Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Direktion Sorge tragen sollen, daß treffliche Leistungen des leichteren Genres
nicht die Regel wären, sondern eine reizende Ausnahme.

Daß auch die Solisten unsres Orchesters sich hören lassen, ist in der Ordnung.
Grützmacher ist als ein vielversprechender Violoncellist bei uns bekannt; er
spielte ein Concert von Molique, Concertmeister Drei Schock hatte das Violin¬
concert von Beethoven gewählt; dies macht seinem Geschmack Ehre, aber nicht
seiner Selbstkenntniß, denn er zeigte sich demselben in keiner Hinsicht gewachsen.

Es war allerdings eine falsche Voraussetzung, daß bei Eröffnung der Con¬
certe noch keine Sängerin engagirt sei. Miß Georgine Stabbach aus
London war für die ersten acht Concerte gewonnen. Leider war aber mit dieser
Enttäuschung nicht viel gewonnen. Der Kosmopolitismus der Kunst soll aus
keine Weise in Frage gestellt werden, allein um einem deutschen Publicum zu-
zumuthen, daß es in einer Reihe von Concerten auf die deutsche Sprache ver¬
zichte, sich nicht blos Händelsche, sondern auch Mcndelssohnsche Arien vorsin¬
gen lasse, von englischen Liedern zu schweigen -- dafür wird eine Sängerin
erfordert, die durch Stimme und Gesangskunst so ausgezeichnet ist, daß eben
nicht mehr davon die Rede ist, welcher Nation sie angehöre. Das war nun
mit Miß Stabbach keineswegs der Fall. Das Material ihrer Stimme ist gut,
sie ist in manchen Lagen sogar sehr wohlklingend, allein von dem, was außer¬
dem zur Künstlerin erforderlich ist, fehlt nicht viel weniger als alles. Sie singt
nicht immer rein, hat die Stimme nicht gleichmäßig in ihrer Gewalt und be¬
sitzt gar keine Coloratur; es scheint ihr unmöglich, einen Triller zu machen,
denn selbst an solchen Stellen, wo der Triller nicht allein vorgezeichnet, sondern
nach der ganzen Formation nothwendig ist, ließ sie ihn weg, unbekümmert um
die peinliche Leere, die der Zuhörer empfinden mußte. Dieser Mangel hatte
freilich einen wohlthätigen Einfluß auf das Repertoir der Miß Stabbach, denn
wir blieben von der Flut moderner italienischer Arien gänzlich verschont, und
das ist dankbar anzuerkennen, welches auch immer die Ursache sei. Miß Stab¬
bach sang fünf Arien von Mozart, zwei von Händel, zwei von Mendelssohn,
eine lM perliäo) von Beethoven. Man könnte dagegen vielleicht mit Recht ein¬
wenden, daß es einseitig sei; allein dies wäre zu verschmerzen gewesen, da die
einzelnen Arien vortrefflich waren, -- wären sie nur gesungen, wie man es er¬
warten mußte. Ein empfindlicherer Mangel aber als der einer kunstgerechten
Ausbildung war der Mangel an Empfindung und Verständniß. Miß Stab¬
bach singt nicht allein gemessen, ruhig und kalt, was Folge eines für eine
Künstlerin freilich nicht günstigen Temperaments sein kann, eS fehlt ihr an
musikalischer Auffassung. Sie versteht es nicht, die Stellen hervorzuheben,
auf die es ankommt, weiß nicht Licht und Schatten zu vertheilen, kurz sie em¬
pfindet nicht musikalisch. Die Mozartschen Arien, besonders in ihren langsamen
Sätzen sind ein untrüglicher Prüfstein für das Verständniß eines Sängers.


Direktion Sorge tragen sollen, daß treffliche Leistungen des leichteren Genres
nicht die Regel wären, sondern eine reizende Ausnahme.

Daß auch die Solisten unsres Orchesters sich hören lassen, ist in der Ordnung.
Grützmacher ist als ein vielversprechender Violoncellist bei uns bekannt; er
spielte ein Concert von Molique, Concertmeister Drei Schock hatte das Violin¬
concert von Beethoven gewählt; dies macht seinem Geschmack Ehre, aber nicht
seiner Selbstkenntniß, denn er zeigte sich demselben in keiner Hinsicht gewachsen.

Es war allerdings eine falsche Voraussetzung, daß bei Eröffnung der Con¬
certe noch keine Sängerin engagirt sei. Miß Georgine Stabbach aus
London war für die ersten acht Concerte gewonnen. Leider war aber mit dieser
Enttäuschung nicht viel gewonnen. Der Kosmopolitismus der Kunst soll aus
keine Weise in Frage gestellt werden, allein um einem deutschen Publicum zu-
zumuthen, daß es in einer Reihe von Concerten auf die deutsche Sprache ver¬
zichte, sich nicht blos Händelsche, sondern auch Mcndelssohnsche Arien vorsin¬
gen lasse, von englischen Liedern zu schweigen — dafür wird eine Sängerin
erfordert, die durch Stimme und Gesangskunst so ausgezeichnet ist, daß eben
nicht mehr davon die Rede ist, welcher Nation sie angehöre. Das war nun
mit Miß Stabbach keineswegs der Fall. Das Material ihrer Stimme ist gut,
sie ist in manchen Lagen sogar sehr wohlklingend, allein von dem, was außer¬
dem zur Künstlerin erforderlich ist, fehlt nicht viel weniger als alles. Sie singt
nicht immer rein, hat die Stimme nicht gleichmäßig in ihrer Gewalt und be¬
sitzt gar keine Coloratur; es scheint ihr unmöglich, einen Triller zu machen,
denn selbst an solchen Stellen, wo der Triller nicht allein vorgezeichnet, sondern
nach der ganzen Formation nothwendig ist, ließ sie ihn weg, unbekümmert um
die peinliche Leere, die der Zuhörer empfinden mußte. Dieser Mangel hatte
freilich einen wohlthätigen Einfluß auf das Repertoir der Miß Stabbach, denn
wir blieben von der Flut moderner italienischer Arien gänzlich verschont, und
das ist dankbar anzuerkennen, welches auch immer die Ursache sei. Miß Stab¬
bach sang fünf Arien von Mozart, zwei von Händel, zwei von Mendelssohn,
eine lM perliäo) von Beethoven. Man könnte dagegen vielleicht mit Recht ein¬
wenden, daß es einseitig sei; allein dies wäre zu verschmerzen gewesen, da die
einzelnen Arien vortrefflich waren, — wären sie nur gesungen, wie man es er¬
warten mußte. Ein empfindlicherer Mangel aber als der einer kunstgerechten
Ausbildung war der Mangel an Empfindung und Verständniß. Miß Stab¬
bach singt nicht allein gemessen, ruhig und kalt, was Folge eines für eine
Künstlerin freilich nicht günstigen Temperaments sein kann, eS fehlt ihr an
musikalischer Auffassung. Sie versteht es nicht, die Stellen hervorzuheben,
auf die es ankommt, weiß nicht Licht und Schatten zu vertheilen, kurz sie em¬
pfindet nicht musikalisch. Die Mozartschen Arien, besonders in ihren langsamen
Sätzen sind ein untrüglicher Prüfstein für das Verständniß eines Sängers.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98922"/>
          <p xml:id="ID_216" prev="#ID_215"> Direktion Sorge tragen sollen, daß treffliche Leistungen des leichteren Genres<lb/>
nicht die Regel wären, sondern eine reizende Ausnahme.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_217"> Daß auch die Solisten unsres Orchesters sich hören lassen, ist in der Ordnung.<lb/>
Grützmacher ist als ein vielversprechender Violoncellist bei uns bekannt; er<lb/>
spielte ein Concert von Molique, Concertmeister Drei Schock hatte das Violin¬<lb/>
concert von Beethoven gewählt; dies macht seinem Geschmack Ehre, aber nicht<lb/>
seiner Selbstkenntniß, denn er zeigte sich demselben in keiner Hinsicht gewachsen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_218" next="#ID_219"> Es war allerdings eine falsche Voraussetzung, daß bei Eröffnung der Con¬<lb/>
certe noch keine Sängerin engagirt sei. Miß Georgine Stabbach aus<lb/>
London war für die ersten acht Concerte gewonnen. Leider war aber mit dieser<lb/>
Enttäuschung nicht viel gewonnen. Der Kosmopolitismus der Kunst soll aus<lb/>
keine Weise in Frage gestellt werden, allein um einem deutschen Publicum zu-<lb/>
zumuthen, daß es in einer Reihe von Concerten auf die deutsche Sprache ver¬<lb/>
zichte, sich nicht blos Händelsche, sondern auch Mcndelssohnsche Arien vorsin¬<lb/>
gen lasse, von englischen Liedern zu schweigen &#x2014; dafür wird eine Sängerin<lb/>
erfordert, die durch Stimme und Gesangskunst so ausgezeichnet ist, daß eben<lb/>
nicht mehr davon die Rede ist, welcher Nation sie angehöre. Das war nun<lb/>
mit Miß Stabbach keineswegs der Fall. Das Material ihrer Stimme ist gut,<lb/>
sie ist in manchen Lagen sogar sehr wohlklingend, allein von dem, was außer¬<lb/>
dem zur Künstlerin erforderlich ist, fehlt nicht viel weniger als alles. Sie singt<lb/>
nicht immer rein, hat die Stimme nicht gleichmäßig in ihrer Gewalt und be¬<lb/>
sitzt gar keine Coloratur; es scheint ihr unmöglich, einen Triller zu machen,<lb/>
denn selbst an solchen Stellen, wo der Triller nicht allein vorgezeichnet, sondern<lb/>
nach der ganzen Formation nothwendig ist, ließ sie ihn weg, unbekümmert um<lb/>
die peinliche Leere, die der Zuhörer empfinden mußte. Dieser Mangel hatte<lb/>
freilich einen wohlthätigen Einfluß auf das Repertoir der Miß Stabbach, denn<lb/>
wir blieben von der Flut moderner italienischer Arien gänzlich verschont, und<lb/>
das ist dankbar anzuerkennen, welches auch immer die Ursache sei. Miß Stab¬<lb/>
bach sang fünf Arien von Mozart, zwei von Händel, zwei von Mendelssohn,<lb/>
eine lM perliäo) von Beethoven. Man könnte dagegen vielleicht mit Recht ein¬<lb/>
wenden, daß es einseitig sei; allein dies wäre zu verschmerzen gewesen, da die<lb/>
einzelnen Arien vortrefflich waren, &#x2014; wären sie nur gesungen, wie man es er¬<lb/>
warten mußte. Ein empfindlicherer Mangel aber als der einer kunstgerechten<lb/>
Ausbildung war der Mangel an Empfindung und Verständniß. Miß Stab¬<lb/>
bach singt nicht allein gemessen, ruhig und kalt, was Folge eines für eine<lb/>
Künstlerin freilich nicht günstigen Temperaments sein kann, eS fehlt ihr an<lb/>
musikalischer Auffassung. Sie versteht es nicht, die Stellen hervorzuheben,<lb/>
auf die es ankommt, weiß nicht Licht und Schatten zu vertheilen, kurz sie em¬<lb/>
pfindet nicht musikalisch. Die Mozartschen Arien, besonders in ihren langsamen<lb/>
Sätzen sind ein untrüglicher Prüfstein für das Verständniß eines Sängers.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] Direktion Sorge tragen sollen, daß treffliche Leistungen des leichteren Genres nicht die Regel wären, sondern eine reizende Ausnahme. Daß auch die Solisten unsres Orchesters sich hören lassen, ist in der Ordnung. Grützmacher ist als ein vielversprechender Violoncellist bei uns bekannt; er spielte ein Concert von Molique, Concertmeister Drei Schock hatte das Violin¬ concert von Beethoven gewählt; dies macht seinem Geschmack Ehre, aber nicht seiner Selbstkenntniß, denn er zeigte sich demselben in keiner Hinsicht gewachsen. Es war allerdings eine falsche Voraussetzung, daß bei Eröffnung der Con¬ certe noch keine Sängerin engagirt sei. Miß Georgine Stabbach aus London war für die ersten acht Concerte gewonnen. Leider war aber mit dieser Enttäuschung nicht viel gewonnen. Der Kosmopolitismus der Kunst soll aus keine Weise in Frage gestellt werden, allein um einem deutschen Publicum zu- zumuthen, daß es in einer Reihe von Concerten auf die deutsche Sprache ver¬ zichte, sich nicht blos Händelsche, sondern auch Mcndelssohnsche Arien vorsin¬ gen lasse, von englischen Liedern zu schweigen — dafür wird eine Sängerin erfordert, die durch Stimme und Gesangskunst so ausgezeichnet ist, daß eben nicht mehr davon die Rede ist, welcher Nation sie angehöre. Das war nun mit Miß Stabbach keineswegs der Fall. Das Material ihrer Stimme ist gut, sie ist in manchen Lagen sogar sehr wohlklingend, allein von dem, was außer¬ dem zur Künstlerin erforderlich ist, fehlt nicht viel weniger als alles. Sie singt nicht immer rein, hat die Stimme nicht gleichmäßig in ihrer Gewalt und be¬ sitzt gar keine Coloratur; es scheint ihr unmöglich, einen Triller zu machen, denn selbst an solchen Stellen, wo der Triller nicht allein vorgezeichnet, sondern nach der ganzen Formation nothwendig ist, ließ sie ihn weg, unbekümmert um die peinliche Leere, die der Zuhörer empfinden mußte. Dieser Mangel hatte freilich einen wohlthätigen Einfluß auf das Repertoir der Miß Stabbach, denn wir blieben von der Flut moderner italienischer Arien gänzlich verschont, und das ist dankbar anzuerkennen, welches auch immer die Ursache sei. Miß Stab¬ bach sang fünf Arien von Mozart, zwei von Händel, zwei von Mendelssohn, eine lM perliäo) von Beethoven. Man könnte dagegen vielleicht mit Recht ein¬ wenden, daß es einseitig sei; allein dies wäre zu verschmerzen gewesen, da die einzelnen Arien vortrefflich waren, — wären sie nur gesungen, wie man es er¬ warten mußte. Ein empfindlicherer Mangel aber als der einer kunstgerechten Ausbildung war der Mangel an Empfindung und Verständniß. Miß Stab¬ bach singt nicht allein gemessen, ruhig und kalt, was Folge eines für eine Künstlerin freilich nicht günstigen Temperaments sein kann, eS fehlt ihr an musikalischer Auffassung. Sie versteht es nicht, die Stellen hervorzuheben, auf die es ankommt, weiß nicht Licht und Schatten zu vertheilen, kurz sie em¬ pfindet nicht musikalisch. Die Mozartschen Arien, besonders in ihren langsamen Sätzen sind ein untrüglicher Prüfstein für das Verständniß eines Sängers.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/70>, abgerufen am 17.06.2024.