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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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über die Leistungsfähigkeit des Gesammtkörpers jedwedes Heeres zu gelangen.
Wenn ich die Untersuchung mit einer Besprechung der russischen Artillerie er¬
öffne, so geschieht es, weil ich mir den Vorwurf machen muß, in meinem
Novemberaufsatz dieselbe zu geringschätzig beurtheilt zu haben und es nicht
mehr als billig ist, begangenes Unrecht so schnell wie möglich wieder gut zu
machen. Bevor ich indeß darauf eingehe, wolle man mir eine kleine Abschwei¬
fung gestatten, welche das Ganze für den Nichtmilirär mehr faßlich machen
dürfte.

Es mag überraschend erscheinen, ist aber nichtsdestoweniger Thatsache, daß
die Kriege selbst nicht immer die Epochen gewesen sind, in denen das Kriegs¬
wesen die meisten Fortschritte gemacht hat. In mancher Friedensperiode
geschah mehr, wie in der ihr vorausgegangenen Periode des Kampfes, haupt¬
sächlich wol darum, weil ,die in der letzteren gewonnenen Erfahrungen erst
in der nachfolgenden Zeit der Ruhe verwendbar gemacht werden konnten.
Hiervon sind auch solche Kriegsepocheu uicht ausgenommen, die von einem
großen, reformatorischen Geist beherrscht werden. Heutzutage weiß jeder ge¬
bildete Militär, daß in den dreiundzwanzig Kriegsjahren, die mit dem Sturz
der französischen Monarchie beginnen, für den Fortschritt der drei Waffen weit
weniger geschehen ist, als in der FnedenSzeit darnach, wiewol in jener der
militärische Heros unsres Jahrhunderts der Leiter gewesen.

Diese Friedenszeit ist lang und hat im gewissen Sinne erst mit der Krim-
erpedition geendet. Sie umfaßt demnach beinahe volle vierzig Jahre. Obwol
der Krieg Rußlands gegen die Pforte in den Jahren -1828 und 1829, die
letzte polnische Erhebung vom Jahre 1830---1831, der ungarische, östreichisch-
jardinische und dänisch-deutsche Krieg hineinfallen, sind dies doch nicht eigent¬
liche Unterbrechungen; nirgends sehen wir zwei Hauptmäch e widereinander
streiten; es fehlt mithin die Nöthigung zur höchsten Kraftentwicklung und in
einigen Fällen sogar der Ernst des militärischen Willens. Daher die geringe
Bedeutung, welche diese Kriege an sich und im besonderen in Bezug auf die
Gliederung der in Rede stehenden Epoche in Anspruch nehmen. Wer dereinst
die Geschichte derselben vom kncgswissenschaftlichcn Standpunkte aus zu schrei¬
ben haben wird, dürfte kaum jene Kämpfe zu Mittel- und Schwerpunkten seiner
Darstellung zu machen veranlaßt sein. Die ganze Wichtigkeit solcher Schwer¬
punkte haben in dieser langen Epoche vielmehr einzelne Erfindungen anzusprechen,
die unabhängig von den Erfahrungen der gleichzeitigen Kriege, in dieser oder
jener Waffe gemacht wurden und in einzelnen Fällen ihnen eine neue Ausprägung
ihres Charakters verliehen.

Unter der Voraussetzung, daß man die ganze vierzigjährige Friedensperiode
in zwei gleiche Hälften theilt, ist die Behauptung gerechtfertigt, daß die erstere
wesentlich durch die Neuerungen im Artilleriewesen, letztere durch die verbesserte


über die Leistungsfähigkeit des Gesammtkörpers jedwedes Heeres zu gelangen.
Wenn ich die Untersuchung mit einer Besprechung der russischen Artillerie er¬
öffne, so geschieht es, weil ich mir den Vorwurf machen muß, in meinem
Novemberaufsatz dieselbe zu geringschätzig beurtheilt zu haben und es nicht
mehr als billig ist, begangenes Unrecht so schnell wie möglich wieder gut zu
machen. Bevor ich indeß darauf eingehe, wolle man mir eine kleine Abschwei¬
fung gestatten, welche das Ganze für den Nichtmilirär mehr faßlich machen
dürfte.

Es mag überraschend erscheinen, ist aber nichtsdestoweniger Thatsache, daß
die Kriege selbst nicht immer die Epochen gewesen sind, in denen das Kriegs¬
wesen die meisten Fortschritte gemacht hat. In mancher Friedensperiode
geschah mehr, wie in der ihr vorausgegangenen Periode des Kampfes, haupt¬
sächlich wol darum, weil ,die in der letzteren gewonnenen Erfahrungen erst
in der nachfolgenden Zeit der Ruhe verwendbar gemacht werden konnten.
Hiervon sind auch solche Kriegsepocheu uicht ausgenommen, die von einem
großen, reformatorischen Geist beherrscht werden. Heutzutage weiß jeder ge¬
bildete Militär, daß in den dreiundzwanzig Kriegsjahren, die mit dem Sturz
der französischen Monarchie beginnen, für den Fortschritt der drei Waffen weit
weniger geschehen ist, als in der FnedenSzeit darnach, wiewol in jener der
militärische Heros unsres Jahrhunderts der Leiter gewesen.

Diese Friedenszeit ist lang und hat im gewissen Sinne erst mit der Krim-
erpedition geendet. Sie umfaßt demnach beinahe volle vierzig Jahre. Obwol
der Krieg Rußlands gegen die Pforte in den Jahren -1828 und 1829, die
letzte polnische Erhebung vom Jahre 1830—-1831, der ungarische, östreichisch-
jardinische und dänisch-deutsche Krieg hineinfallen, sind dies doch nicht eigent¬
liche Unterbrechungen; nirgends sehen wir zwei Hauptmäch e widereinander
streiten; es fehlt mithin die Nöthigung zur höchsten Kraftentwicklung und in
einigen Fällen sogar der Ernst des militärischen Willens. Daher die geringe
Bedeutung, welche diese Kriege an sich und im besonderen in Bezug auf die
Gliederung der in Rede stehenden Epoche in Anspruch nehmen. Wer dereinst
die Geschichte derselben vom kncgswissenschaftlichcn Standpunkte aus zu schrei¬
ben haben wird, dürfte kaum jene Kämpfe zu Mittel- und Schwerpunkten seiner
Darstellung zu machen veranlaßt sein. Die ganze Wichtigkeit solcher Schwer¬
punkte haben in dieser langen Epoche vielmehr einzelne Erfindungen anzusprechen,
die unabhängig von den Erfahrungen der gleichzeitigen Kriege, in dieser oder
jener Waffe gemacht wurden und in einzelnen Fällen ihnen eine neue Ausprägung
ihres Charakters verliehen.

Unter der Voraussetzung, daß man die ganze vierzigjährige Friedensperiode
in zwei gleiche Hälften theilt, ist die Behauptung gerechtfertigt, daß die erstere
wesentlich durch die Neuerungen im Artilleriewesen, letztere durch die verbesserte


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[0066] über die Leistungsfähigkeit des Gesammtkörpers jedwedes Heeres zu gelangen. Wenn ich die Untersuchung mit einer Besprechung der russischen Artillerie er¬ öffne, so geschieht es, weil ich mir den Vorwurf machen muß, in meinem Novemberaufsatz dieselbe zu geringschätzig beurtheilt zu haben und es nicht mehr als billig ist, begangenes Unrecht so schnell wie möglich wieder gut zu machen. Bevor ich indeß darauf eingehe, wolle man mir eine kleine Abschwei¬ fung gestatten, welche das Ganze für den Nichtmilirär mehr faßlich machen dürfte. Es mag überraschend erscheinen, ist aber nichtsdestoweniger Thatsache, daß die Kriege selbst nicht immer die Epochen gewesen sind, in denen das Kriegs¬ wesen die meisten Fortschritte gemacht hat. In mancher Friedensperiode geschah mehr, wie in der ihr vorausgegangenen Periode des Kampfes, haupt¬ sächlich wol darum, weil ,die in der letzteren gewonnenen Erfahrungen erst in der nachfolgenden Zeit der Ruhe verwendbar gemacht werden konnten. Hiervon sind auch solche Kriegsepocheu uicht ausgenommen, die von einem großen, reformatorischen Geist beherrscht werden. Heutzutage weiß jeder ge¬ bildete Militär, daß in den dreiundzwanzig Kriegsjahren, die mit dem Sturz der französischen Monarchie beginnen, für den Fortschritt der drei Waffen weit weniger geschehen ist, als in der FnedenSzeit darnach, wiewol in jener der militärische Heros unsres Jahrhunderts der Leiter gewesen. Diese Friedenszeit ist lang und hat im gewissen Sinne erst mit der Krim- erpedition geendet. Sie umfaßt demnach beinahe volle vierzig Jahre. Obwol der Krieg Rußlands gegen die Pforte in den Jahren -1828 und 1829, die letzte polnische Erhebung vom Jahre 1830—-1831, der ungarische, östreichisch- jardinische und dänisch-deutsche Krieg hineinfallen, sind dies doch nicht eigent¬ liche Unterbrechungen; nirgends sehen wir zwei Hauptmäch e widereinander streiten; es fehlt mithin die Nöthigung zur höchsten Kraftentwicklung und in einigen Fällen sogar der Ernst des militärischen Willens. Daher die geringe Bedeutung, welche diese Kriege an sich und im besonderen in Bezug auf die Gliederung der in Rede stehenden Epoche in Anspruch nehmen. Wer dereinst die Geschichte derselben vom kncgswissenschaftlichcn Standpunkte aus zu schrei¬ ben haben wird, dürfte kaum jene Kämpfe zu Mittel- und Schwerpunkten seiner Darstellung zu machen veranlaßt sein. Die ganze Wichtigkeit solcher Schwer¬ punkte haben in dieser langen Epoche vielmehr einzelne Erfindungen anzusprechen, die unabhängig von den Erfahrungen der gleichzeitigen Kriege, in dieser oder jener Waffe gemacht wurden und in einzelnen Fällen ihnen eine neue Ausprägung ihres Charakters verliehen. Unter der Voraussetzung, daß man die ganze vierzigjährige Friedensperiode in zwei gleiche Hälften theilt, ist die Behauptung gerechtfertigt, daß die erstere wesentlich durch die Neuerungen im Artilleriewesen, letztere durch die verbesserte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/66>, abgerufen am 17.06.2024.