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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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ist. Sie schildern den Bruch in den Herzen der Menschen, die ein fremdarti¬
ges Ideal einer halb verstandenen Wirklichkeit entgegenbringen, und die daher
nie im Stande sind, etwas Ganzes mit voller Seele zu wollen, sich rasch und
kräftig zu entschließen. Die beiden Romane sind höchst geistvoll und regen
zu vielseitigem Nachdenken an, aber sie machen einen trüben Eindruck und
hinterlassen einen bittern Nachgeschmack; denn die ganze Zeit erscheint als
hoffnungslos, von Zweifeln überschüttet, der Verzweiflung zustrebend. Der
Verfasser hat mit Vorliebe und Eifer die socialistischen Bestrebungen der ärmern
Classen, die dogmatischen Untersuchungen des in sich selbst einkehrenden Pro¬
testantismus getheilt; er hat aber nirgend Befriedigung gefunden, er ist nicht
im Stande gewesen, sich einen neuen Glauben zu schaffen, der ihm den alten
überlieferten ersetzen könnte. Er ist unzufrieden, in einer Zeit zu leben, wo in
der Seele des nämlichen Menschen ein Gedanke den andern bekriegt, wo die
Empfindung dem Wissen widerspricht und jeder Act des Willens von der Blässe
der Reflexion angekränkelt wird. Diese Verstimmung hat eine an sich kräftige
Natur zu einem Zeitalter zurückgetrieben, wo die Menschen noch ganz und un¬
bedingt wollten und handelten, wo Haß und Liebe sich schroff entgegenstanden,
wo die innere Ueberzeugung noch nicht durch die Macht des Zweifels zersetzt
war, in das 16. Jahrhundert.

Gewiß wird man selten einer Periode der Geschichte begegnen, die eine
solche Fülle von Unmittelbarkeit, Eigenheit und Freiheit des Entschlusses ent¬
wickelt. Insofern hat Kingsley das Zeitalter richtig verstanden, aber freilich
hat er auch mit einer gewissen Aengstlichkeit alle die Momente zusammengehäuft,
in denen sich diese Unmittelbarkeit recht handgreiflich entwickelte. Er gleicht
einem Maler, der aus Ueberdruß an den Schattengestalten eines nervösen,
empfindsamen Geschmacks die Kraft der Musculatur übertreibt und einen Ath¬
leten darstellt, wo er einen Helden zeigen wollte.

Aber es sind doch kräftige, kühne Züge, diese abenteuerlichen, wilden Ge¬
sellen, die im Dienst der Elisabeth über das Meer gingen, um ihren Glauben
und ihren Patriotismus im Kampf gegen die Spanier zu bethätigen und neben¬
bei so viel Beute als möglich zusammenzubringen. Es sind Menschen von
wirklichem Fleisch und Blut, trotzig und verwegen, übermüthig und leichtfertig,
aber im rechten Augenblick entschlossen und jeder Gesahr gewachsen. Es ist
der Geist des jungen, lebensfrischen Protestantismus, der in ihnen athmet,
wohl zu unterscheiden von dem Geist der müden, lebenssatten Theologie, den
man jetzt wieder aufwecken möchte. Der englische Protestantismus war damals
ein kriegerischer, heldenhafter, lebensfroher Glaube; er stand noch in der rich¬
tigen Mitte zwischen der Glaubenslosigkeit der katholischen und dem finstern,
freudelosen Ernst des puritanischen Zeitalters. Es war der Geist, der Shake¬
speare groß gemacht und ihn zum verständlichsten Dichter aller Zeiten erhoben


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ist. Sie schildern den Bruch in den Herzen der Menschen, die ein fremdarti¬
ges Ideal einer halb verstandenen Wirklichkeit entgegenbringen, und die daher
nie im Stande sind, etwas Ganzes mit voller Seele zu wollen, sich rasch und
kräftig zu entschließen. Die beiden Romane sind höchst geistvoll und regen
zu vielseitigem Nachdenken an, aber sie machen einen trüben Eindruck und
hinterlassen einen bittern Nachgeschmack; denn die ganze Zeit erscheint als
hoffnungslos, von Zweifeln überschüttet, der Verzweiflung zustrebend. Der
Verfasser hat mit Vorliebe und Eifer die socialistischen Bestrebungen der ärmern
Classen, die dogmatischen Untersuchungen des in sich selbst einkehrenden Pro¬
testantismus getheilt; er hat aber nirgend Befriedigung gefunden, er ist nicht
im Stande gewesen, sich einen neuen Glauben zu schaffen, der ihm den alten
überlieferten ersetzen könnte. Er ist unzufrieden, in einer Zeit zu leben, wo in
der Seele des nämlichen Menschen ein Gedanke den andern bekriegt, wo die
Empfindung dem Wissen widerspricht und jeder Act des Willens von der Blässe
der Reflexion angekränkelt wird. Diese Verstimmung hat eine an sich kräftige
Natur zu einem Zeitalter zurückgetrieben, wo die Menschen noch ganz und un¬
bedingt wollten und handelten, wo Haß und Liebe sich schroff entgegenstanden,
wo die innere Ueberzeugung noch nicht durch die Macht des Zweifels zersetzt
war, in das 16. Jahrhundert.

Gewiß wird man selten einer Periode der Geschichte begegnen, die eine
solche Fülle von Unmittelbarkeit, Eigenheit und Freiheit des Entschlusses ent¬
wickelt. Insofern hat Kingsley das Zeitalter richtig verstanden, aber freilich
hat er auch mit einer gewissen Aengstlichkeit alle die Momente zusammengehäuft,
in denen sich diese Unmittelbarkeit recht handgreiflich entwickelte. Er gleicht
einem Maler, der aus Ueberdruß an den Schattengestalten eines nervösen,
empfindsamen Geschmacks die Kraft der Musculatur übertreibt und einen Ath¬
leten darstellt, wo er einen Helden zeigen wollte.

Aber es sind doch kräftige, kühne Züge, diese abenteuerlichen, wilden Ge¬
sellen, die im Dienst der Elisabeth über das Meer gingen, um ihren Glauben
und ihren Patriotismus im Kampf gegen die Spanier zu bethätigen und neben¬
bei so viel Beute als möglich zusammenzubringen. Es sind Menschen von
wirklichem Fleisch und Blut, trotzig und verwegen, übermüthig und leichtfertig,
aber im rechten Augenblick entschlossen und jeder Gesahr gewachsen. Es ist
der Geist des jungen, lebensfrischen Protestantismus, der in ihnen athmet,
wohl zu unterscheiden von dem Geist der müden, lebenssatten Theologie, den
man jetzt wieder aufwecken möchte. Der englische Protestantismus war damals
ein kriegerischer, heldenhafter, lebensfroher Glaube; er stand noch in der rich¬
tigen Mitte zwischen der Glaubenslosigkeit der katholischen und dem finstern,
freudelosen Ernst des puritanischen Zeitalters. Es war der Geist, der Shake¬
speare groß gemacht und ihn zum verständlichsten Dichter aller Zeiten erhoben


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[0411] ist. Sie schildern den Bruch in den Herzen der Menschen, die ein fremdarti¬ ges Ideal einer halb verstandenen Wirklichkeit entgegenbringen, und die daher nie im Stande sind, etwas Ganzes mit voller Seele zu wollen, sich rasch und kräftig zu entschließen. Die beiden Romane sind höchst geistvoll und regen zu vielseitigem Nachdenken an, aber sie machen einen trüben Eindruck und hinterlassen einen bittern Nachgeschmack; denn die ganze Zeit erscheint als hoffnungslos, von Zweifeln überschüttet, der Verzweiflung zustrebend. Der Verfasser hat mit Vorliebe und Eifer die socialistischen Bestrebungen der ärmern Classen, die dogmatischen Untersuchungen des in sich selbst einkehrenden Pro¬ testantismus getheilt; er hat aber nirgend Befriedigung gefunden, er ist nicht im Stande gewesen, sich einen neuen Glauben zu schaffen, der ihm den alten überlieferten ersetzen könnte. Er ist unzufrieden, in einer Zeit zu leben, wo in der Seele des nämlichen Menschen ein Gedanke den andern bekriegt, wo die Empfindung dem Wissen widerspricht und jeder Act des Willens von der Blässe der Reflexion angekränkelt wird. Diese Verstimmung hat eine an sich kräftige Natur zu einem Zeitalter zurückgetrieben, wo die Menschen noch ganz und un¬ bedingt wollten und handelten, wo Haß und Liebe sich schroff entgegenstanden, wo die innere Ueberzeugung noch nicht durch die Macht des Zweifels zersetzt war, in das 16. Jahrhundert. Gewiß wird man selten einer Periode der Geschichte begegnen, die eine solche Fülle von Unmittelbarkeit, Eigenheit und Freiheit des Entschlusses ent¬ wickelt. Insofern hat Kingsley das Zeitalter richtig verstanden, aber freilich hat er auch mit einer gewissen Aengstlichkeit alle die Momente zusammengehäuft, in denen sich diese Unmittelbarkeit recht handgreiflich entwickelte. Er gleicht einem Maler, der aus Ueberdruß an den Schattengestalten eines nervösen, empfindsamen Geschmacks die Kraft der Musculatur übertreibt und einen Ath¬ leten darstellt, wo er einen Helden zeigen wollte. Aber es sind doch kräftige, kühne Züge, diese abenteuerlichen, wilden Ge¬ sellen, die im Dienst der Elisabeth über das Meer gingen, um ihren Glauben und ihren Patriotismus im Kampf gegen die Spanier zu bethätigen und neben¬ bei so viel Beute als möglich zusammenzubringen. Es sind Menschen von wirklichem Fleisch und Blut, trotzig und verwegen, übermüthig und leichtfertig, aber im rechten Augenblick entschlossen und jeder Gesahr gewachsen. Es ist der Geist des jungen, lebensfrischen Protestantismus, der in ihnen athmet, wohl zu unterscheiden von dem Geist der müden, lebenssatten Theologie, den man jetzt wieder aufwecken möchte. Der englische Protestantismus war damals ein kriegerischer, heldenhafter, lebensfroher Glaube; er stand noch in der rich¬ tigen Mitte zwischen der Glaubenslosigkeit der katholischen und dem finstern, freudelosen Ernst des puritanischen Zeitalters. Es war der Geist, der Shake¬ speare groß gemacht und ihn zum verständlichsten Dichter aller Zeiten erhoben *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/411>, abgerufen am 10.06.2024.