verständiger künstlerischer Ausassung und vollkommener Sicherheit
im Vortrag gewiß, welche sie auch dies Mal nicht vermissen ließen, aber die
Musikstücke waren nicht ganz glücklich gewählt. Die Arie aus Hans Helling ist
gewiß nicht die beste Nummer in dieser sonst sehr schätzbaren Oper, sie ,hat
einen weichlich sentimentalen Charakter, dem Herr Schneider eher ausweichen
als ihn aussuchen sollte. Und die prachtvolle Scene aus der Entführung ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/71>, abgerufen am 17.06.2024.