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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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flihrung macht den Singenden Freude, die Schwierigkeiten sind durch Uebung
sicher zu überwinden, und alles klingt voll und schon. Allerdings werden
Sänger dabei vorausgesetzt, die tüchtig geschult sind, und nicht, wie heutigen
Tags so oft, bei einer guten Stimme mit allgemeiner Bildung statt GesangS-
schule auszukommen glauben. Schon in den Chören macht es sich oft gel¬
tend, daß in Gesangschulen gebildete Choristen vorausgesetzt sind, und für die
Soli ist auf wirkliche Gesangskunst gerechnet. Das war eine Freude zu
hören, wie rein und sicher, wie frisch und lebendig die Chöre gesungen wurden,
daß man in der gesunden und kräftigen Fülle des Wohllautes wie in einem
Bade schwimmen und sich erfrischen konnte; und Frau Goldschmidt zeigte uns,
was eine Solosängcrin sei. In so vollkommener Leistung erhielt auch die.
Bravour ihr Recht und ihre Bedeutung, und was mühselig herausgestümpert
oder seelenlos heruntergesungen als müßige und störende Zuthat erscheinen
muß, erwies sich als ein Schmuck, der dem Ganzen nicht als ein Fremdes an¬
gesetzt, sondern aus ihm hervorgewachsen ist und ihm angehört. Das Ver¬
langen nach einer absoluten Einfachheit der Gesangsmelodie beruht auf einer
Reaction gegen die maßlose Uebertreibung im verzierten Gesang, die wie ge¬
wöhnlich selbst wieder übertreibt; und wenn jene aus der Virtuosität hervor¬
gegangen war, so hat dieses eine Hauptstütze an mangelhafter Gesangsbildung.

Uebrigens ist die künstlerische Einsicht Haydns in diesem Meisterwerk viel
tiefer zu verfolgen als in der geschickten Handhabung der äußeren Mittel.
Sie läßt sich in der Anlage der einzelnen Musikstücke und ihrer Gruppirung
nachweisen, und je undankbarer und eintöniger der Tert ist, um so größer ist
die Kunst des Componisten, der es verstand, durch die weise Vertheilung und
Anordnung diese Mängel zu verdecken und das Interesse gespannt zu erhalten.
Nirgend vielleicht ist dies bewunderungswürdiger als im Anfange bis zu den
Worten "Es werde Licht." Die ungeheure Wirkung derselben beruht nicht
etwa allein auf dem plötzlichen Eintreten des nach dem lange dauernden

viel bedeutsamer ist der Eintritt des lange ersehnten und immer zurückge¬
haltenen das den Zuhörer zum ersten Mal frei ausathmen läßt. Wenn
man den labyrinthischen Verschlingungen der Jnstrumentaleinleitung folgt, wo
jedes Instrument auf eigne Hand sich eine Existenz zu erringen sucht und
daher eins das andere immer zu stören scheint, wo in dem fortwährenden
Streben nach Gestaltung und Vereinigung durch unausgesetzte Seitenbewe>
gnügen einzelner jedes feste Zusammenschließen gehindert wird, so fällt es auf,
daß die Tonart, auf die man gleich anfangs hingewiesen wird, "natur, nie
angeschlagen wird, so oft man auch auf sie zugeführt wird. Dies Gefühl von
Unsicherheit bleibt auch in dem Anfangsrecitativ und den ersten Worten
des Chors, in denen immer um die Haupttonart herumgegangen wird, bis
mit dem Worte Licht die peinliche Spannung ein Ende nimmt und die Ton-


flihrung macht den Singenden Freude, die Schwierigkeiten sind durch Uebung
sicher zu überwinden, und alles klingt voll und schon. Allerdings werden
Sänger dabei vorausgesetzt, die tüchtig geschult sind, und nicht, wie heutigen
Tags so oft, bei einer guten Stimme mit allgemeiner Bildung statt GesangS-
schule auszukommen glauben. Schon in den Chören macht es sich oft gel¬
tend, daß in Gesangschulen gebildete Choristen vorausgesetzt sind, und für die
Soli ist auf wirkliche Gesangskunst gerechnet. Das war eine Freude zu
hören, wie rein und sicher, wie frisch und lebendig die Chöre gesungen wurden,
daß man in der gesunden und kräftigen Fülle des Wohllautes wie in einem
Bade schwimmen und sich erfrischen konnte; und Frau Goldschmidt zeigte uns,
was eine Solosängcrin sei. In so vollkommener Leistung erhielt auch die.
Bravour ihr Recht und ihre Bedeutung, und was mühselig herausgestümpert
oder seelenlos heruntergesungen als müßige und störende Zuthat erscheinen
muß, erwies sich als ein Schmuck, der dem Ganzen nicht als ein Fremdes an¬
gesetzt, sondern aus ihm hervorgewachsen ist und ihm angehört. Das Ver¬
langen nach einer absoluten Einfachheit der Gesangsmelodie beruht auf einer
Reaction gegen die maßlose Uebertreibung im verzierten Gesang, die wie ge¬
wöhnlich selbst wieder übertreibt; und wenn jene aus der Virtuosität hervor¬
gegangen war, so hat dieses eine Hauptstütze an mangelhafter Gesangsbildung.

Uebrigens ist die künstlerische Einsicht Haydns in diesem Meisterwerk viel
tiefer zu verfolgen als in der geschickten Handhabung der äußeren Mittel.
Sie läßt sich in der Anlage der einzelnen Musikstücke und ihrer Gruppirung
nachweisen, und je undankbarer und eintöniger der Tert ist, um so größer ist
die Kunst des Componisten, der es verstand, durch die weise Vertheilung und
Anordnung diese Mängel zu verdecken und das Interesse gespannt zu erhalten.
Nirgend vielleicht ist dies bewunderungswürdiger als im Anfange bis zu den
Worten „Es werde Licht." Die ungeheure Wirkung derselben beruht nicht
etwa allein auf dem plötzlichen Eintreten des nach dem lange dauernden

viel bedeutsamer ist der Eintritt des lange ersehnten und immer zurückge¬
haltenen das den Zuhörer zum ersten Mal frei ausathmen läßt. Wenn
man den labyrinthischen Verschlingungen der Jnstrumentaleinleitung folgt, wo
jedes Instrument auf eigne Hand sich eine Existenz zu erringen sucht und
daher eins das andere immer zu stören scheint, wo in dem fortwährenden
Streben nach Gestaltung und Vereinigung durch unausgesetzte Seitenbewe>
gnügen einzelner jedes feste Zusammenschließen gehindert wird, so fällt es auf,
daß die Tonart, auf die man gleich anfangs hingewiesen wird, «natur, nie
angeschlagen wird, so oft man auch auf sie zugeführt wird. Dies Gefühl von
Unsicherheit bleibt auch in dem Anfangsrecitativ und den ersten Worten
des Chors, in denen immer um die Haupttonart herumgegangen wird, bis
mit dem Worte Licht die peinliche Spannung ein Ende nimmt und die Ton-


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[0022] flihrung macht den Singenden Freude, die Schwierigkeiten sind durch Uebung sicher zu überwinden, und alles klingt voll und schon. Allerdings werden Sänger dabei vorausgesetzt, die tüchtig geschult sind, und nicht, wie heutigen Tags so oft, bei einer guten Stimme mit allgemeiner Bildung statt GesangS- schule auszukommen glauben. Schon in den Chören macht es sich oft gel¬ tend, daß in Gesangschulen gebildete Choristen vorausgesetzt sind, und für die Soli ist auf wirkliche Gesangskunst gerechnet. Das war eine Freude zu hören, wie rein und sicher, wie frisch und lebendig die Chöre gesungen wurden, daß man in der gesunden und kräftigen Fülle des Wohllautes wie in einem Bade schwimmen und sich erfrischen konnte; und Frau Goldschmidt zeigte uns, was eine Solosängcrin sei. In so vollkommener Leistung erhielt auch die. Bravour ihr Recht und ihre Bedeutung, und was mühselig herausgestümpert oder seelenlos heruntergesungen als müßige und störende Zuthat erscheinen muß, erwies sich als ein Schmuck, der dem Ganzen nicht als ein Fremdes an¬ gesetzt, sondern aus ihm hervorgewachsen ist und ihm angehört. Das Ver¬ langen nach einer absoluten Einfachheit der Gesangsmelodie beruht auf einer Reaction gegen die maßlose Uebertreibung im verzierten Gesang, die wie ge¬ wöhnlich selbst wieder übertreibt; und wenn jene aus der Virtuosität hervor¬ gegangen war, so hat dieses eine Hauptstütze an mangelhafter Gesangsbildung. Uebrigens ist die künstlerische Einsicht Haydns in diesem Meisterwerk viel tiefer zu verfolgen als in der geschickten Handhabung der äußeren Mittel. Sie läßt sich in der Anlage der einzelnen Musikstücke und ihrer Gruppirung nachweisen, und je undankbarer und eintöniger der Tert ist, um so größer ist die Kunst des Componisten, der es verstand, durch die weise Vertheilung und Anordnung diese Mängel zu verdecken und das Interesse gespannt zu erhalten. Nirgend vielleicht ist dies bewunderungswürdiger als im Anfange bis zu den Worten „Es werde Licht." Die ungeheure Wirkung derselben beruht nicht etwa allein auf dem plötzlichen Eintreten des nach dem lange dauernden viel bedeutsamer ist der Eintritt des lange ersehnten und immer zurückge¬ haltenen das den Zuhörer zum ersten Mal frei ausathmen läßt. Wenn man den labyrinthischen Verschlingungen der Jnstrumentaleinleitung folgt, wo jedes Instrument auf eigne Hand sich eine Existenz zu erringen sucht und daher eins das andere immer zu stören scheint, wo in dem fortwährenden Streben nach Gestaltung und Vereinigung durch unausgesetzte Seitenbewe> gnügen einzelner jedes feste Zusammenschließen gehindert wird, so fällt es auf, daß die Tonart, auf die man gleich anfangs hingewiesen wird, «natur, nie angeschlagen wird, so oft man auch auf sie zugeführt wird. Dies Gefühl von Unsicherheit bleibt auch in dem Anfangsrecitativ und den ersten Worten des Chors, in denen immer um die Haupttonart herumgegangen wird, bis mit dem Worte Licht die peinliche Spannung ein Ende nimmt und die Ton-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/22>, abgerufen am 16.05.2024.