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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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daraus zu bilden. Die Tiefe des Meeres im Taucher, die Drachenhöhle
und der Kampf mit dem Drachen, die wilden Bestien im Löwengarten
u. s. w,, das alles sind Meisterwerke der beschreibenden Poesie. Freilich wird
man in den meisten Fällen schwer nachweisen können, inwiefern diese Schil¬
derung mit der Tendenz des Ganzen zusammenhängt. Fast in jeder dieser
Balladen finden wir zwei Elemente, die zusammengeschweißt, aber nicht organisch
auseinander hervorgegangen sind. -- Eine ganz isolirte Stellung nimmt der
Ritter Toggenburg ein, eine Romanze im reinsten Stil, von einem Wohl¬
laut und einer Harmonie der Stimmung, wie wir sie bei Schiller kaum wieder
autreffen; doch senden wir es deshalb nicht gerechtfertigt, wenn man ihr vor
den übrigen Balladen den Preis gibt. Die Empfindung in dieser Ballade ist
zu schwächlich, zu sentimental, zu geziert, als daß wir ihr einen höhern Preis,
als den einer geschickten poetischen Stilübung zuerkennen dürften. -- Im Grafen
von Habsburg scheint die unbedeutende Anekdote nur erzählt zu jein, um
wieder der prachtvollen Stelle über die Macht des Gesanges Raum zu geben:


Wie in den Lüften der Sturmwind saust,

Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust.

Wie der Quell ans verborgenen Tiefen: '
So des Sängers Lied aus dem Innern schallt.


Die reichste Fülle von Anschauungen und Empfindungen entwickelt unter
den Gedichten, die im deutschen Costüm gehalten sind, die Glocke (1798).
Das Gedicht gehörte früher zu den beliebtesten in Deutschland; von Kindheit
auf wußte es jedermann auswendig, denn es sind in einer melodischen, zuweilen
hinreißenden Sprache darin die Empfindungen dargestellt, die jeder in seinem
eignen Leben durchgemacht hat und es ist in diesen Empfindungen nichts Unwahres,
nichts Gemachtes, man kann sie als ewige Wahrheit künftigen Geschlechtern ver¬
kündigen. Gegen diese allgemeine Anerkennung hat sich aber eine Reaction er¬
hoben, der das Gedicht eben nicht geistreich, nicht individuell, nicht anonym,
nicht räthselhaft genug ist: Sowie hier der Dichter empfindet, kann jeder¬
mann empfinden und die Aristokratie des Geistes findet für sich nichts Beson¬
deres heraus. Indessen hat die sogenannte geistreiche Poesie soviel verschro¬
bene Vorstellungen in der Welt verbreitet, daß man sich mit dieser Trivialität
wol zufrieden geben kann. Freilich hat der Dichter sich von der Macht seiner
eignen Schilderung zuweilen zu, sehr hinreißen lassen und indem er mit dem
Rhythmus dem Wechsel seiner Empfindungen nachging, jene dichterische Ruhe
gestört, die zu der geistvollen Coniposilion so schön stimmen würde, denn
wenn die Einzelheiten jedermanns Eigenthum sind, so zeugt die Idee deö
Ganzen von einem höhern Sinn. Die doppelte Allegorie, die sich fortwährend
durch die einzelnen Schilderungen zieht, theils der Vergleich des Lebens mit
dem Naturproceß des Glockengusses, theils mit der Function der Glocke nach


daraus zu bilden. Die Tiefe des Meeres im Taucher, die Drachenhöhle
und der Kampf mit dem Drachen, die wilden Bestien im Löwengarten
u. s. w,, das alles sind Meisterwerke der beschreibenden Poesie. Freilich wird
man in den meisten Fällen schwer nachweisen können, inwiefern diese Schil¬
derung mit der Tendenz des Ganzen zusammenhängt. Fast in jeder dieser
Balladen finden wir zwei Elemente, die zusammengeschweißt, aber nicht organisch
auseinander hervorgegangen sind. — Eine ganz isolirte Stellung nimmt der
Ritter Toggenburg ein, eine Romanze im reinsten Stil, von einem Wohl¬
laut und einer Harmonie der Stimmung, wie wir sie bei Schiller kaum wieder
autreffen; doch senden wir es deshalb nicht gerechtfertigt, wenn man ihr vor
den übrigen Balladen den Preis gibt. Die Empfindung in dieser Ballade ist
zu schwächlich, zu sentimental, zu geziert, als daß wir ihr einen höhern Preis,
als den einer geschickten poetischen Stilübung zuerkennen dürften. — Im Grafen
von Habsburg scheint die unbedeutende Anekdote nur erzählt zu jein, um
wieder der prachtvollen Stelle über die Macht des Gesanges Raum zu geben:


Wie in den Lüften der Sturmwind saust,

Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust.

Wie der Quell ans verborgenen Tiefen: '
So des Sängers Lied aus dem Innern schallt.


Die reichste Fülle von Anschauungen und Empfindungen entwickelt unter
den Gedichten, die im deutschen Costüm gehalten sind, die Glocke (1798).
Das Gedicht gehörte früher zu den beliebtesten in Deutschland; von Kindheit
auf wußte es jedermann auswendig, denn es sind in einer melodischen, zuweilen
hinreißenden Sprache darin die Empfindungen dargestellt, die jeder in seinem
eignen Leben durchgemacht hat und es ist in diesen Empfindungen nichts Unwahres,
nichts Gemachtes, man kann sie als ewige Wahrheit künftigen Geschlechtern ver¬
kündigen. Gegen diese allgemeine Anerkennung hat sich aber eine Reaction er¬
hoben, der das Gedicht eben nicht geistreich, nicht individuell, nicht anonym,
nicht räthselhaft genug ist: Sowie hier der Dichter empfindet, kann jeder¬
mann empfinden und die Aristokratie des Geistes findet für sich nichts Beson¬
deres heraus. Indessen hat die sogenannte geistreiche Poesie soviel verschro¬
bene Vorstellungen in der Welt verbreitet, daß man sich mit dieser Trivialität
wol zufrieden geben kann. Freilich hat der Dichter sich von der Macht seiner
eignen Schilderung zuweilen zu, sehr hinreißen lassen und indem er mit dem
Rhythmus dem Wechsel seiner Empfindungen nachging, jene dichterische Ruhe
gestört, die zu der geistvollen Coniposilion so schön stimmen würde, denn
wenn die Einzelheiten jedermanns Eigenthum sind, so zeugt die Idee deö
Ganzen von einem höhern Sinn. Die doppelte Allegorie, die sich fortwährend
durch die einzelnen Schilderungen zieht, theils der Vergleich des Lebens mit
dem Naturproceß des Glockengusses, theils mit der Function der Glocke nach


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[0510] daraus zu bilden. Die Tiefe des Meeres im Taucher, die Drachenhöhle und der Kampf mit dem Drachen, die wilden Bestien im Löwengarten u. s. w,, das alles sind Meisterwerke der beschreibenden Poesie. Freilich wird man in den meisten Fällen schwer nachweisen können, inwiefern diese Schil¬ derung mit der Tendenz des Ganzen zusammenhängt. Fast in jeder dieser Balladen finden wir zwei Elemente, die zusammengeschweißt, aber nicht organisch auseinander hervorgegangen sind. — Eine ganz isolirte Stellung nimmt der Ritter Toggenburg ein, eine Romanze im reinsten Stil, von einem Wohl¬ laut und einer Harmonie der Stimmung, wie wir sie bei Schiller kaum wieder autreffen; doch senden wir es deshalb nicht gerechtfertigt, wenn man ihr vor den übrigen Balladen den Preis gibt. Die Empfindung in dieser Ballade ist zu schwächlich, zu sentimental, zu geziert, als daß wir ihr einen höhern Preis, als den einer geschickten poetischen Stilübung zuerkennen dürften. — Im Grafen von Habsburg scheint die unbedeutende Anekdote nur erzählt zu jein, um wieder der prachtvollen Stelle über die Macht des Gesanges Raum zu geben: Wie in den Lüften der Sturmwind saust, Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust. Wie der Quell ans verborgenen Tiefen: ' So des Sängers Lied aus dem Innern schallt. Die reichste Fülle von Anschauungen und Empfindungen entwickelt unter den Gedichten, die im deutschen Costüm gehalten sind, die Glocke (1798). Das Gedicht gehörte früher zu den beliebtesten in Deutschland; von Kindheit auf wußte es jedermann auswendig, denn es sind in einer melodischen, zuweilen hinreißenden Sprache darin die Empfindungen dargestellt, die jeder in seinem eignen Leben durchgemacht hat und es ist in diesen Empfindungen nichts Unwahres, nichts Gemachtes, man kann sie als ewige Wahrheit künftigen Geschlechtern ver¬ kündigen. Gegen diese allgemeine Anerkennung hat sich aber eine Reaction er¬ hoben, der das Gedicht eben nicht geistreich, nicht individuell, nicht anonym, nicht räthselhaft genug ist: Sowie hier der Dichter empfindet, kann jeder¬ mann empfinden und die Aristokratie des Geistes findet für sich nichts Beson¬ deres heraus. Indessen hat die sogenannte geistreiche Poesie soviel verschro¬ bene Vorstellungen in der Welt verbreitet, daß man sich mit dieser Trivialität wol zufrieden geben kann. Freilich hat der Dichter sich von der Macht seiner eignen Schilderung zuweilen zu, sehr hinreißen lassen und indem er mit dem Rhythmus dem Wechsel seiner Empfindungen nachging, jene dichterische Ruhe gestört, die zu der geistvollen Coniposilion so schön stimmen würde, denn wenn die Einzelheiten jedermanns Eigenthum sind, so zeugt die Idee deö Ganzen von einem höhern Sinn. Die doppelte Allegorie, die sich fortwährend durch die einzelnen Schilderungen zieht, theils der Vergleich des Lebens mit dem Naturproceß des Glockengusses, theils mit der Function der Glocke nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/510>, abgerufen am 26.05.2024.