Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Studien, die ihn beschäftigen, in der Form zu verarbeiten, die ihnen allein an¬
gemessen ist, in der wissenschaftlichen Prosa, und seine productive Thätigkeit von
allen analytischen Ercursen rein zu halten, so wird sich über die Tragweite
seiner poetischen Begabung eher ein Urtheil fallen lassen und er selbst wird
eine reinere Freude an seineu Werken haben, da die Verwirrung der p'roduc-
tiven und analytischen Thätigkeit weder aus den Dichter noch auf die Dichtungen
heilsam einwirken kann.

Das erste Werk, mit welchem der Dichter ein größeres Aufsehen erregte,
ist der Roman: Nach der Natur") l? Bde. 1850). Er gehört in jene Classe
der Reflexionsdichtungen, in denen die Betrachtung die eigentliche Begebenheit
vollständig überwuchert. Nach dem glänzenden Vorbild der Wahlverwandtschaften
wird es dem Kritiker schwer, die Berechtigung dieser Gattung in Frage zu stellen;
aber schon bei Goethe wird man das unnütze Netardiren der Handlung, na-
mentlich pures die Tagebuchblätter unangenehm empfinden, und dann grup-
piren sich bei diesem Dichter die Reflexionen zu so symmetrischen, durchsichtigen
Formen, daß wir immer das Gefühl eines Kunstwerks in uns tragen und bei
jedem neuen Gedanken überzeugt sind, er werde sich auf irgendeine Weise an
die Entwicklung der Grundidee anknüpfen. Bei Waldau dagegen steht es so
aus, als ob er seine LebenöbeobachtungeN und Maximen, seine Gedanken über
Kunst, Religion und Politik bei Gelegenheit dieses Romans sämmtlich hätte
anbringen wollen. In dem verhältnißmäßig kleinen Zeitraum, den das äußerst
umfangreiche Buch umspannt, haben die vier oder fünf Hauptpersonen Ge¬
legenheit, sich über alle möglichen Dinge zu unterhalten, und diese Unter¬
haltungen entwickeln sich nicht organisch eine aus der andern, sondern sie sind
bunt dnrcheinandergestreut, ohne Mittelpunkt und ohne Fortgang. Einzeln be¬
trachtet sind sie nicht uninteressant; wir haben es mit einem gebildeten Mann
zu thun, der das Leben von verschiedenen Seilen betrachtet und vieles selbst
erfahren hat. Aber sie sind selten von der Art, uns schnell zu überzeugen und
lebendig zu durchdringen. Schon der Stil ist häusig geziert und unklar. Man
lese z. B. I. S. 35 die Betrachtung, die sich an eine gemeinschaftliche Reise
anknüpft: "Geheime unlösbare Bande verknüpfen uns dem Wesen, das mit
uns zugleich, durch den Tausch der Rede genähert, einen Blick in den offenen
Busen der Natur gethan. Es ist eine zusammen empfangene Weihe, jedem
gehört der andere mit in das Bild der hohen Feier. Der poetische Rausch,
der uns in diesen Augenblicken mit seiner ganzen lodernden Pracht umflattert
und umstürmt, gräbt sich unendlich fest in die Seele. Ein gewisses lyrisches
Zittern schmückt noch lange die Erinnerung an solche Scenen, weil sie das



') Ein historischer Roman in 6 Bänden: "Aiinery der Jongleur" (-1832) ist uns nicht
zugänglich gewesen.

Studien, die ihn beschäftigen, in der Form zu verarbeiten, die ihnen allein an¬
gemessen ist, in der wissenschaftlichen Prosa, und seine productive Thätigkeit von
allen analytischen Ercursen rein zu halten, so wird sich über die Tragweite
seiner poetischen Begabung eher ein Urtheil fallen lassen und er selbst wird
eine reinere Freude an seineu Werken haben, da die Verwirrung der p'roduc-
tiven und analytischen Thätigkeit weder aus den Dichter noch auf die Dichtungen
heilsam einwirken kann.

Das erste Werk, mit welchem der Dichter ein größeres Aufsehen erregte,
ist der Roman: Nach der Natur") l? Bde. 1850). Er gehört in jene Classe
der Reflexionsdichtungen, in denen die Betrachtung die eigentliche Begebenheit
vollständig überwuchert. Nach dem glänzenden Vorbild der Wahlverwandtschaften
wird es dem Kritiker schwer, die Berechtigung dieser Gattung in Frage zu stellen;
aber schon bei Goethe wird man das unnütze Netardiren der Handlung, na-
mentlich pures die Tagebuchblätter unangenehm empfinden, und dann grup-
piren sich bei diesem Dichter die Reflexionen zu so symmetrischen, durchsichtigen
Formen, daß wir immer das Gefühl eines Kunstwerks in uns tragen und bei
jedem neuen Gedanken überzeugt sind, er werde sich auf irgendeine Weise an
die Entwicklung der Grundidee anknüpfen. Bei Waldau dagegen steht es so
aus, als ob er seine LebenöbeobachtungeN und Maximen, seine Gedanken über
Kunst, Religion und Politik bei Gelegenheit dieses Romans sämmtlich hätte
anbringen wollen. In dem verhältnißmäßig kleinen Zeitraum, den das äußerst
umfangreiche Buch umspannt, haben die vier oder fünf Hauptpersonen Ge¬
legenheit, sich über alle möglichen Dinge zu unterhalten, und diese Unter¬
haltungen entwickeln sich nicht organisch eine aus der andern, sondern sie sind
bunt dnrcheinandergestreut, ohne Mittelpunkt und ohne Fortgang. Einzeln be¬
trachtet sind sie nicht uninteressant; wir haben es mit einem gebildeten Mann
zu thun, der das Leben von verschiedenen Seilen betrachtet und vieles selbst
erfahren hat. Aber sie sind selten von der Art, uns schnell zu überzeugen und
lebendig zu durchdringen. Schon der Stil ist häusig geziert und unklar. Man
lese z. B. I. S. 35 die Betrachtung, die sich an eine gemeinschaftliche Reise
anknüpft: „Geheime unlösbare Bande verknüpfen uns dem Wesen, das mit
uns zugleich, durch den Tausch der Rede genähert, einen Blick in den offenen
Busen der Natur gethan. Es ist eine zusammen empfangene Weihe, jedem
gehört der andere mit in das Bild der hohen Feier. Der poetische Rausch,
der uns in diesen Augenblicken mit seiner ganzen lodernden Pracht umflattert
und umstürmt, gräbt sich unendlich fest in die Seele. Ein gewisses lyrisches
Zittern schmückt noch lange die Erinnerung an solche Scenen, weil sie das



') Ein historischer Roman in 6 Bänden: „Aiinery der Jongleur" (-1832) ist uns nicht
zugänglich gewesen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98942"/>
          <p xml:id="ID_280" prev="#ID_279"> Studien, die ihn beschäftigen, in der Form zu verarbeiten, die ihnen allein an¬<lb/>
gemessen ist, in der wissenschaftlichen Prosa, und seine productive Thätigkeit von<lb/>
allen analytischen Ercursen rein zu halten, so wird sich über die Tragweite<lb/>
seiner poetischen Begabung eher ein Urtheil fallen lassen und er selbst wird<lb/>
eine reinere Freude an seineu Werken haben, da die Verwirrung der p'roduc-<lb/>
tiven und analytischen Thätigkeit weder aus den Dichter noch auf die Dichtungen<lb/>
heilsam einwirken kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_281" next="#ID_282"> Das erste Werk, mit welchem der Dichter ein größeres Aufsehen erregte,<lb/>
ist der Roman: Nach der Natur") l? Bde. 1850). Er gehört in jene Classe<lb/>
der Reflexionsdichtungen, in denen die Betrachtung die eigentliche Begebenheit<lb/>
vollständig überwuchert. Nach dem glänzenden Vorbild der Wahlverwandtschaften<lb/>
wird es dem Kritiker schwer, die Berechtigung dieser Gattung in Frage zu stellen;<lb/>
aber schon bei Goethe wird man das unnütze Netardiren der Handlung, na-<lb/>
mentlich pures die Tagebuchblätter unangenehm empfinden, und dann grup-<lb/>
piren sich bei diesem Dichter die Reflexionen zu so symmetrischen, durchsichtigen<lb/>
Formen, daß wir immer das Gefühl eines Kunstwerks in uns tragen und bei<lb/>
jedem neuen Gedanken überzeugt sind, er werde sich auf irgendeine Weise an<lb/>
die Entwicklung der Grundidee anknüpfen. Bei Waldau dagegen steht es so<lb/>
aus, als ob er seine LebenöbeobachtungeN und Maximen, seine Gedanken über<lb/>
Kunst, Religion und Politik bei Gelegenheit dieses Romans sämmtlich hätte<lb/>
anbringen wollen. In dem verhältnißmäßig kleinen Zeitraum, den das äußerst<lb/>
umfangreiche Buch umspannt, haben die vier oder fünf Hauptpersonen Ge¬<lb/>
legenheit, sich über alle möglichen Dinge zu unterhalten, und diese Unter¬<lb/>
haltungen entwickeln sich nicht organisch eine aus der andern, sondern sie sind<lb/>
bunt dnrcheinandergestreut, ohne Mittelpunkt und ohne Fortgang. Einzeln be¬<lb/>
trachtet sind sie nicht uninteressant; wir haben es mit einem gebildeten Mann<lb/>
zu thun, der das Leben von verschiedenen Seilen betrachtet und vieles selbst<lb/>
erfahren hat. Aber sie sind selten von der Art, uns schnell zu überzeugen und<lb/>
lebendig zu durchdringen. Schon der Stil ist häusig geziert und unklar. Man<lb/>
lese z. B. I. S. 35 die Betrachtung, die sich an eine gemeinschaftliche Reise<lb/>
anknüpft: &#x201E;Geheime unlösbare Bande verknüpfen uns dem Wesen, das mit<lb/>
uns zugleich, durch den Tausch der Rede genähert, einen Blick in den offenen<lb/>
Busen der Natur gethan. Es ist eine zusammen empfangene Weihe, jedem<lb/>
gehört der andere mit in das Bild der hohen Feier. Der poetische Rausch,<lb/>
der uns in diesen Augenblicken mit seiner ganzen lodernden Pracht umflattert<lb/>
und umstürmt, gräbt sich unendlich fest in die Seele. Ein gewisses lyrisches<lb/>
Zittern schmückt noch lange die Erinnerung an solche Scenen, weil sie das</p><lb/>
          <note xml:id="FID_11" place="foot"> ') Ein historischer Roman in 6 Bänden: &#x201E;Aiinery der Jongleur" (-1832) ist uns nicht<lb/>
zugänglich gewesen.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0090] Studien, die ihn beschäftigen, in der Form zu verarbeiten, die ihnen allein an¬ gemessen ist, in der wissenschaftlichen Prosa, und seine productive Thätigkeit von allen analytischen Ercursen rein zu halten, so wird sich über die Tragweite seiner poetischen Begabung eher ein Urtheil fallen lassen und er selbst wird eine reinere Freude an seineu Werken haben, da die Verwirrung der p'roduc- tiven und analytischen Thätigkeit weder aus den Dichter noch auf die Dichtungen heilsam einwirken kann. Das erste Werk, mit welchem der Dichter ein größeres Aufsehen erregte, ist der Roman: Nach der Natur") l? Bde. 1850). Er gehört in jene Classe der Reflexionsdichtungen, in denen die Betrachtung die eigentliche Begebenheit vollständig überwuchert. Nach dem glänzenden Vorbild der Wahlverwandtschaften wird es dem Kritiker schwer, die Berechtigung dieser Gattung in Frage zu stellen; aber schon bei Goethe wird man das unnütze Netardiren der Handlung, na- mentlich pures die Tagebuchblätter unangenehm empfinden, und dann grup- piren sich bei diesem Dichter die Reflexionen zu so symmetrischen, durchsichtigen Formen, daß wir immer das Gefühl eines Kunstwerks in uns tragen und bei jedem neuen Gedanken überzeugt sind, er werde sich auf irgendeine Weise an die Entwicklung der Grundidee anknüpfen. Bei Waldau dagegen steht es so aus, als ob er seine LebenöbeobachtungeN und Maximen, seine Gedanken über Kunst, Religion und Politik bei Gelegenheit dieses Romans sämmtlich hätte anbringen wollen. In dem verhältnißmäßig kleinen Zeitraum, den das äußerst umfangreiche Buch umspannt, haben die vier oder fünf Hauptpersonen Ge¬ legenheit, sich über alle möglichen Dinge zu unterhalten, und diese Unter¬ haltungen entwickeln sich nicht organisch eine aus der andern, sondern sie sind bunt dnrcheinandergestreut, ohne Mittelpunkt und ohne Fortgang. Einzeln be¬ trachtet sind sie nicht uninteressant; wir haben es mit einem gebildeten Mann zu thun, der das Leben von verschiedenen Seilen betrachtet und vieles selbst erfahren hat. Aber sie sind selten von der Art, uns schnell zu überzeugen und lebendig zu durchdringen. Schon der Stil ist häusig geziert und unklar. Man lese z. B. I. S. 35 die Betrachtung, die sich an eine gemeinschaftliche Reise anknüpft: „Geheime unlösbare Bande verknüpfen uns dem Wesen, das mit uns zugleich, durch den Tausch der Rede genähert, einen Blick in den offenen Busen der Natur gethan. Es ist eine zusammen empfangene Weihe, jedem gehört der andere mit in das Bild der hohen Feier. Der poetische Rausch, der uns in diesen Augenblicken mit seiner ganzen lodernden Pracht umflattert und umstürmt, gräbt sich unendlich fest in die Seele. Ein gewisses lyrisches Zittern schmückt noch lange die Erinnerung an solche Scenen, weil sie das ') Ein historischer Roman in 6 Bänden: „Aiinery der Jongleur" (-1832) ist uns nicht zugänglich gewesen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/90
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/90>, abgerufen am 27.05.2024.