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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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über die Grenze des Erlaubten hinausgeht. In Beziehung auf das Factische
unterscheidet Mommsen nicht immer genau zwischen Evidenz und Wahrschein¬
lichkeit. Er ist höchst geistvoll im Combiniren und entdeckt rasch den Kern der
Dinge, die Resultate seines Nachdenkens haben sast immer den höchsten Grad
von Wahrscheinlichkeit; aber das berechtigt ihn doch noch nicht, seine Ver¬
muthungen so hinzustellen, als ob damit die Acten geschlossen wären. So ist
z. B. das Gewebe der catilinarischen Verschwörung sehr interessant ent¬
wickelt, aber die Begründung ist doch nicht fest genug, um alles Einzelne
außer Zweifel zu stellen. So ist ferner die Färbung zu stark, wenn dem
Gajus Gracchus ein bewußtes Streben nach der Tyrannis beigelegt wird.
Wenn Mommsen mit logischer Nothwendigkeit einsieht, daß die Mittel dieser
Volksbewegung schließlich zur Tyrannis führen mußten, und wenn er dem
Gracchus zu viel Einsicht zutraut, um das nicht gleichfalls zu begreifen, so ist
es doch ein großer Unterschied, ob man die Sache an sich, oder die Sache mit
dem Namen erstrebt. Der größte Denker, der entschlossenste Charakter ist nicht
im Stande, sich die Folgen seiner That bis in ihre letzten Verzweigungen aus¬
zumalen. Ein Schritt führt den andern herbei, und grade das nachtwandle¬
risch schaffende Genie wird zuweilen durch seine eignen Consequenzen am meisten
überrascht. Das Streben nach dem Königthum war ein Capitalverbrechen.
Wenn Gracchus die Macht wollte, so ist doch kein Grund, anzunehmen, daß
er auch den Titel wollte, und der Geschichtschreiber muß darin dem Geschwor¬
nen gleichen; er darf nur die That an sich ins Auge fassen, nicht ihre Folgen,
wie sie sich in seinem eignen Geist abmalen. Wenn Gracchus jenes juristisch
umschriebenen Verbrechens angeklagt wäre, so müßte Mommsen als Geschwor¬
ner ihn frei sprechen: er darf'auch als Historiker kein anderes Urtheil fällen.
Die Verurteilung des Sokrates bleibt ein Justizmord, obgleich die moderne
Philosophie nachgewiesen hat, daß der Anklage eine tiefere Begründung nicht
fehlte -- Diese Vermischung von Evidenz und Wahrscheinlichkeit wird um so
gefährlicher, da Mommsen sich gern auf psychologische Entwicklungen einläßt.
Mit unglaublicher Schnelligkeit erkennt er den Kern eines Charakters; aber
dann begeht er den Fehler, aus diesem heraus alle einzelnen Handlungen her¬
zuleiten. Wenn auch diese Schlüsse den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit
enthalten, so ist der Historiker doch nicht berechtigt, gleich dem Romanschreiber
auch das zu erzählen, was er nicht weiß. Wir machen z. B. auf die Ge¬
schichte des Cäsar und Pompejus aufmerksam. Den innern Kern beider Männer
hat Mommsen vollkommen richtig dargestellt; aber nun versäumt er auch nie¬
mals, bei jedem einzelnen Factum die Handlungsweise des Pompejus aus
"Adrigen und lächerlichen, die Handlungsweise des Cäsar aus weisen und
hohen Motiven herzuleiten, auch wenn beide genau dasselbe thun. Wenn
Cäsar einen Fehler macht, so ist das nur ein Symptom des Genies, welches


Grenzboten. II. 18L6. 3

über die Grenze des Erlaubten hinausgeht. In Beziehung auf das Factische
unterscheidet Mommsen nicht immer genau zwischen Evidenz und Wahrschein¬
lichkeit. Er ist höchst geistvoll im Combiniren und entdeckt rasch den Kern der
Dinge, die Resultate seines Nachdenkens haben sast immer den höchsten Grad
von Wahrscheinlichkeit; aber das berechtigt ihn doch noch nicht, seine Ver¬
muthungen so hinzustellen, als ob damit die Acten geschlossen wären. So ist
z. B. das Gewebe der catilinarischen Verschwörung sehr interessant ent¬
wickelt, aber die Begründung ist doch nicht fest genug, um alles Einzelne
außer Zweifel zu stellen. So ist ferner die Färbung zu stark, wenn dem
Gajus Gracchus ein bewußtes Streben nach der Tyrannis beigelegt wird.
Wenn Mommsen mit logischer Nothwendigkeit einsieht, daß die Mittel dieser
Volksbewegung schließlich zur Tyrannis führen mußten, und wenn er dem
Gracchus zu viel Einsicht zutraut, um das nicht gleichfalls zu begreifen, so ist
es doch ein großer Unterschied, ob man die Sache an sich, oder die Sache mit
dem Namen erstrebt. Der größte Denker, der entschlossenste Charakter ist nicht
im Stande, sich die Folgen seiner That bis in ihre letzten Verzweigungen aus¬
zumalen. Ein Schritt führt den andern herbei, und grade das nachtwandle¬
risch schaffende Genie wird zuweilen durch seine eignen Consequenzen am meisten
überrascht. Das Streben nach dem Königthum war ein Capitalverbrechen.
Wenn Gracchus die Macht wollte, so ist doch kein Grund, anzunehmen, daß
er auch den Titel wollte, und der Geschichtschreiber muß darin dem Geschwor¬
nen gleichen; er darf nur die That an sich ins Auge fassen, nicht ihre Folgen,
wie sie sich in seinem eignen Geist abmalen. Wenn Gracchus jenes juristisch
umschriebenen Verbrechens angeklagt wäre, so müßte Mommsen als Geschwor¬
ner ihn frei sprechen: er darf'auch als Historiker kein anderes Urtheil fällen.
Die Verurteilung des Sokrates bleibt ein Justizmord, obgleich die moderne
Philosophie nachgewiesen hat, daß der Anklage eine tiefere Begründung nicht
fehlte — Diese Vermischung von Evidenz und Wahrscheinlichkeit wird um so
gefährlicher, da Mommsen sich gern auf psychologische Entwicklungen einläßt.
Mit unglaublicher Schnelligkeit erkennt er den Kern eines Charakters; aber
dann begeht er den Fehler, aus diesem heraus alle einzelnen Handlungen her¬
zuleiten. Wenn auch diese Schlüsse den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit
enthalten, so ist der Historiker doch nicht berechtigt, gleich dem Romanschreiber
auch das zu erzählen, was er nicht weiß. Wir machen z. B. auf die Ge¬
schichte des Cäsar und Pompejus aufmerksam. Den innern Kern beider Männer
hat Mommsen vollkommen richtig dargestellt; aber nun versäumt er auch nie¬
mals, bei jedem einzelnen Factum die Handlungsweise des Pompejus aus
"Adrigen und lächerlichen, die Handlungsweise des Cäsar aus weisen und
hohen Motiven herzuleiten, auch wenn beide genau dasselbe thun. Wenn
Cäsar einen Fehler macht, so ist das nur ein Symptom des Genies, welches


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[0025] über die Grenze des Erlaubten hinausgeht. In Beziehung auf das Factische unterscheidet Mommsen nicht immer genau zwischen Evidenz und Wahrschein¬ lichkeit. Er ist höchst geistvoll im Combiniren und entdeckt rasch den Kern der Dinge, die Resultate seines Nachdenkens haben sast immer den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit; aber das berechtigt ihn doch noch nicht, seine Ver¬ muthungen so hinzustellen, als ob damit die Acten geschlossen wären. So ist z. B. das Gewebe der catilinarischen Verschwörung sehr interessant ent¬ wickelt, aber die Begründung ist doch nicht fest genug, um alles Einzelne außer Zweifel zu stellen. So ist ferner die Färbung zu stark, wenn dem Gajus Gracchus ein bewußtes Streben nach der Tyrannis beigelegt wird. Wenn Mommsen mit logischer Nothwendigkeit einsieht, daß die Mittel dieser Volksbewegung schließlich zur Tyrannis führen mußten, und wenn er dem Gracchus zu viel Einsicht zutraut, um das nicht gleichfalls zu begreifen, so ist es doch ein großer Unterschied, ob man die Sache an sich, oder die Sache mit dem Namen erstrebt. Der größte Denker, der entschlossenste Charakter ist nicht im Stande, sich die Folgen seiner That bis in ihre letzten Verzweigungen aus¬ zumalen. Ein Schritt führt den andern herbei, und grade das nachtwandle¬ risch schaffende Genie wird zuweilen durch seine eignen Consequenzen am meisten überrascht. Das Streben nach dem Königthum war ein Capitalverbrechen. Wenn Gracchus die Macht wollte, so ist doch kein Grund, anzunehmen, daß er auch den Titel wollte, und der Geschichtschreiber muß darin dem Geschwor¬ nen gleichen; er darf nur die That an sich ins Auge fassen, nicht ihre Folgen, wie sie sich in seinem eignen Geist abmalen. Wenn Gracchus jenes juristisch umschriebenen Verbrechens angeklagt wäre, so müßte Mommsen als Geschwor¬ ner ihn frei sprechen: er darf'auch als Historiker kein anderes Urtheil fällen. Die Verurteilung des Sokrates bleibt ein Justizmord, obgleich die moderne Philosophie nachgewiesen hat, daß der Anklage eine tiefere Begründung nicht fehlte — Diese Vermischung von Evidenz und Wahrscheinlichkeit wird um so gefährlicher, da Mommsen sich gern auf psychologische Entwicklungen einläßt. Mit unglaublicher Schnelligkeit erkennt er den Kern eines Charakters; aber dann begeht er den Fehler, aus diesem heraus alle einzelnen Handlungen her¬ zuleiten. Wenn auch diese Schlüsse den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit enthalten, so ist der Historiker doch nicht berechtigt, gleich dem Romanschreiber auch das zu erzählen, was er nicht weiß. Wir machen z. B. auf die Ge¬ schichte des Cäsar und Pompejus aufmerksam. Den innern Kern beider Männer hat Mommsen vollkommen richtig dargestellt; aber nun versäumt er auch nie¬ mals, bei jedem einzelnen Factum die Handlungsweise des Pompejus aus "Adrigen und lächerlichen, die Handlungsweise des Cäsar aus weisen und hohen Motiven herzuleiten, auch wenn beide genau dasselbe thun. Wenn Cäsar einen Fehler macht, so ist das nur ein Symptom des Genies, welches Grenzboten. II. 18L6. 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/25>, abgerufen am 22.05.2024.