Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sündigen Menschen alle Schauer des jüngsten Gerichts in einem poetischen
Gemälde vor die Seele ruft. Hier waltet daher die Kunst freier und bedient
sich aller ihrer Mittel, um diesen Eindruck in seiner vollen Stärke wiederzu-.
geben. Und da ist der großartige, sast furchtbare Ernst, mit dem Cherubim
das Ganze aufgefaßt hat, nicht minder bewundernswerth, als die Meisterhand,
mit der er in wenigen festen und strengen Umrissen die Hauptzüge entwirft und
in fortgehender Steigerung, ohne in eine kleinliche Detailmalerei einzugehen,
zu einer grandiosen Komposition ausbildet. Wohlverstanden, daß es sich hier
um eine echt musikalische Conception handelt, hervorgegangen aus musikalischer
Empfindung und gestaltet mit tiefer Einsicht in die künstlerischen Formen der
Musik, nicht um Reflexionen über Musik, die man nachträglich musikalisch aus¬
zudrücken sucht. -- Die Aufführung war im Wesentlichen wohl gelungen und
würdig und das Werk verfehlte seines bedeutenden Eindruckes nicht. Als
zweiter Theil war demselben die (>moll Symphonie von Mendelssohn beige¬
geben, so daß dem richtigen Gefühl, einem bedeutenden Kunstwerk wieder ein
Ganzes gegenüberzustellen und den Eindruck desselben nicht durch ein zerstreuen¬
des Stückwerk zu zerstören, hier wenigstens Folge gegeben war. Vielleicht hätte
man ein etwas stärkeres Gegengewicht durch eine Synfonie wünschen mögen,
die mehr urkräftiges Leben und siegreiche Gewalt hätte; allein der ernste Sinn
und die Formtüchtigkeit der Mendelssohnschen Synfonie behaupteten auch neben
jenem kolossalen Werk ihren Platz.

Ein großes Ganze haben wir außerdem in den Abonnementconcertcn nicht
gehört; im Charfreilagsconcert, das sich denselben anschließt, den Messias.
Ueber der Aufführung desselben waltete mehr als ein Unstern. Ursprünglich
war S am so n zur Aufführung bestimmt und bereits zum größten Theil ein-
studirt worden, als Bedenken, die von gewisser Seite her laut wurden, daß
dieses Oratorium für den Charfreitag sich nicht eigne, Veranlassung gaben,
dasselbe bei Seite zu legen und in aller Eile den Messias einzuüben. Ein
neuer Unfall war es, daß die Sängerin, welche die Altsoli übernommen hatte,
kurz vor der Aufführung verhindert wurde; glücklicherweise fand sich eine junge
Dame bereit, ihre Stelle zu vertreten. Mau ist daher vielmehr verpflichtet ihr
zu danken, daß sie die Aufführung ermöglichte, als ein unter diesen Umständen
unternommenes erstes Debüt zu kritisiren. Als einen unglücklichen Umstand
muß man es serner betrachten, daß auch in diesem Jahre die Thomaskirche be¬
nutzt werden mußte, deren Räumlichkeiten für die Aufstellung eines großen
Chors und Orchesters überaus ungünstig sind. Es ist in mehr als einer Hin¬
sicht beklagenswert!), daß die Benutzung der Paulinerkirche, welche für derartige
Aufführungen die geeigneteste ist und seit einer Reihe von Jahren bereitwillig
für das Concert am Charfreitage eingeräumt wurde, schon im vorigen Jahre
und zwar in einer Weise abgelehnt wurde, welche wenig Aussicht gewährt,


sündigen Menschen alle Schauer des jüngsten Gerichts in einem poetischen
Gemälde vor die Seele ruft. Hier waltet daher die Kunst freier und bedient
sich aller ihrer Mittel, um diesen Eindruck in seiner vollen Stärke wiederzu-.
geben. Und da ist der großartige, sast furchtbare Ernst, mit dem Cherubim
das Ganze aufgefaßt hat, nicht minder bewundernswerth, als die Meisterhand,
mit der er in wenigen festen und strengen Umrissen die Hauptzüge entwirft und
in fortgehender Steigerung, ohne in eine kleinliche Detailmalerei einzugehen,
zu einer grandiosen Komposition ausbildet. Wohlverstanden, daß es sich hier
um eine echt musikalische Conception handelt, hervorgegangen aus musikalischer
Empfindung und gestaltet mit tiefer Einsicht in die künstlerischen Formen der
Musik, nicht um Reflexionen über Musik, die man nachträglich musikalisch aus¬
zudrücken sucht. — Die Aufführung war im Wesentlichen wohl gelungen und
würdig und das Werk verfehlte seines bedeutenden Eindruckes nicht. Als
zweiter Theil war demselben die (>moll Symphonie von Mendelssohn beige¬
geben, so daß dem richtigen Gefühl, einem bedeutenden Kunstwerk wieder ein
Ganzes gegenüberzustellen und den Eindruck desselben nicht durch ein zerstreuen¬
des Stückwerk zu zerstören, hier wenigstens Folge gegeben war. Vielleicht hätte
man ein etwas stärkeres Gegengewicht durch eine Synfonie wünschen mögen,
die mehr urkräftiges Leben und siegreiche Gewalt hätte; allein der ernste Sinn
und die Formtüchtigkeit der Mendelssohnschen Synfonie behaupteten auch neben
jenem kolossalen Werk ihren Platz.

Ein großes Ganze haben wir außerdem in den Abonnementconcertcn nicht
gehört; im Charfreilagsconcert, das sich denselben anschließt, den Messias.
Ueber der Aufführung desselben waltete mehr als ein Unstern. Ursprünglich
war S am so n zur Aufführung bestimmt und bereits zum größten Theil ein-
studirt worden, als Bedenken, die von gewisser Seite her laut wurden, daß
dieses Oratorium für den Charfreitag sich nicht eigne, Veranlassung gaben,
dasselbe bei Seite zu legen und in aller Eile den Messias einzuüben. Ein
neuer Unfall war es, daß die Sängerin, welche die Altsoli übernommen hatte,
kurz vor der Aufführung verhindert wurde; glücklicherweise fand sich eine junge
Dame bereit, ihre Stelle zu vertreten. Mau ist daher vielmehr verpflichtet ihr
zu danken, daß sie die Aufführung ermöglichte, als ein unter diesen Umständen
unternommenes erstes Debüt zu kritisiren. Als einen unglücklichen Umstand
muß man es serner betrachten, daß auch in diesem Jahre die Thomaskirche be¬
nutzt werden mußte, deren Räumlichkeiten für die Aufstellung eines großen
Chors und Orchesters überaus ungünstig sind. Es ist in mehr als einer Hin¬
sicht beklagenswert!), daß die Benutzung der Paulinerkirche, welche für derartige
Aufführungen die geeigneteste ist und seit einer Reihe von Jahren bereitwillig
für das Concert am Charfreitage eingeräumt wurde, schon im vorigen Jahre
und zwar in einer Weise abgelehnt wurde, welche wenig Aussicht gewährt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99676"/>
            <p xml:id="ID_1005" prev="#ID_1004"> sündigen Menschen alle Schauer des jüngsten Gerichts in einem poetischen<lb/>
Gemälde vor die Seele ruft. Hier waltet daher die Kunst freier und bedient<lb/>
sich aller ihrer Mittel, um diesen Eindruck in seiner vollen Stärke wiederzu-.<lb/>
geben. Und da ist der großartige, sast furchtbare Ernst, mit dem Cherubim<lb/>
das Ganze aufgefaßt hat, nicht minder bewundernswerth, als die Meisterhand,<lb/>
mit der er in wenigen festen und strengen Umrissen die Hauptzüge entwirft und<lb/>
in fortgehender Steigerung, ohne in eine kleinliche Detailmalerei einzugehen,<lb/>
zu einer grandiosen Komposition ausbildet. Wohlverstanden, daß es sich hier<lb/>
um eine echt musikalische Conception handelt, hervorgegangen aus musikalischer<lb/>
Empfindung und gestaltet mit tiefer Einsicht in die künstlerischen Formen der<lb/>
Musik, nicht um Reflexionen über Musik, die man nachträglich musikalisch aus¬<lb/>
zudrücken sucht. &#x2014; Die Aufführung war im Wesentlichen wohl gelungen und<lb/>
würdig und das Werk verfehlte seines bedeutenden Eindruckes nicht. Als<lb/>
zweiter Theil war demselben die (&gt;moll Symphonie von Mendelssohn beige¬<lb/>
geben, so daß dem richtigen Gefühl, einem bedeutenden Kunstwerk wieder ein<lb/>
Ganzes gegenüberzustellen und den Eindruck desselben nicht durch ein zerstreuen¬<lb/>
des Stückwerk zu zerstören, hier wenigstens Folge gegeben war. Vielleicht hätte<lb/>
man ein etwas stärkeres Gegengewicht durch eine Synfonie wünschen mögen,<lb/>
die mehr urkräftiges Leben und siegreiche Gewalt hätte; allein der ernste Sinn<lb/>
und die Formtüchtigkeit der Mendelssohnschen Synfonie behaupteten auch neben<lb/>
jenem kolossalen Werk ihren Platz.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1006" next="#ID_1007"> Ein großes Ganze haben wir außerdem in den Abonnementconcertcn nicht<lb/>
gehört; im Charfreilagsconcert, das sich denselben anschließt, den Messias.<lb/>
Ueber der Aufführung desselben waltete mehr als ein Unstern. Ursprünglich<lb/>
war S am so n zur Aufführung bestimmt und bereits zum größten Theil ein-<lb/>
studirt worden, als Bedenken, die von gewisser Seite her laut wurden, daß<lb/>
dieses Oratorium für den Charfreitag sich nicht eigne, Veranlassung gaben,<lb/>
dasselbe bei Seite zu legen und in aller Eile den Messias einzuüben. Ein<lb/>
neuer Unfall war es, daß die Sängerin, welche die Altsoli übernommen hatte,<lb/>
kurz vor der Aufführung verhindert wurde; glücklicherweise fand sich eine junge<lb/>
Dame bereit, ihre Stelle zu vertreten. Mau ist daher vielmehr verpflichtet ihr<lb/>
zu danken, daß sie die Aufführung ermöglichte, als ein unter diesen Umständen<lb/>
unternommenes erstes Debüt zu kritisiren. Als einen unglücklichen Umstand<lb/>
muß man es serner betrachten, daß auch in diesem Jahre die Thomaskirche be¬<lb/>
nutzt werden mußte, deren Räumlichkeiten für die Aufstellung eines großen<lb/>
Chors und Orchesters überaus ungünstig sind. Es ist in mehr als einer Hin¬<lb/>
sicht beklagenswert!), daß die Benutzung der Paulinerkirche, welche für derartige<lb/>
Aufführungen die geeigneteste ist und seit einer Reihe von Jahren bereitwillig<lb/>
für das Concert am Charfreitage eingeräumt wurde, schon im vorigen Jahre<lb/>
und zwar in einer Weise abgelehnt wurde, welche wenig Aussicht gewährt,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0290] sündigen Menschen alle Schauer des jüngsten Gerichts in einem poetischen Gemälde vor die Seele ruft. Hier waltet daher die Kunst freier und bedient sich aller ihrer Mittel, um diesen Eindruck in seiner vollen Stärke wiederzu-. geben. Und da ist der großartige, sast furchtbare Ernst, mit dem Cherubim das Ganze aufgefaßt hat, nicht minder bewundernswerth, als die Meisterhand, mit der er in wenigen festen und strengen Umrissen die Hauptzüge entwirft und in fortgehender Steigerung, ohne in eine kleinliche Detailmalerei einzugehen, zu einer grandiosen Komposition ausbildet. Wohlverstanden, daß es sich hier um eine echt musikalische Conception handelt, hervorgegangen aus musikalischer Empfindung und gestaltet mit tiefer Einsicht in die künstlerischen Formen der Musik, nicht um Reflexionen über Musik, die man nachträglich musikalisch aus¬ zudrücken sucht. — Die Aufführung war im Wesentlichen wohl gelungen und würdig und das Werk verfehlte seines bedeutenden Eindruckes nicht. Als zweiter Theil war demselben die (>moll Symphonie von Mendelssohn beige¬ geben, so daß dem richtigen Gefühl, einem bedeutenden Kunstwerk wieder ein Ganzes gegenüberzustellen und den Eindruck desselben nicht durch ein zerstreuen¬ des Stückwerk zu zerstören, hier wenigstens Folge gegeben war. Vielleicht hätte man ein etwas stärkeres Gegengewicht durch eine Synfonie wünschen mögen, die mehr urkräftiges Leben und siegreiche Gewalt hätte; allein der ernste Sinn und die Formtüchtigkeit der Mendelssohnschen Synfonie behaupteten auch neben jenem kolossalen Werk ihren Platz. Ein großes Ganze haben wir außerdem in den Abonnementconcertcn nicht gehört; im Charfreilagsconcert, das sich denselben anschließt, den Messias. Ueber der Aufführung desselben waltete mehr als ein Unstern. Ursprünglich war S am so n zur Aufführung bestimmt und bereits zum größten Theil ein- studirt worden, als Bedenken, die von gewisser Seite her laut wurden, daß dieses Oratorium für den Charfreitag sich nicht eigne, Veranlassung gaben, dasselbe bei Seite zu legen und in aller Eile den Messias einzuüben. Ein neuer Unfall war es, daß die Sängerin, welche die Altsoli übernommen hatte, kurz vor der Aufführung verhindert wurde; glücklicherweise fand sich eine junge Dame bereit, ihre Stelle zu vertreten. Mau ist daher vielmehr verpflichtet ihr zu danken, daß sie die Aufführung ermöglichte, als ein unter diesen Umständen unternommenes erstes Debüt zu kritisiren. Als einen unglücklichen Umstand muß man es serner betrachten, daß auch in diesem Jahre die Thomaskirche be¬ nutzt werden mußte, deren Räumlichkeiten für die Aufstellung eines großen Chors und Orchesters überaus ungünstig sind. Es ist in mehr als einer Hin¬ sicht beklagenswert!), daß die Benutzung der Paulinerkirche, welche für derartige Aufführungen die geeigneteste ist und seit einer Reihe von Jahren bereitwillig für das Concert am Charfreitage eingeräumt wurde, schon im vorigen Jahre und zwar in einer Weise abgelehnt wurde, welche wenig Aussicht gewährt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/290
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/290>, abgerufen am 27.05.2024.