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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band.

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polnischen Feldzüge über die Fundirung derselben aufkommen ließen, noch zu
steigern wußte. Zwei Feldzüge zweier Mächte, die nicht Grenznachbcirn von
Rußland sind und die nur die Küsten berühren konnten, haben Rußland
zu einem Frieden vermocht, wie es seit dem Jahre 1617 keinen ähnlichen ge¬
schlossen. Man sagte früher, Rußland ist, wenn auch vielleicht in der Offen¬
sive schwach, in der Defensive fast unüberwindlich; es hat sich herausgestellt,
daß letzteres wenigstens in dem Fall ein Irrthum ist, wenn der Angreifer
das Meer beherrscht. Der Gedanke, daß Rußland mächtiger sei als die übrigen
Großmächte beherrschte die europäische Politik seit 1814 und gab Nußland die
Entscheidung aller europäischen Fragen in die Hand. Dieser Gedanke ist jetzt
abgethan. Die Systemänderung in Stockholm, wir möchten fast sagen der
Abfall Schwedens von Rußland ist nur eine erste Folge dieser berichtigten
Auffassung.

Unwiederbringlich aber ist die völkerrechtliche Stellung Rußlands zum
Orient verändert. Rußland hatte es möglich gemacht, daß keine völkerrecht¬
liche Stipulatron das ottomanische Reich auf dieselbe Stufe mit den übrigen
Staaten Europas stellte; ja der Kaiser Nikolaus nahm die Allüren des Tief-
gekränkten an, wenn sich eine andere europäische Macht um seine Beziehungen
zu der Türkei bekümmerte. Er wollte von dem übrigen Europa die Händel,
die er mit der Türkei anfing, als eine Familienangelegenheit betrachtet wissen.
Der künftige Geschichtschreiber wird aus diesem Gefühl allein die wunderbare
Hartnäckigkeit und Reizbarkeit des Kaiser Nikolaus in dem letzten halben
Jahre vor dem Ausbruche des Krieges zu erklären haben. Der Kaiser wollte
der Türkei zugestehen, was Europa verlangte, aber wohlverstanden, der Türkei,
nicht Europa. "Ich lasse mich nicht," erklärte er, "wie ein Rekrut vor ein
europäisches Kriegsgericht stellen." Daran scheiterten alle Friedensversuche
und jetzt, zu all den materiellen Opfern, muß Nußland selbst mitwirken, die
Türkei unter die Garantie ganz Europas zu stellen, muß ein formelles und ver¬
tragsmäßiges Einmischungörecht der übrigen Großmächte in seine künftigen
Händel mit der Türkei anerkennen, muß auf alle rechtlichen Handhaben ver¬
zichten, welche ihm die Stellung der Christen und das Protectorat der Fürsten-
thümer bot, um, wenn es beliebte, Streit anzufangen, es muß es sich gefallen
lassen, selbst die thatsächliche Handhabe aufzugeben, welche ihm seine Flotte
früher über die Türkei gab. Das Meer, welches seine Südküste bespült, ist
ihm selbst ein in-rrs clausum geworden, es muß Gebiet abtreten, damit es durch
ein unter europäischem Protectorat stehendes Land von der eigentlichen Türkei
getrennt werde.

Unglückliche Friedensschlüsse haben gewöhnlich innere Umgestaltungen zur
Folge. Rußland wird denselben jetzt um so weniger entgehen, als man wäh¬
rend des Krieges den nationalen und religiösen Fanatismus der Massen ent-


polnischen Feldzüge über die Fundirung derselben aufkommen ließen, noch zu
steigern wußte. Zwei Feldzüge zweier Mächte, die nicht Grenznachbcirn von
Rußland sind und die nur die Küsten berühren konnten, haben Rußland
zu einem Frieden vermocht, wie es seit dem Jahre 1617 keinen ähnlichen ge¬
schlossen. Man sagte früher, Rußland ist, wenn auch vielleicht in der Offen¬
sive schwach, in der Defensive fast unüberwindlich; es hat sich herausgestellt,
daß letzteres wenigstens in dem Fall ein Irrthum ist, wenn der Angreifer
das Meer beherrscht. Der Gedanke, daß Rußland mächtiger sei als die übrigen
Großmächte beherrschte die europäische Politik seit 1814 und gab Nußland die
Entscheidung aller europäischen Fragen in die Hand. Dieser Gedanke ist jetzt
abgethan. Die Systemänderung in Stockholm, wir möchten fast sagen der
Abfall Schwedens von Rußland ist nur eine erste Folge dieser berichtigten
Auffassung.

Unwiederbringlich aber ist die völkerrechtliche Stellung Rußlands zum
Orient verändert. Rußland hatte es möglich gemacht, daß keine völkerrecht¬
liche Stipulatron das ottomanische Reich auf dieselbe Stufe mit den übrigen
Staaten Europas stellte; ja der Kaiser Nikolaus nahm die Allüren des Tief-
gekränkten an, wenn sich eine andere europäische Macht um seine Beziehungen
zu der Türkei bekümmerte. Er wollte von dem übrigen Europa die Händel,
die er mit der Türkei anfing, als eine Familienangelegenheit betrachtet wissen.
Der künftige Geschichtschreiber wird aus diesem Gefühl allein die wunderbare
Hartnäckigkeit und Reizbarkeit des Kaiser Nikolaus in dem letzten halben
Jahre vor dem Ausbruche des Krieges zu erklären haben. Der Kaiser wollte
der Türkei zugestehen, was Europa verlangte, aber wohlverstanden, der Türkei,
nicht Europa. „Ich lasse mich nicht," erklärte er, „wie ein Rekrut vor ein
europäisches Kriegsgericht stellen." Daran scheiterten alle Friedensversuche
und jetzt, zu all den materiellen Opfern, muß Nußland selbst mitwirken, die
Türkei unter die Garantie ganz Europas zu stellen, muß ein formelles und ver¬
tragsmäßiges Einmischungörecht der übrigen Großmächte in seine künftigen
Händel mit der Türkei anerkennen, muß auf alle rechtlichen Handhaben ver¬
zichten, welche ihm die Stellung der Christen und das Protectorat der Fürsten-
thümer bot, um, wenn es beliebte, Streit anzufangen, es muß es sich gefallen
lassen, selbst die thatsächliche Handhabe aufzugeben, welche ihm seine Flotte
früher über die Türkei gab. Das Meer, welches seine Südküste bespült, ist
ihm selbst ein in-rrs clausum geworden, es muß Gebiet abtreten, damit es durch
ein unter europäischem Protectorat stehendes Land von der eigentlichen Türkei
getrennt werde.

Unglückliche Friedensschlüsse haben gewöhnlich innere Umgestaltungen zur
Folge. Rußland wird denselben jetzt um so weniger entgehen, als man wäh¬
rend des Krieges den nationalen und religiösen Fanatismus der Massen ent-


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[0524] polnischen Feldzüge über die Fundirung derselben aufkommen ließen, noch zu steigern wußte. Zwei Feldzüge zweier Mächte, die nicht Grenznachbcirn von Rußland sind und die nur die Küsten berühren konnten, haben Rußland zu einem Frieden vermocht, wie es seit dem Jahre 1617 keinen ähnlichen ge¬ schlossen. Man sagte früher, Rußland ist, wenn auch vielleicht in der Offen¬ sive schwach, in der Defensive fast unüberwindlich; es hat sich herausgestellt, daß letzteres wenigstens in dem Fall ein Irrthum ist, wenn der Angreifer das Meer beherrscht. Der Gedanke, daß Rußland mächtiger sei als die übrigen Großmächte beherrschte die europäische Politik seit 1814 und gab Nußland die Entscheidung aller europäischen Fragen in die Hand. Dieser Gedanke ist jetzt abgethan. Die Systemänderung in Stockholm, wir möchten fast sagen der Abfall Schwedens von Rußland ist nur eine erste Folge dieser berichtigten Auffassung. Unwiederbringlich aber ist die völkerrechtliche Stellung Rußlands zum Orient verändert. Rußland hatte es möglich gemacht, daß keine völkerrecht¬ liche Stipulatron das ottomanische Reich auf dieselbe Stufe mit den übrigen Staaten Europas stellte; ja der Kaiser Nikolaus nahm die Allüren des Tief- gekränkten an, wenn sich eine andere europäische Macht um seine Beziehungen zu der Türkei bekümmerte. Er wollte von dem übrigen Europa die Händel, die er mit der Türkei anfing, als eine Familienangelegenheit betrachtet wissen. Der künftige Geschichtschreiber wird aus diesem Gefühl allein die wunderbare Hartnäckigkeit und Reizbarkeit des Kaiser Nikolaus in dem letzten halben Jahre vor dem Ausbruche des Krieges zu erklären haben. Der Kaiser wollte der Türkei zugestehen, was Europa verlangte, aber wohlverstanden, der Türkei, nicht Europa. „Ich lasse mich nicht," erklärte er, „wie ein Rekrut vor ein europäisches Kriegsgericht stellen." Daran scheiterten alle Friedensversuche und jetzt, zu all den materiellen Opfern, muß Nußland selbst mitwirken, die Türkei unter die Garantie ganz Europas zu stellen, muß ein formelles und ver¬ tragsmäßiges Einmischungörecht der übrigen Großmächte in seine künftigen Händel mit der Türkei anerkennen, muß auf alle rechtlichen Handhaben ver¬ zichten, welche ihm die Stellung der Christen und das Protectorat der Fürsten- thümer bot, um, wenn es beliebte, Streit anzufangen, es muß es sich gefallen lassen, selbst die thatsächliche Handhabe aufzugeben, welche ihm seine Flotte früher über die Türkei gab. Das Meer, welches seine Südküste bespült, ist ihm selbst ein in-rrs clausum geworden, es muß Gebiet abtreten, damit es durch ein unter europäischem Protectorat stehendes Land von der eigentlichen Türkei getrennt werde. Unglückliche Friedensschlüsse haben gewöhnlich innere Umgestaltungen zur Folge. Rußland wird denselben jetzt um so weniger entgehen, als man wäh¬ rend des Krieges den nationalen und religiösen Fanatismus der Massen ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_100992/524>, abgerufen am 19.05.2024.