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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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kommt. Auch für sie ist die Literatur und namentlich die Poesie die eigentliche
Blüte der Cultur, während die historische Schule ausschließlich ihre Aufmerk¬
samkeit auf die sittlichen Zustände wendet. Die historische Schule bemüht sich,
unparteiisch, objectiv-interesselos bis zur Selbstverleugnung zu sein, während
die Ideen der philosophischen Schule zuletzt in Parteistichwörter auslaufen. --
Wie auch hier die einseitige philosophische Bildung sich allmälig mit concrete'in
Detail erfüllt, und die Resultate der andern Richtungen in sich aufzunehmen
sucht, zeigt namentlich Droysen. -- Die dritte Richtung ist die geistvollere und
gelehrtere Durchführung des alten Pragmatismus. Diese Schule geht von
dem sittlich-politischen Bewußtsein der Gegenwart aus und macht dasselbe
zum Maßstab des Urtheils über die Vergangenheit. Nicht die Erforschung der
Thatsachen, nicht die Construction der Ideen, sondern die Feststellung des sitt¬
lichen Urtheils ist ihr die Hauptsache. Sie legt der Geschichte vorzugsweise
einen pädogischen Zweck bei, den Zweck, das Volk über seine Interessen aufzu¬
klären und ihm Achtung vor jeder wahren Größe, Verachtung jeder Hohlheit
und jedes Scheins einzuflößen. Schlosser ist der Gründer dieser Schule, Ger-
vinus sein bedeutendster Nachfolger. -- Nun versteht es sich von selbst, daß
die einzelnen Richtungen sich nie so vollständig voneinander absondern konn¬
ten, daß irgend eine dieser Erscheinungen das Princip rein und ungemischt
ausdrückt; aber in jedem bestimmten Fall ist das Uebergewicht deS einen Mo¬
ments über das andere deutlich herauszuerkennen. -- Erst in neuester Zeit fin¬
det eine Ausgleichung statt. Die politische Aufregung der letzten Jahre hat
ein bestimmtes politisches Nationalbewußtsein hervorgebracht, dem sich auch der
objective Künstler, der unparteiische Kritiker nicht entziehen kann, und auf der
andern Seite hat die akademische Bildung eine so große Ausbreitung und Fe¬
stigkeit gewonnen, daß es auch dem leidenschaftlichsten Parteimann nicht mehr
einfallen wird, Geschichte zu schreiben, ohne die Quellen nach strengster Me¬
thode zu prüfen. Nehmen wir die jüngeren Schüler Rankes, z. B. Waitz und
Sybel, sodann Droysen, dessen Grundlage die philosophisch-philologische Bil¬
dung ist, und etwa Duncker, der der Schlosserschen Richtung am nächsten steht,
1v werden wir trotz aller Abweichungen eine wesentliche Verwandtschaft ent¬
decken, und diese Verwandtschaft beruht darin, daß wir es nicht mehr mit ab¬
strakten Gelehrten, nicht mehr mit einseitigen Philologen, Juristen, Philosophen,
Künstlern :c. zu thun haben,, sondern mit politischen Charakteren, die dem
^eben nicht müßig zusehen, sondern thätig in dasselbe einzugreifen bemüht sind.
Wenn die Paulskirche auch die deutsche Politik nicht wesentlich gefördert hat,
^ hat sie desto segensreicher auf unsere Geschichtschreibung eingewirkt.

Die beiden Schriftsteller, von denen hier die Rede ist, haben durchaus kei-
rhetorischen oder philosophischen Zweck; sie erzählen schlicht und einfach,
^as sie zu erzählen haben, und es zeigt sich, daß daraus der zweckmäßigste


kommt. Auch für sie ist die Literatur und namentlich die Poesie die eigentliche
Blüte der Cultur, während die historische Schule ausschließlich ihre Aufmerk¬
samkeit auf die sittlichen Zustände wendet. Die historische Schule bemüht sich,
unparteiisch, objectiv-interesselos bis zur Selbstverleugnung zu sein, während
die Ideen der philosophischen Schule zuletzt in Parteistichwörter auslaufen. —
Wie auch hier die einseitige philosophische Bildung sich allmälig mit concrete'in
Detail erfüllt, und die Resultate der andern Richtungen in sich aufzunehmen
sucht, zeigt namentlich Droysen. — Die dritte Richtung ist die geistvollere und
gelehrtere Durchführung des alten Pragmatismus. Diese Schule geht von
dem sittlich-politischen Bewußtsein der Gegenwart aus und macht dasselbe
zum Maßstab des Urtheils über die Vergangenheit. Nicht die Erforschung der
Thatsachen, nicht die Construction der Ideen, sondern die Feststellung des sitt¬
lichen Urtheils ist ihr die Hauptsache. Sie legt der Geschichte vorzugsweise
einen pädogischen Zweck bei, den Zweck, das Volk über seine Interessen aufzu¬
klären und ihm Achtung vor jeder wahren Größe, Verachtung jeder Hohlheit
und jedes Scheins einzuflößen. Schlosser ist der Gründer dieser Schule, Ger-
vinus sein bedeutendster Nachfolger. — Nun versteht es sich von selbst, daß
die einzelnen Richtungen sich nie so vollständig voneinander absondern konn¬
ten, daß irgend eine dieser Erscheinungen das Princip rein und ungemischt
ausdrückt; aber in jedem bestimmten Fall ist das Uebergewicht deS einen Mo¬
ments über das andere deutlich herauszuerkennen. — Erst in neuester Zeit fin¬
det eine Ausgleichung statt. Die politische Aufregung der letzten Jahre hat
ein bestimmtes politisches Nationalbewußtsein hervorgebracht, dem sich auch der
objective Künstler, der unparteiische Kritiker nicht entziehen kann, und auf der
andern Seite hat die akademische Bildung eine so große Ausbreitung und Fe¬
stigkeit gewonnen, daß es auch dem leidenschaftlichsten Parteimann nicht mehr
einfallen wird, Geschichte zu schreiben, ohne die Quellen nach strengster Me¬
thode zu prüfen. Nehmen wir die jüngeren Schüler Rankes, z. B. Waitz und
Sybel, sodann Droysen, dessen Grundlage die philosophisch-philologische Bil¬
dung ist, und etwa Duncker, der der Schlosserschen Richtung am nächsten steht,
1v werden wir trotz aller Abweichungen eine wesentliche Verwandtschaft ent¬
decken, und diese Verwandtschaft beruht darin, daß wir es nicht mehr mit ab¬
strakten Gelehrten, nicht mehr mit einseitigen Philologen, Juristen, Philosophen,
Künstlern :c. zu thun haben,, sondern mit politischen Charakteren, die dem
^eben nicht müßig zusehen, sondern thätig in dasselbe einzugreifen bemüht sind.
Wenn die Paulskirche auch die deutsche Politik nicht wesentlich gefördert hat,
^ hat sie desto segensreicher auf unsere Geschichtschreibung eingewirkt.

Die beiden Schriftsteller, von denen hier die Rede ist, haben durchaus kei-
rhetorischen oder philosophischen Zweck; sie erzählen schlicht und einfach,
^as sie zu erzählen haben, und es zeigt sich, daß daraus der zweckmäßigste


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[0359] kommt. Auch für sie ist die Literatur und namentlich die Poesie die eigentliche Blüte der Cultur, während die historische Schule ausschließlich ihre Aufmerk¬ samkeit auf die sittlichen Zustände wendet. Die historische Schule bemüht sich, unparteiisch, objectiv-interesselos bis zur Selbstverleugnung zu sein, während die Ideen der philosophischen Schule zuletzt in Parteistichwörter auslaufen. — Wie auch hier die einseitige philosophische Bildung sich allmälig mit concrete'in Detail erfüllt, und die Resultate der andern Richtungen in sich aufzunehmen sucht, zeigt namentlich Droysen. — Die dritte Richtung ist die geistvollere und gelehrtere Durchführung des alten Pragmatismus. Diese Schule geht von dem sittlich-politischen Bewußtsein der Gegenwart aus und macht dasselbe zum Maßstab des Urtheils über die Vergangenheit. Nicht die Erforschung der Thatsachen, nicht die Construction der Ideen, sondern die Feststellung des sitt¬ lichen Urtheils ist ihr die Hauptsache. Sie legt der Geschichte vorzugsweise einen pädogischen Zweck bei, den Zweck, das Volk über seine Interessen aufzu¬ klären und ihm Achtung vor jeder wahren Größe, Verachtung jeder Hohlheit und jedes Scheins einzuflößen. Schlosser ist der Gründer dieser Schule, Ger- vinus sein bedeutendster Nachfolger. — Nun versteht es sich von selbst, daß die einzelnen Richtungen sich nie so vollständig voneinander absondern konn¬ ten, daß irgend eine dieser Erscheinungen das Princip rein und ungemischt ausdrückt; aber in jedem bestimmten Fall ist das Uebergewicht deS einen Mo¬ ments über das andere deutlich herauszuerkennen. — Erst in neuester Zeit fin¬ det eine Ausgleichung statt. Die politische Aufregung der letzten Jahre hat ein bestimmtes politisches Nationalbewußtsein hervorgebracht, dem sich auch der objective Künstler, der unparteiische Kritiker nicht entziehen kann, und auf der andern Seite hat die akademische Bildung eine so große Ausbreitung und Fe¬ stigkeit gewonnen, daß es auch dem leidenschaftlichsten Parteimann nicht mehr einfallen wird, Geschichte zu schreiben, ohne die Quellen nach strengster Me¬ thode zu prüfen. Nehmen wir die jüngeren Schüler Rankes, z. B. Waitz und Sybel, sodann Droysen, dessen Grundlage die philosophisch-philologische Bil¬ dung ist, und etwa Duncker, der der Schlosserschen Richtung am nächsten steht, 1v werden wir trotz aller Abweichungen eine wesentliche Verwandtschaft ent¬ decken, und diese Verwandtschaft beruht darin, daß wir es nicht mehr mit ab¬ strakten Gelehrten, nicht mehr mit einseitigen Philologen, Juristen, Philosophen, Künstlern :c. zu thun haben,, sondern mit politischen Charakteren, die dem ^eben nicht müßig zusehen, sondern thätig in dasselbe einzugreifen bemüht sind. Wenn die Paulskirche auch die deutsche Politik nicht wesentlich gefördert hat, ^ hat sie desto segensreicher auf unsere Geschichtschreibung eingewirkt. Die beiden Schriftsteller, von denen hier die Rede ist, haben durchaus kei- rhetorischen oder philosophischen Zweck; sie erzählen schlicht und einfach, ^as sie zu erzählen haben, und es zeigt sich, daß daraus der zweckmäßigste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/359>, abgerufen am 22.05.2024.