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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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um so mehr als auf diese in der That der meiste Werth gelegt ward. Man
klagt, und mit Recht, über die schlimmen Wirkungen der deutschen Aufsätze in
unsern Gymnasien, die nur gar zu leicht auf den Abweg einer innerlich un¬
wahren Schönrednerei führen; in der Nhetorenschule, wo die Phrase ganz do-
minirte, und die künstlichsten Figuren, gesuchtesten Antithesen und Pointen, der
ungeheuerlichste Schwulst in der Regel Mit dem lautesten Bravo begrüßt zu
werden pflegten, da konnte es vollends nicht fehlen, daß die jungen Declama-
toren sich in ein permanentes Pathos hinaufschraubten und dem rhetorischen
Effect jede höhere Rücksicht opferten. Waren aber schon die Themas für die
Anfänger häufig unglücklich gewählt, so erreichten die sogenannten Controversen
(erdichtete Streitfälle, über die von Geübtern für und wider gesprochen wurde)
den höchsten Grad des Aberwitzes und der Unnatur. Hier ward weder an
Nützlichkeit noch an common sense gedacht, sondern nur an dankbare Ausga¬
ben, und je mehr Gelegenheit sie zur Entwicklung extremer Affecte, zur An¬
wendung der grellsten Farben boten, für desto dankbarer galten sie. Ungeheure
Verbrechen, als Blutschande und Vatermord, körperliche und geistige Ausnahme¬
zustände, (z. B. Blindheit) schreiende Contraste (edle Jünglinge, gezwungen
Gladiatoren zu werden, edle Jungfrauen im Bordell), die stärksten moralischen
Conflicte, die widernatürlichsten Verhältnisse, dies waren die Gegenstände, an
denen die damalige Jugend Beredtsamkeit lernen sollte. Von den zahlreichen
Aeußerungen der Zeitgenossen über diesen Unfug genügt es, eine Stelle aus
Petron anzuführen: "Sind die Nhetorenschüler nicht wie besessen? Sie brül¬
len: diese Wunden habe ich sür die Freiheit empfangen, dies Auge habe ich
für Euch geopfert! Gebt mir einen Führer, der mich zu meinen Kindern leite,
denn meine zerhauenem Knie halten mich nicht mehr aufrecht! -- Dergleichen
könnte man sich gefallen lassen, wenn es die Studirenden der Beredtsamkeit ihrem
Ziel näher brächte. Jetzt aber bringen sie durch das hohle Pathos der Ge¬
genstände und das gänzlich leere Geklapper der Phrasen nichts weiter zu Wege,
als daß sie in eine andere Welt versetzt zu sein glauben, wenn sie vor den
Geschwornen stehen. Und deshalb bin ich der Meinung, daß den Jungen in
den Schulen ganz und gar der Kopf verdreht wird, weil sie da nichts von
alle dem zu sehen oder zu hören bekommen, dessen wir gewohnt sind, sondern
Piraten, die mit Ketten am Ufer stehen, Tyrannen, die Ukase dictiren, daß die
Söhne ihren Vätern die Köpfe abschlagen sollen, Orakel behufs Errettung aus
einer Pestilenz, daß drei oder noch mehr Jungfrauen geopfert werden sollen;
recht zuckersüße Küchelchen von Worten, alles mit Gewürz über und über be¬
streut. Wer mit solchen Speisen genährt wird, der kann ebensowenig Ge¬
schmack bekommen, als der einen guten Geruch um sich verbreiten, der sich
immer in der Küche aufhält." Die Schuld übrigens, heißt es weiter,
tragen die Lehrer am wenigsten, die, wenn sie nicht leere Classen haben woU


um so mehr als auf diese in der That der meiste Werth gelegt ward. Man
klagt, und mit Recht, über die schlimmen Wirkungen der deutschen Aufsätze in
unsern Gymnasien, die nur gar zu leicht auf den Abweg einer innerlich un¬
wahren Schönrednerei führen; in der Nhetorenschule, wo die Phrase ganz do-
minirte, und die künstlichsten Figuren, gesuchtesten Antithesen und Pointen, der
ungeheuerlichste Schwulst in der Regel Mit dem lautesten Bravo begrüßt zu
werden pflegten, da konnte es vollends nicht fehlen, daß die jungen Declama-
toren sich in ein permanentes Pathos hinaufschraubten und dem rhetorischen
Effect jede höhere Rücksicht opferten. Waren aber schon die Themas für die
Anfänger häufig unglücklich gewählt, so erreichten die sogenannten Controversen
(erdichtete Streitfälle, über die von Geübtern für und wider gesprochen wurde)
den höchsten Grad des Aberwitzes und der Unnatur. Hier ward weder an
Nützlichkeit noch an common sense gedacht, sondern nur an dankbare Ausga¬
ben, und je mehr Gelegenheit sie zur Entwicklung extremer Affecte, zur An¬
wendung der grellsten Farben boten, für desto dankbarer galten sie. Ungeheure
Verbrechen, als Blutschande und Vatermord, körperliche und geistige Ausnahme¬
zustände, (z. B. Blindheit) schreiende Contraste (edle Jünglinge, gezwungen
Gladiatoren zu werden, edle Jungfrauen im Bordell), die stärksten moralischen
Conflicte, die widernatürlichsten Verhältnisse, dies waren die Gegenstände, an
denen die damalige Jugend Beredtsamkeit lernen sollte. Von den zahlreichen
Aeußerungen der Zeitgenossen über diesen Unfug genügt es, eine Stelle aus
Petron anzuführen: „Sind die Nhetorenschüler nicht wie besessen? Sie brül¬
len: diese Wunden habe ich sür die Freiheit empfangen, dies Auge habe ich
für Euch geopfert! Gebt mir einen Führer, der mich zu meinen Kindern leite,
denn meine zerhauenem Knie halten mich nicht mehr aufrecht! — Dergleichen
könnte man sich gefallen lassen, wenn es die Studirenden der Beredtsamkeit ihrem
Ziel näher brächte. Jetzt aber bringen sie durch das hohle Pathos der Ge¬
genstände und das gänzlich leere Geklapper der Phrasen nichts weiter zu Wege,
als daß sie in eine andere Welt versetzt zu sein glauben, wenn sie vor den
Geschwornen stehen. Und deshalb bin ich der Meinung, daß den Jungen in
den Schulen ganz und gar der Kopf verdreht wird, weil sie da nichts von
alle dem zu sehen oder zu hören bekommen, dessen wir gewohnt sind, sondern
Piraten, die mit Ketten am Ufer stehen, Tyrannen, die Ukase dictiren, daß die
Söhne ihren Vätern die Köpfe abschlagen sollen, Orakel behufs Errettung aus
einer Pestilenz, daß drei oder noch mehr Jungfrauen geopfert werden sollen;
recht zuckersüße Küchelchen von Worten, alles mit Gewürz über und über be¬
streut. Wer mit solchen Speisen genährt wird, der kann ebensowenig Ge¬
schmack bekommen, als der einen guten Geruch um sich verbreiten, der sich
immer in der Küche aufhält." Die Schuld übrigens, heißt es weiter,
tragen die Lehrer am wenigsten, die, wenn sie nicht leere Classen haben woU


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/12>, abgerufen am 21.05.2024.