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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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sie gegen Mitternacht vom Sonnabend auf den Sonntag plötzlich auferstand
und zu ihnen sprach! Da ließ man die Gebete, um zu Dankbezeugungen über,
zugehen und man begann das Tedeum zu singen. Nach dieser ersten Pflicht
beeilte sich jeder, seine Brüder mündlich oder schriftlich von diesem großen Wun¬
der zu unterrichten, aber als die erste Bewunderung vergangen war, bekam
einer Scrupel darüber, daß sie Stunden zu früh auferstanden sei. Man
stellte also diese Mißlichkeit der Unsichtbaren vor; diese antwortete, das habe
seine guten Gründe und der Bruder Hilaire werde um die fehlende, vier
Stunden länger todt sein, als er sonst sollte. Diese Neuigkeit nahm jener
Ritter mit Freude aus und erklärte, er werde drei Tage todt sein und noch
vier Stunden darüber, aber er blieb es nur Stunden und noch dazu mit
so wenig Anstand und so viel schlechter, als seine beiden berühmten Schwestern,
daß alle gewandten Convulsionisten übereinkämen, diese seien unübertrefflich."

Was für Dinge die Convulsionärinnen mit sich vornehmen ließen, davon
gibt die Beschreibung des Tagewerks einer gewissen Nisette die anschaulichste
Vorstellung. Der Verfasser sagt darüber Folgendes:

"Den 9. März 1733 um Ä Uhr 23 Minute" Morgens wurde sie zuerst
von sechs Mann balancirt während 4 Minuten, auf der linken Seite 3'/- M,
auf der rechten 3 M. Sagt zum Bruder Marie: Ha da bist du, gewiß ist,
daß dein Auge verloren gehen wird. (Er litt an einer Augenkrankheit). Wird
aus dem Rücken balancirt 3i> Minuten -- die Mühle 16 M. -- Ertase die Augen
in die Luft. Daraus das Rad wie gewöhnlich. Dann mit einem Scheit auf
den Kopf geschlagen. Sagt zum Bruder Michel: Jnfons, ein Wort, welches
sie erfunden hat und welches man für mysteriös ansieht; sie sagt, es heiße
Bruder in höherem Sinne, glücklich die, welche sie so nennt! -- Den Kopf
schlagen mit vier Scheiten. -- Sagt wieder zum Bruder Michel, er habe gestern
bei der holländischen Schwester seine Konvulsionen bekommen. In diesem
Augenblick fällt sie in Convulsion und singt das Tedeum. -- Läßt sich balanciren,
die rechte nach oben. Geht zum Bruder Michel, ergreift seine Hand während
einer Ertase, läßt sich unter den Armen halten, die Hände ans dem Rücken.
Läßt sich an den vier Gliedern ziehen, aber ohne Drehen. Daraus steigen zwei
Mann auf sie; dann einer auf den Rücken, zwei andere ziehen ihr die Arme
in die Hohe" u. f. w.

Fast erstaunlicher noch waren aber die Lügen, welche die Convulsionisten
(namentlich Montgeron in drei, sage drei dickleibigen Quertanden illustrirt mit
Abbildungen der "Hilfsleistungen") über letztere verbreiteten. Verschlingen von
glühenden Kohlen, Schlagen mit Holzscheiten und Durchbohren mit Degen
war darnach gar nichts; eine verschlang eine Bibel mit dem Futteral, eine
andere ertrug ohne die mindeste Beschwerde Schläge mit einer solchen Keule,
daß ein Schlag einem Ochsen das Garaus hätte machen müssen, wie Mont-


sie gegen Mitternacht vom Sonnabend auf den Sonntag plötzlich auferstand
und zu ihnen sprach! Da ließ man die Gebete, um zu Dankbezeugungen über,
zugehen und man begann das Tedeum zu singen. Nach dieser ersten Pflicht
beeilte sich jeder, seine Brüder mündlich oder schriftlich von diesem großen Wun¬
der zu unterrichten, aber als die erste Bewunderung vergangen war, bekam
einer Scrupel darüber, daß sie Stunden zu früh auferstanden sei. Man
stellte also diese Mißlichkeit der Unsichtbaren vor; diese antwortete, das habe
seine guten Gründe und der Bruder Hilaire werde um die fehlende, vier
Stunden länger todt sein, als er sonst sollte. Diese Neuigkeit nahm jener
Ritter mit Freude aus und erklärte, er werde drei Tage todt sein und noch
vier Stunden darüber, aber er blieb es nur Stunden und noch dazu mit
so wenig Anstand und so viel schlechter, als seine beiden berühmten Schwestern,
daß alle gewandten Convulsionisten übereinkämen, diese seien unübertrefflich."

Was für Dinge die Convulsionärinnen mit sich vornehmen ließen, davon
gibt die Beschreibung des Tagewerks einer gewissen Nisette die anschaulichste
Vorstellung. Der Verfasser sagt darüber Folgendes:

„Den 9. März 1733 um Ä Uhr 23 Minute» Morgens wurde sie zuerst
von sechs Mann balancirt während 4 Minuten, auf der linken Seite 3'/- M,
auf der rechten 3 M. Sagt zum Bruder Marie: Ha da bist du, gewiß ist,
daß dein Auge verloren gehen wird. (Er litt an einer Augenkrankheit). Wird
aus dem Rücken balancirt 3i> Minuten — die Mühle 16 M. — Ertase die Augen
in die Luft. Daraus das Rad wie gewöhnlich. Dann mit einem Scheit auf
den Kopf geschlagen. Sagt zum Bruder Michel: Jnfons, ein Wort, welches
sie erfunden hat und welches man für mysteriös ansieht; sie sagt, es heiße
Bruder in höherem Sinne, glücklich die, welche sie so nennt! — Den Kopf
schlagen mit vier Scheiten. — Sagt wieder zum Bruder Michel, er habe gestern
bei der holländischen Schwester seine Konvulsionen bekommen. In diesem
Augenblick fällt sie in Convulsion und singt das Tedeum. — Läßt sich balanciren,
die rechte nach oben. Geht zum Bruder Michel, ergreift seine Hand während
einer Ertase, läßt sich unter den Armen halten, die Hände ans dem Rücken.
Läßt sich an den vier Gliedern ziehen, aber ohne Drehen. Daraus steigen zwei
Mann auf sie; dann einer auf den Rücken, zwei andere ziehen ihr die Arme
in die Hohe" u. f. w.

Fast erstaunlicher noch waren aber die Lügen, welche die Convulsionisten
(namentlich Montgeron in drei, sage drei dickleibigen Quertanden illustrirt mit
Abbildungen der „Hilfsleistungen") über letztere verbreiteten. Verschlingen von
glühenden Kohlen, Schlagen mit Holzscheiten und Durchbohren mit Degen
war darnach gar nichts; eine verschlang eine Bibel mit dem Futteral, eine
andere ertrug ohne die mindeste Beschwerde Schläge mit einer solchen Keule,
daß ein Schlag einem Ochsen das Garaus hätte machen müssen, wie Mont-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/166>, abgerufen am 16.06.2024.