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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band.

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und es ist keine große Kunst, die schwachen Seiten der verschiedenen dogma¬
tischen Systeme aufzufinden; aber ein Schriftsteller von dieser Macht des sitt¬
lichen Gefühls hat grade die Ausgabe, die Sophistik zu bekämpfen. Wir
sprechen dies zum Theil bereits im Hinblick auf die folgenden Theile aus,
bei denen wir eine sehr aufmerksame Revision wünschten, denn es könnte uns
nichts Schlimmeres begegnen, als wenn sich der Bonapartismus, nicht blos
der französische, auf Schriftsteller und Denker vom ersten Range berufen
könnte. Nebenbei liegt in jeder Paradorie, auch bei historischen Thatsachen,
die Auslassung irgend eines wesentlichen Gesichtspunktes zu Grunde. In dem
vorliegenden Fall z. B- hätte die Vergleichung der Fortschritte der eng¬
lischen Herrschaft in Indien mit den römischen Eroberungen den Verfasser
daraus aufmerksam machen können, daß ein innerer Conflict, wie der in Be¬
ziehung auf die Befreiung Griechenlands, noch öfter vorkommt. Auch die
Engländer haben den aufrichtigsten Vorsatz, ihren Eroberungen eine Greuze
zu setzen und die unterworfenen Gegenden unter den Einfluß christlicher Ge¬
sittung zu stellen; aber mit der Gewalt der Lawine werden sie weiter getrieben,
und das Bestreben der Humanität führt in letzter Consequenz zu solchen Thaten,
wie wir sie auf dem Streifzug nach Kabul erlebt haben. Es ist also nicht
blos die "Jämmerlichkeit", die über des Flaummus Hellenenfreundschast lächelt:
man will nicht immer, was man zu wollen glaubt.

Wir gehen zu den materiellen Veränderungen der neuen Ausgabe über.
Es versteht sich von selbst, daß im Lauf dieser Jahre die schöpferischen Ideen,
die Mommsen seiner Geschichte zu Grunde gelegt hat, keine Aenderung erlitten
haben; Einzelnes ist tiefer begründet, bei manchen der wichtigsten Punkte fehlt
aber noch das, was auf die Länge nicht zu umgehen sein wird, ein gelehrter
Commentar. Auch in diesen Blättern ist die Klage laut geworden, daß in
Beziehung auf die Alterthumsforschung kein constanter Fortschritt stattfindet,
aber ein solcher ist doch nur dann möglich, wenn jeder Schriftsteller seine neuen
Entdeckungen so weit begründet, daß wenigstens das objective Material der
Prüfung aller Gelehrten offen steht. Ein unbilliges Verlangen wäre es
freilich, daß er auch den subjectiven Weg, auf dem er seine Resultate ge¬
wonnen, bekannt machen sollte.

Wie unendlich das Material gewonnen hat, ergibt sich schon aus einer
Vergleichung des Umfangs. Die neue Ausgabe ist um 280 Seiten, also um
mehr als ein Drittel gewachsen. Die neuen Zusätze beziehen sich fast durchweg
auf die Kulturgeschichte, und zwar am ersichtlichsten im dritten Buch; während
die politische Geschichte dieser Periode nur wenig verändert ist, hat sich die
Darstellung der innern Verhältnisse von i3 auf 16ö Seiten ausgedehnt. In
den beiden ersten Büchern, wo die beiden Seiten des Stoffes mehr ineinander
verarbeitet waren, läßt sich dies nicht so scharf voneinander scheiden. So


und es ist keine große Kunst, die schwachen Seiten der verschiedenen dogma¬
tischen Systeme aufzufinden; aber ein Schriftsteller von dieser Macht des sitt¬
lichen Gefühls hat grade die Ausgabe, die Sophistik zu bekämpfen. Wir
sprechen dies zum Theil bereits im Hinblick auf die folgenden Theile aus,
bei denen wir eine sehr aufmerksame Revision wünschten, denn es könnte uns
nichts Schlimmeres begegnen, als wenn sich der Bonapartismus, nicht blos
der französische, auf Schriftsteller und Denker vom ersten Range berufen
könnte. Nebenbei liegt in jeder Paradorie, auch bei historischen Thatsachen,
die Auslassung irgend eines wesentlichen Gesichtspunktes zu Grunde. In dem
vorliegenden Fall z. B- hätte die Vergleichung der Fortschritte der eng¬
lischen Herrschaft in Indien mit den römischen Eroberungen den Verfasser
daraus aufmerksam machen können, daß ein innerer Conflict, wie der in Be¬
ziehung auf die Befreiung Griechenlands, noch öfter vorkommt. Auch die
Engländer haben den aufrichtigsten Vorsatz, ihren Eroberungen eine Greuze
zu setzen und die unterworfenen Gegenden unter den Einfluß christlicher Ge¬
sittung zu stellen; aber mit der Gewalt der Lawine werden sie weiter getrieben,
und das Bestreben der Humanität führt in letzter Consequenz zu solchen Thaten,
wie wir sie auf dem Streifzug nach Kabul erlebt haben. Es ist also nicht
blos die „Jämmerlichkeit", die über des Flaummus Hellenenfreundschast lächelt:
man will nicht immer, was man zu wollen glaubt.

Wir gehen zu den materiellen Veränderungen der neuen Ausgabe über.
Es versteht sich von selbst, daß im Lauf dieser Jahre die schöpferischen Ideen,
die Mommsen seiner Geschichte zu Grunde gelegt hat, keine Aenderung erlitten
haben; Einzelnes ist tiefer begründet, bei manchen der wichtigsten Punkte fehlt
aber noch das, was auf die Länge nicht zu umgehen sein wird, ein gelehrter
Commentar. Auch in diesen Blättern ist die Klage laut geworden, daß in
Beziehung auf die Alterthumsforschung kein constanter Fortschritt stattfindet,
aber ein solcher ist doch nur dann möglich, wenn jeder Schriftsteller seine neuen
Entdeckungen so weit begründet, daß wenigstens das objective Material der
Prüfung aller Gelehrten offen steht. Ein unbilliges Verlangen wäre es
freilich, daß er auch den subjectiven Weg, auf dem er seine Resultate ge¬
wonnen, bekannt machen sollte.

Wie unendlich das Material gewonnen hat, ergibt sich schon aus einer
Vergleichung des Umfangs. Die neue Ausgabe ist um 280 Seiten, also um
mehr als ein Drittel gewachsen. Die neuen Zusätze beziehen sich fast durchweg
auf die Kulturgeschichte, und zwar am ersichtlichsten im dritten Buch; während
die politische Geschichte dieser Periode nur wenig verändert ist, hat sich die
Darstellung der innern Verhältnisse von i3 auf 16ö Seiten ausgedehnt. In
den beiden ersten Büchern, wo die beiden Seiten des Stoffes mehr ineinander
verarbeitet waren, läßt sich dies nicht so scharf voneinander scheiden. So


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103132/503>, abgerufen am 20.05.2024.