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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

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sehen Gewohnheitsrecht hatte jeder Kaiser seinen Nachfolger zu bestimmen,
das war durch ein Grundgesetz zu Gunsten der Erstgeburt abgeändert worden.
In den Augen der Nation war also Konstantin jetzt der legitime Monarch.
Nur zwei Reichsrathe und die Großfürstin Alexandra Fevdorowna wußten
um daS Actenstück von 1823, durch welches mit Einwilligung des Nächstbe¬
rechtigten die Thronfolge auf Nikolaus überging. Auch Konstantin wußte
von diesem Document nichts, er glaubte sich nur durch seine officielle Erklärung
moralisch gebunden und da seine Begriffe überhaupt nicht sehr klar waren, so
hielt er noch immer das alte Gewohnheitsrecht für giltig, nach welchem jeder
Kaiser seinen Nachfolger zu ernennen hatte. Nikolaus wußte auch von jenen
Verhandlungen von 1822 nichts, für ihn war also sein Bruder der legitime
Kaiser, und so wenig er die Gefahren seiner Lage verkannte, so konnte er doch
nicht anders handeln, als daß er daS nicht publicirte Schriftstück, welches
man ihm nun nachträglich mittheilte, ignorute und seinen Bruder, der sich
beharrlich weigerte, nach Petersburg zu kommen, zum Kaiser ausrufen ließ.
Man denke sich nun den Schrecken und die Verwirrung der russischen Großen
und Hofleute. Was Rechtens war, konnte ihnen niemand sagen, und wenn
sie sich auch darüber hinweggesetzt hätten, so fehlte ihnen die bei weitem
wichtigere Kunde, was nun eigentlich geschehen werde. Nikolaus weigerte sich,
die Krone anzunehmen und wenn man zu sehr in ihn drang, sich wol durch
voreilige Schritte compromittirte, so konnte keiner voraus sagen, wie es Kon¬
stantin aufnehmen werde, der wenigstens in so fern ein echter Erbe Peter des
Großen war, als er in den Folgen, die er seinem Annuli) gab, jedes Maß
verschmähte.

Wenn man unter diesen Umständen die Handlungsweise des Großfürsten
Nikolaus in ErwägUng zieht, muß man ihm nachrühmen, daß er nicht nur
mit voller Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, sondern auch weise gehandelt
hat. Man hat von diesem Kaiser früher so übertriebene Vorstellungen gehegt
und er hat in den Geschicken Europas eine so mächtige Rolle gespielt, daß
nach der ersten Niederlage, die er erlitt, im öffentlichen Urtheil eine viel zu
weit gehende Reaction eingetreten, ist. Nikolaus war nicht ein Genius ersten
Ranges, der Horizont seiner Gedanken hatte seine bestimmte Grenze, aber
innerhalb derselben halte er einen festen, sichern Blick, und sein Wille war
durchaus seiner Einsicht untergeordnet. '.'!und das erste Jahr seiner Regierung
hatten romantische Reisebeschreiber mit einem Nimbus umgeben, in dem die
Macht seiner Persönlichkeit etwas dämonisch aussah. Dieser romantische
Nimbus ist durch die vorliegenden authentischen Berichte zerstreut, die soge¬
nannte Revolution ist nicht durch den eisernen Willen des Kaisers gebrochen,
sondern an ihrer eignen Albernheit zu Grunde gegangen. Nikolaus ist ebenso
in Schrecken und Verwirrung gewesen, wie seine Umgebungen. Er zeigt auch


sehen Gewohnheitsrecht hatte jeder Kaiser seinen Nachfolger zu bestimmen,
das war durch ein Grundgesetz zu Gunsten der Erstgeburt abgeändert worden.
In den Augen der Nation war also Konstantin jetzt der legitime Monarch.
Nur zwei Reichsrathe und die Großfürstin Alexandra Fevdorowna wußten
um daS Actenstück von 1823, durch welches mit Einwilligung des Nächstbe¬
rechtigten die Thronfolge auf Nikolaus überging. Auch Konstantin wußte
von diesem Document nichts, er glaubte sich nur durch seine officielle Erklärung
moralisch gebunden und da seine Begriffe überhaupt nicht sehr klar waren, so
hielt er noch immer das alte Gewohnheitsrecht für giltig, nach welchem jeder
Kaiser seinen Nachfolger zu ernennen hatte. Nikolaus wußte auch von jenen
Verhandlungen von 1822 nichts, für ihn war also sein Bruder der legitime
Kaiser, und so wenig er die Gefahren seiner Lage verkannte, so konnte er doch
nicht anders handeln, als daß er daS nicht publicirte Schriftstück, welches
man ihm nun nachträglich mittheilte, ignorute und seinen Bruder, der sich
beharrlich weigerte, nach Petersburg zu kommen, zum Kaiser ausrufen ließ.
Man denke sich nun den Schrecken und die Verwirrung der russischen Großen
und Hofleute. Was Rechtens war, konnte ihnen niemand sagen, und wenn
sie sich auch darüber hinweggesetzt hätten, so fehlte ihnen die bei weitem
wichtigere Kunde, was nun eigentlich geschehen werde. Nikolaus weigerte sich,
die Krone anzunehmen und wenn man zu sehr in ihn drang, sich wol durch
voreilige Schritte compromittirte, so konnte keiner voraus sagen, wie es Kon¬
stantin aufnehmen werde, der wenigstens in so fern ein echter Erbe Peter des
Großen war, als er in den Folgen, die er seinem Annuli) gab, jedes Maß
verschmähte.

Wenn man unter diesen Umständen die Handlungsweise des Großfürsten
Nikolaus in ErwägUng zieht, muß man ihm nachrühmen, daß er nicht nur
mit voller Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit, sondern auch weise gehandelt
hat. Man hat von diesem Kaiser früher so übertriebene Vorstellungen gehegt
und er hat in den Geschicken Europas eine so mächtige Rolle gespielt, daß
nach der ersten Niederlage, die er erlitt, im öffentlichen Urtheil eine viel zu
weit gehende Reaction eingetreten, ist. Nikolaus war nicht ein Genius ersten
Ranges, der Horizont seiner Gedanken hatte seine bestimmte Grenze, aber
innerhalb derselben halte er einen festen, sichern Blick, und sein Wille war
durchaus seiner Einsicht untergeordnet. '.'!und das erste Jahr seiner Regierung
hatten romantische Reisebeschreiber mit einem Nimbus umgeben, in dem die
Macht seiner Persönlichkeit etwas dämonisch aussah. Dieser romantische
Nimbus ist durch die vorliegenden authentischen Berichte zerstreut, die soge¬
nannte Revolution ist nicht durch den eisernen Willen des Kaisers gebrochen,
sondern an ihrer eignen Albernheit zu Grunde gegangen. Nikolaus ist ebenso
in Schrecken und Verwirrung gewesen, wie seine Umgebungen. Er zeigt auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/148>, abgerufen am 14.06.2024.