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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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wurden, um desto lebhafter und schneller machten sich innerhalb dieses Kreises
ihre Rückwirkungen fühlbar. Unter diesen mußte nothwendigerweise auch die
Nachahmung sein. "Der Mensch," sagt Goethe in seinen Aphorismen über
den Dilettantismus, "erfährt und genießt nichts, ohne sogleich productiv zu wer¬
den. Dies ist die innerste Eigenschaft der menschlichen Natur. Ja man kann
ohne Uebereilung sagen, es sei die menschliche Natur selbst." In der damali¬
gen gebildeten Gesellschaft wirkte die Anregung, das Empfangene zu reproduci-
ren ganz besonders unwiderstehlich. Das "sklavische Vieh der Nachahmer" tum¬
melte sich herdenweise auf den neu geebneten Bahnen. Der Dilettantismus
mußte sich um so stärker zur Reproduction angeregt suhlen, als die Dichter der
modernen Schule ihre Erfolge nicht zum geringsten Theil dem Studium und
der Bildung verdankten, wodurch leicht der Irrthum entstehn konnte, man
werde sich ihre Vorzüge durch Fleiß und Uebung aneignen können.

Ein Moment, das zur Verallgemeinerung des belletristischen Dilettantismus
wesentlich beitrug, lag in der damaligen Erziehung. Der Knabe, der die ge¬
lehrte Schule absolvirt hatte, in welcher Latein und Griechisch systematisch gelehrt,
classische Prosaiker und Dichter beider Sprachen gelesen und erklärt wurden,
trat als heranwachsender Jüngling in die höhere Schule der Beredtsamkeit (Rhe-
torenschule). Hier sollte er hauptsächlich durch eigene Uebungen die Sprache
vollständig beherrschen lernen, nicht blos um als Staatsmann und Anwalt vor
Gericht reden zu können, sondern auch weil ein gebildeter und gewandter Vor¬
trag zu den Erfordernissen einer gentlemannischen Erziehung, besonders in den
höhern Ständen gehörte. Die Zeit des Handelns war vorüber, dadurch stieg
der Werth des Redens ungeheuer, man muß sich die Oede und Gedrücktheit
dieser bösen Zeit vorstellen, um die Ueberschätzung zu versteh", die der Wohl-
redenheit zu Theil ward. Aber seit die Monarchie die Beredtsamkeit aus der
Oeffentlichkeit fast ganz verdrängt und in die engen Schranken der Senatsver¬
handlungen und des Civilprocesses gebannt hatte, verlor die Schule ihren Zu¬
sammenhang mit dem Leben immer mehr. Ihre Uebungen bewegten sich nur
ausnahmsweise auf dem Boden der Wirklichkeit, am liebsten in dem durch keine
Voraussetzungen eingeschränkten Reich der Phantasie. Zwar behandelten die
Anhänger moralische und historische (auch mythologische) Themen; sie hielten
Lobreden auf Regulus oder donnerten, gegen Catilina, sie ertheilten Sulla
den Rath abzudanken und sich ins Privatleben zurückzuziehen, sie überlegten
in Ciceros Stelle, ob er bei Antonius Abbitte thun oder in Hannibals, ob
er nach der Schlacht bei Cannä gegen Rom marschiren solle. Aber abgesehen
davon, daß man sich auch bei diesen Ausgaben an die historischen Thatsachen
keineswegs ängstlich band, mußten sich unreife Jünglinge, die weder daS Leben
kannten noch die Geschichte verstanden, bei ihrer Behandlung nothwendig daran
gewöhnen, den Mangel an Inhalt und Gedanken durch Phrasen zu ersetzen,


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wurden, um desto lebhafter und schneller machten sich innerhalb dieses Kreises
ihre Rückwirkungen fühlbar. Unter diesen mußte nothwendigerweise auch die
Nachahmung sein. „Der Mensch," sagt Goethe in seinen Aphorismen über
den Dilettantismus, „erfährt und genießt nichts, ohne sogleich productiv zu wer¬
den. Dies ist die innerste Eigenschaft der menschlichen Natur. Ja man kann
ohne Uebereilung sagen, es sei die menschliche Natur selbst." In der damali¬
gen gebildeten Gesellschaft wirkte die Anregung, das Empfangene zu reproduci-
ren ganz besonders unwiderstehlich. Das „sklavische Vieh der Nachahmer" tum¬
melte sich herdenweise auf den neu geebneten Bahnen. Der Dilettantismus
mußte sich um so stärker zur Reproduction angeregt suhlen, als die Dichter der
modernen Schule ihre Erfolge nicht zum geringsten Theil dem Studium und
der Bildung verdankten, wodurch leicht der Irrthum entstehn konnte, man
werde sich ihre Vorzüge durch Fleiß und Uebung aneignen können.

Ein Moment, das zur Verallgemeinerung des belletristischen Dilettantismus
wesentlich beitrug, lag in der damaligen Erziehung. Der Knabe, der die ge¬
lehrte Schule absolvirt hatte, in welcher Latein und Griechisch systematisch gelehrt,
classische Prosaiker und Dichter beider Sprachen gelesen und erklärt wurden,
trat als heranwachsender Jüngling in die höhere Schule der Beredtsamkeit (Rhe-
torenschule). Hier sollte er hauptsächlich durch eigene Uebungen die Sprache
vollständig beherrschen lernen, nicht blos um als Staatsmann und Anwalt vor
Gericht reden zu können, sondern auch weil ein gebildeter und gewandter Vor¬
trag zu den Erfordernissen einer gentlemannischen Erziehung, besonders in den
höhern Ständen gehörte. Die Zeit des Handelns war vorüber, dadurch stieg
der Werth des Redens ungeheuer, man muß sich die Oede und Gedrücktheit
dieser bösen Zeit vorstellen, um die Ueberschätzung zu versteh«, die der Wohl-
redenheit zu Theil ward. Aber seit die Monarchie die Beredtsamkeit aus der
Oeffentlichkeit fast ganz verdrängt und in die engen Schranken der Senatsver¬
handlungen und des Civilprocesses gebannt hatte, verlor die Schule ihren Zu¬
sammenhang mit dem Leben immer mehr. Ihre Uebungen bewegten sich nur
ausnahmsweise auf dem Boden der Wirklichkeit, am liebsten in dem durch keine
Voraussetzungen eingeschränkten Reich der Phantasie. Zwar behandelten die
Anhänger moralische und historische (auch mythologische) Themen; sie hielten
Lobreden auf Regulus oder donnerten, gegen Catilina, sie ertheilten Sulla
den Rath abzudanken und sich ins Privatleben zurückzuziehen, sie überlegten
in Ciceros Stelle, ob er bei Antonius Abbitte thun oder in Hannibals, ob
er nach der Schlacht bei Cannä gegen Rom marschiren solle. Aber abgesehen
davon, daß man sich auch bei diesen Ausgaben an die historischen Thatsachen
keineswegs ängstlich band, mußten sich unreife Jünglinge, die weder daS Leben
kannten noch die Geschichte verstanden, bei ihrer Behandlung nothwendig daran
gewöhnen, den Mangel an Inhalt und Gedanken durch Phrasen zu ersetzen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/11>, abgerufen am 22.05.2024.