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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Andenken eines Aufgehens des kleinen Jch-Accordes in der großen Natur¬
harmonie ausfrischt." -- Diese Art, Gedanken und Bilder ineinander zu ver¬
arbeiten, ohne auf die innere Harmonie der Mischung die geringste Rücksicht
zu nehmen, ist Jean Paul abgelernt; sie ist höchst geschmacklos; denn man
hat schon bei der Form die Empfindung, daß Laune und Stimmung den Ver¬
stand dominiren, und so ist es auch mit dem. Inhalt. Alle diese Unterhaltungen
sind Eingebungen der Caprice, genau wie in den Romanen der Gräfin Hahn.
Die verschiedenen Herren und Damen sprechen mitunter ganz geistreiche Dinge
aus, aber sie könnten ihrem Charakter und ihrer Lage nach auch ebensogut
etwas Anderes sagen, zuweilen gradezu das Gegentheil. Von den Neflerionen
könnte man wenigstens zwei Drittel auslassen, ohne das Gefühl einer Lücke
zu haben. Am meisten ist das der Fall mit den leidigen Gesprächen über
Literatur. Herr Waldau hat sich später vielfältig in selbstständigen Recensionen
versucht, und das ist auch die richtige Methode; denn das Urtheil muß in
unsrer Zeit, wo alle Welt von Ansichten und Meinungen überfüllt ist, in der
Form einer methodischen Kritik auftreten, sonst hat es keinen Werth.

Wenn schon durch diese Ueberfülle von Neflerionen die Aufmerksamkeit
des Lesers erschlafft, so hat der Dichter noch den zweiten Fehler begangen,
zwei Stoffe ineinander zu verarbeiten, die in ihrer Stimmung wie in ihrem
sittlichen Gehalt einander widersprechen. Der eine Theil des Romans führt
uns in die socialen Zustände des modernen Deutschland ein und macht uns
mit Personen bekannt, die, was wir auch sonst von ihnen denken mögen, doch
in unsrer eignen Art denken und empfinden. Auch aus diesen Zuständen
können ernste und schwere Conflicte hervorgehen. Aber das scheint dem Dichter
nicht romantisch genug gewesen zu sein; er hat als Contrast eine zweite Gruppe
hinzugefügt, die sich um das gespenstische Medusenbild der Italienerin Nora
sammelt. Selbst wenn diese Gruppe naturtreuer ausgeführt wäre, als es
der Fall ist, -- Nora erscheint als ein willkürliches Wahngebilde der com-
binirenden Phantasie -- so wäre diese Vermischung doch keineswegs gerecht¬
fertigt, denn man muß zur Beurtheilung der einen und der andern Seite der
Handlung einen ganz verschiedenartigen Maßstab mitbringen, nicht blos mo¬
ralisch, sondern auch ästhetisch. In unsren Tagen wird zwar durch die Manie
des Reisens, die alle Zustände verwirrt und durcheinanderwirft, dem Dichter
eine solche Combination sehr bequem gemacht; aber was im wirklichen Leben
vorkommt, hat darum noch keine Berechtigung in der Poesie.

Was die Charakterbildung betrifft, so würde, abgesehen von jenen phan¬
tastischen Figuren, die nur ein Scheinleben führen, dem Dichter gewiß gelungen
sein, Besseres zu leisten, wenn er versucht hätte, uns für die Natur seiner
Charaktere Interesse einzuflößen, statt sür ihre Ansichten. Von den letzteren
werden wir sehr vollständig unterrichtet; aber von dem Leben der Menschen


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Andenken eines Aufgehens des kleinen Jch-Accordes in der großen Natur¬
harmonie ausfrischt." — Diese Art, Gedanken und Bilder ineinander zu ver¬
arbeiten, ohne auf die innere Harmonie der Mischung die geringste Rücksicht
zu nehmen, ist Jean Paul abgelernt; sie ist höchst geschmacklos; denn man
hat schon bei der Form die Empfindung, daß Laune und Stimmung den Ver¬
stand dominiren, und so ist es auch mit dem. Inhalt. Alle diese Unterhaltungen
sind Eingebungen der Caprice, genau wie in den Romanen der Gräfin Hahn.
Die verschiedenen Herren und Damen sprechen mitunter ganz geistreiche Dinge
aus, aber sie könnten ihrem Charakter und ihrer Lage nach auch ebensogut
etwas Anderes sagen, zuweilen gradezu das Gegentheil. Von den Neflerionen
könnte man wenigstens zwei Drittel auslassen, ohne das Gefühl einer Lücke
zu haben. Am meisten ist das der Fall mit den leidigen Gesprächen über
Literatur. Herr Waldau hat sich später vielfältig in selbstständigen Recensionen
versucht, und das ist auch die richtige Methode; denn das Urtheil muß in
unsrer Zeit, wo alle Welt von Ansichten und Meinungen überfüllt ist, in der
Form einer methodischen Kritik auftreten, sonst hat es keinen Werth.

Wenn schon durch diese Ueberfülle von Neflerionen die Aufmerksamkeit
des Lesers erschlafft, so hat der Dichter noch den zweiten Fehler begangen,
zwei Stoffe ineinander zu verarbeiten, die in ihrer Stimmung wie in ihrem
sittlichen Gehalt einander widersprechen. Der eine Theil des Romans führt
uns in die socialen Zustände des modernen Deutschland ein und macht uns
mit Personen bekannt, die, was wir auch sonst von ihnen denken mögen, doch
in unsrer eignen Art denken und empfinden. Auch aus diesen Zuständen
können ernste und schwere Conflicte hervorgehen. Aber das scheint dem Dichter
nicht romantisch genug gewesen zu sein; er hat als Contrast eine zweite Gruppe
hinzugefügt, die sich um das gespenstische Medusenbild der Italienerin Nora
sammelt. Selbst wenn diese Gruppe naturtreuer ausgeführt wäre, als es
der Fall ist, — Nora erscheint als ein willkürliches Wahngebilde der com-
binirenden Phantasie — so wäre diese Vermischung doch keineswegs gerecht¬
fertigt, denn man muß zur Beurtheilung der einen und der andern Seite der
Handlung einen ganz verschiedenartigen Maßstab mitbringen, nicht blos mo¬
ralisch, sondern auch ästhetisch. In unsren Tagen wird zwar durch die Manie
des Reisens, die alle Zustände verwirrt und durcheinanderwirft, dem Dichter
eine solche Combination sehr bequem gemacht; aber was im wirklichen Leben
vorkommt, hat darum noch keine Berechtigung in der Poesie.

Was die Charakterbildung betrifft, so würde, abgesehen von jenen phan¬
tastischen Figuren, die nur ein Scheinleben führen, dem Dichter gewiß gelungen
sein, Besseres zu leisten, wenn er versucht hätte, uns für die Natur seiner
Charaktere Interesse einzuflößen, statt sür ihre Ansichten. Von den letzteren
werden wir sehr vollständig unterrichtet; aber von dem Leben der Menschen


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[0091] Andenken eines Aufgehens des kleinen Jch-Accordes in der großen Natur¬ harmonie ausfrischt." — Diese Art, Gedanken und Bilder ineinander zu ver¬ arbeiten, ohne auf die innere Harmonie der Mischung die geringste Rücksicht zu nehmen, ist Jean Paul abgelernt; sie ist höchst geschmacklos; denn man hat schon bei der Form die Empfindung, daß Laune und Stimmung den Ver¬ stand dominiren, und so ist es auch mit dem. Inhalt. Alle diese Unterhaltungen sind Eingebungen der Caprice, genau wie in den Romanen der Gräfin Hahn. Die verschiedenen Herren und Damen sprechen mitunter ganz geistreiche Dinge aus, aber sie könnten ihrem Charakter und ihrer Lage nach auch ebensogut etwas Anderes sagen, zuweilen gradezu das Gegentheil. Von den Neflerionen könnte man wenigstens zwei Drittel auslassen, ohne das Gefühl einer Lücke zu haben. Am meisten ist das der Fall mit den leidigen Gesprächen über Literatur. Herr Waldau hat sich später vielfältig in selbstständigen Recensionen versucht, und das ist auch die richtige Methode; denn das Urtheil muß in unsrer Zeit, wo alle Welt von Ansichten und Meinungen überfüllt ist, in der Form einer methodischen Kritik auftreten, sonst hat es keinen Werth. Wenn schon durch diese Ueberfülle von Neflerionen die Aufmerksamkeit des Lesers erschlafft, so hat der Dichter noch den zweiten Fehler begangen, zwei Stoffe ineinander zu verarbeiten, die in ihrer Stimmung wie in ihrem sittlichen Gehalt einander widersprechen. Der eine Theil des Romans führt uns in die socialen Zustände des modernen Deutschland ein und macht uns mit Personen bekannt, die, was wir auch sonst von ihnen denken mögen, doch in unsrer eignen Art denken und empfinden. Auch aus diesen Zuständen können ernste und schwere Conflicte hervorgehen. Aber das scheint dem Dichter nicht romantisch genug gewesen zu sein; er hat als Contrast eine zweite Gruppe hinzugefügt, die sich um das gespenstische Medusenbild der Italienerin Nora sammelt. Selbst wenn diese Gruppe naturtreuer ausgeführt wäre, als es der Fall ist, — Nora erscheint als ein willkürliches Wahngebilde der com- binirenden Phantasie — so wäre diese Vermischung doch keineswegs gerecht¬ fertigt, denn man muß zur Beurtheilung der einen und der andern Seite der Handlung einen ganz verschiedenartigen Maßstab mitbringen, nicht blos mo¬ ralisch, sondern auch ästhetisch. In unsren Tagen wird zwar durch die Manie des Reisens, die alle Zustände verwirrt und durcheinanderwirft, dem Dichter eine solche Combination sehr bequem gemacht; aber was im wirklichen Leben vorkommt, hat darum noch keine Berechtigung in der Poesie. Was die Charakterbildung betrifft, so würde, abgesehen von jenen phan¬ tastischen Figuren, die nur ein Scheinleben führen, dem Dichter gewiß gelungen sein, Besseres zu leisten, wenn er versucht hätte, uns für die Natur seiner Charaktere Interesse einzuflößen, statt sür ihre Ansichten. Von den letzteren werden wir sehr vollständig unterrichtet; aber von dem Leben der Menschen 11*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/91>, abgerufen am 17.06.2024.