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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

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neuerer Zeit dagegen ist der Grad der Bildung eines von den ersten Dingen,
wonach man fragt, wenn man den Werth einer Frau bestimmen will. Freilich
herrscht über daS, was mau uuter Bildung verstehen soll, die wunderlichste
Verwirrung. Man nennt in der Regel diejenige Frau gebildet, die, über
Rossini und Shakespeare, über Kaulbach und G. Sand mit einer gewissen Ge¬
läufigkeit Conservation zu machen versteht und fragt wenig danach, ob diese
Urtheile innerlich empfunden und durchgearbeitet oder lediglich eingelernt sind.

Es liegt auf der Hand, daß auch in Beziehung aus das Erziehungssystem
zwischen den beiden Geschlechtern ein Unterschied gemacht werden muß; ab-
> gesehen davon, baß ihr späteres Leben verschiedenartige Vorkenntnisse und Ge-
schicklichkeiten erheischt, weist sie auch die Natur auf eine verschiedenartige
Thätigkeit hin, die sich im Wesentlichen auf den Gegensatz des Zeugers und
Empfängnis zurückführen läßt. Es ist über diesen Gegenstand bereits so viel
Welses und Thörichtes gesagt worden, daß niemand daran denken wird, etwas
Neues dazu bringen zu wollen. Im Ganzen wird alle Welt darüber einig sein,
daß in geistiger Beziehung der dem Mann die Fähigkeit der Begriffe und Ab¬
straktionen, bei dem Weib die Fähigkeit der Vorstellungen und Anschauungen
überwiegt; bei dem Mann der Grundsatz, bei dem Weib das unmittelbare Ur¬
theil. Daß die Erziehung auf diesen Gegensatz Rücksicht nimmt, ist ganz in
der Ordnung; nur scheint es verfehlt, diese Rücksicht so weit zu treiben, daß
man die Anlage gradezu mit dem Ziel, der Erziehung verwechselt, und darauf
gehen im Grunde alle unsere Töchterschulen aus. Sie vermeiden es mit einer
gewissen Aengstlichkeit, irgend einen Gegenstand anzuregen, wobei von Zer¬
gliederung, Regel und System die Rede ist, und wo sie es nicht ganz umgehen
könne", wie z. B. bei der Erlernung einer Sprache, verstecken sie es so viel als
möglich; sie suchen das junge Mädchen darüber zu täuschen, daß es eine Regel
empfängt, indem sie ihm vorspiegeln, es handle sich nur um eiuen individuellen
Fall und wenn auch bei dieser Methode die Erlernung der Sprache zuweilen
erleichtert wird, so geht doch der größte Gewinn der geistigen Gymnastik darüber
verloren, nämlich sich in jedem Fall'darüber klare Rechenschaft zu geben, aus
welchen Gründen man so oder so verfährt. Die lateinische Grammatik, welche
mit vollem Recht dem Knabenunterricht zu Grunde liegt, wie der juristischen
Bildung das römische Recht, lehrt die Knaben nicht blos lateinische Autoren
verstehen, und sich selbst lateinisch ausdrücken/ sondern sie lehrt sie gradezu
logisch denken. So lange die Realschulen nicht einen Ähnlicher Gegenstand
gefuuveu haben werden (vie Mathematik kaun-es ihres abstracten Inhalts
wegen nicht sein), werden sie im Zustand eines hoffnungslosen Erperimentirenö
bleiben.

Bei den Töchterschulen ist das in noch weit höherem Grade der Fall;
denn auch selbst diejenigen Disciplinen, die sie mit den Knabenschulen gemein


neuerer Zeit dagegen ist der Grad der Bildung eines von den ersten Dingen,
wonach man fragt, wenn man den Werth einer Frau bestimmen will. Freilich
herrscht über daS, was mau uuter Bildung verstehen soll, die wunderlichste
Verwirrung. Man nennt in der Regel diejenige Frau gebildet, die, über
Rossini und Shakespeare, über Kaulbach und G. Sand mit einer gewissen Ge¬
läufigkeit Conservation zu machen versteht und fragt wenig danach, ob diese
Urtheile innerlich empfunden und durchgearbeitet oder lediglich eingelernt sind.

Es liegt auf der Hand, daß auch in Beziehung aus das Erziehungssystem
zwischen den beiden Geschlechtern ein Unterschied gemacht werden muß; ab-
> gesehen davon, baß ihr späteres Leben verschiedenartige Vorkenntnisse und Ge-
schicklichkeiten erheischt, weist sie auch die Natur auf eine verschiedenartige
Thätigkeit hin, die sich im Wesentlichen auf den Gegensatz des Zeugers und
Empfängnis zurückführen läßt. Es ist über diesen Gegenstand bereits so viel
Welses und Thörichtes gesagt worden, daß niemand daran denken wird, etwas
Neues dazu bringen zu wollen. Im Ganzen wird alle Welt darüber einig sein,
daß in geistiger Beziehung der dem Mann die Fähigkeit der Begriffe und Ab¬
straktionen, bei dem Weib die Fähigkeit der Vorstellungen und Anschauungen
überwiegt; bei dem Mann der Grundsatz, bei dem Weib das unmittelbare Ur¬
theil. Daß die Erziehung auf diesen Gegensatz Rücksicht nimmt, ist ganz in
der Ordnung; nur scheint es verfehlt, diese Rücksicht so weit zu treiben, daß
man die Anlage gradezu mit dem Ziel, der Erziehung verwechselt, und darauf
gehen im Grunde alle unsere Töchterschulen aus. Sie vermeiden es mit einer
gewissen Aengstlichkeit, irgend einen Gegenstand anzuregen, wobei von Zer¬
gliederung, Regel und System die Rede ist, und wo sie es nicht ganz umgehen
könne», wie z. B. bei der Erlernung einer Sprache, verstecken sie es so viel als
möglich; sie suchen das junge Mädchen darüber zu täuschen, daß es eine Regel
empfängt, indem sie ihm vorspiegeln, es handle sich nur um eiuen individuellen
Fall und wenn auch bei dieser Methode die Erlernung der Sprache zuweilen
erleichtert wird, so geht doch der größte Gewinn der geistigen Gymnastik darüber
verloren, nämlich sich in jedem Fall'darüber klare Rechenschaft zu geben, aus
welchen Gründen man so oder so verfährt. Die lateinische Grammatik, welche
mit vollem Recht dem Knabenunterricht zu Grunde liegt, wie der juristischen
Bildung das römische Recht, lehrt die Knaben nicht blos lateinische Autoren
verstehen, und sich selbst lateinisch ausdrücken/ sondern sie lehrt sie gradezu
logisch denken. So lange die Realschulen nicht einen Ähnlicher Gegenstand
gefuuveu haben werden (vie Mathematik kaun-es ihres abstracten Inhalts
wegen nicht sein), werden sie im Zustand eines hoffnungslosen Erperimentirenö
bleiben.

Bei den Töchterschulen ist das in noch weit höherem Grade der Fall;
denn auch selbst diejenigen Disciplinen, die sie mit den Knabenschulen gemein


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[0519] neuerer Zeit dagegen ist der Grad der Bildung eines von den ersten Dingen, wonach man fragt, wenn man den Werth einer Frau bestimmen will. Freilich herrscht über daS, was mau uuter Bildung verstehen soll, die wunderlichste Verwirrung. Man nennt in der Regel diejenige Frau gebildet, die, über Rossini und Shakespeare, über Kaulbach und G. Sand mit einer gewissen Ge¬ läufigkeit Conservation zu machen versteht und fragt wenig danach, ob diese Urtheile innerlich empfunden und durchgearbeitet oder lediglich eingelernt sind. Es liegt auf der Hand, daß auch in Beziehung aus das Erziehungssystem zwischen den beiden Geschlechtern ein Unterschied gemacht werden muß; ab- > gesehen davon, baß ihr späteres Leben verschiedenartige Vorkenntnisse und Ge- schicklichkeiten erheischt, weist sie auch die Natur auf eine verschiedenartige Thätigkeit hin, die sich im Wesentlichen auf den Gegensatz des Zeugers und Empfängnis zurückführen läßt. Es ist über diesen Gegenstand bereits so viel Welses und Thörichtes gesagt worden, daß niemand daran denken wird, etwas Neues dazu bringen zu wollen. Im Ganzen wird alle Welt darüber einig sein, daß in geistiger Beziehung der dem Mann die Fähigkeit der Begriffe und Ab¬ straktionen, bei dem Weib die Fähigkeit der Vorstellungen und Anschauungen überwiegt; bei dem Mann der Grundsatz, bei dem Weib das unmittelbare Ur¬ theil. Daß die Erziehung auf diesen Gegensatz Rücksicht nimmt, ist ganz in der Ordnung; nur scheint es verfehlt, diese Rücksicht so weit zu treiben, daß man die Anlage gradezu mit dem Ziel, der Erziehung verwechselt, und darauf gehen im Grunde alle unsere Töchterschulen aus. Sie vermeiden es mit einer gewissen Aengstlichkeit, irgend einen Gegenstand anzuregen, wobei von Zer¬ gliederung, Regel und System die Rede ist, und wo sie es nicht ganz umgehen könne», wie z. B. bei der Erlernung einer Sprache, verstecken sie es so viel als möglich; sie suchen das junge Mädchen darüber zu täuschen, daß es eine Regel empfängt, indem sie ihm vorspiegeln, es handle sich nur um eiuen individuellen Fall und wenn auch bei dieser Methode die Erlernung der Sprache zuweilen erleichtert wird, so geht doch der größte Gewinn der geistigen Gymnastik darüber verloren, nämlich sich in jedem Fall'darüber klare Rechenschaft zu geben, aus welchen Gründen man so oder so verfährt. Die lateinische Grammatik, welche mit vollem Recht dem Knabenunterricht zu Grunde liegt, wie der juristischen Bildung das römische Recht, lehrt die Knaben nicht blos lateinische Autoren verstehen, und sich selbst lateinisch ausdrücken/ sondern sie lehrt sie gradezu logisch denken. So lange die Realschulen nicht einen Ähnlicher Gegenstand gefuuveu haben werden (vie Mathematik kaun-es ihres abstracten Inhalts wegen nicht sein), werden sie im Zustand eines hoffnungslosen Erperimentirenö bleiben. Bei den Töchterschulen ist das in noch weit höherem Grade der Fall; denn auch selbst diejenigen Disciplinen, die sie mit den Knabenschulen gemein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/519>, abgerufen am 15.06.2024.