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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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der tiefe Denker und die schöne Empfindung nie-verleugnet, den Ausleger
verführt, grade darauf einen übertriebenen Werth zu legen. Wenn er
aber daraus den Schluß ziehet, daß das deutsche Volt im Allgemeinen Goethe
hauptsächlich aus seinen Apokryphen kennen lernt, so möchte man die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen. Die Zahl derer, welche den zweiten Theil
des Faust einmal durchgelesen haben, wird nicht viel größer sein als die
Zahl derer, die den ganzen Messias kennen, und was die zweite Lectüre be¬
trifft, so wird das Verhältniß sich noch ungünstiger herausstellen. Ueber
Dinge, die man nicht weiß, soll man aber kein Urtheil abgeben. Lewes be¬
stimmt den Werth der einzelnen Werke Goethes im Ganzen richtig, wie ihn
in Deutschland seit 70 Jahren jeder bestimmt hat, der Goethe liest, aus¬
genommen einen Theil derjenigen, die über Goethe schreiben, und die, um
nicht die alten Ideen immer zu wiederholen, zuweilen etwas behaupten, was
zwar neu, aber nicht wahr ist. -- Neben jenen phantastischen Bewunderern
sieht Lewes nur die sogenannten Feinde Goethes, diejenigen, die seine Her¬
zensgüte in Abrede stellen, und namentlich sein vaterländisches Gefühl.be¬
zweifeln. Was das Erste betrifft, so war es in der That nöthig, thörichten
Angriffen durch eine ernste Widerlegung zu begegnen. Es ist in dieser Be¬
ziehung zwar in Deutschland schon viel geleistet, aber Lewes' Darstellung hat
den Vorzug einer schönen, hinreißenden Beredsamkeit, und muß jeden über¬
zeugen, der ihr nicht bösen Willen entgegensetzt. Was nun das vaterländische
Gefühl betrifft, so wiederholt Lewes die hohlen Redensarten, die wir schon
von anderer Seite her gewohnt sind, was denn Goethe hätte thun sollen, ob
Freiheitslieder dichten oder einen Landsturm organisiren, und ähnliche Fragen,
die wegen ihrer Einfalt keine Antwort verdienen. Ueber so etwas hat ein Eng¬
länder nicht mit zu reden, er versteht nichts von dem tiefen Schmerz, der uns
durch die Seele fährt, wenn wir sehen, wie Goethe, wie I. v. Müller, wie
Hegel und andere in jenen Jahren der Schmach und Noth empfunden haben.
Wer denkt denn daran, sie persönlich vor der Nachwelt verantwortlich zu
machen? Aber daß es möglich war, daß unsere ersten Geister in einer Zeit,
wo auch der stumpfsinnigste hätte ergriffen werden sollen, gnr kein Gefühl
hatten für ihr Vaterland, daß einige gute Worte des Eroberers sie zu seiney
Anhängern machen konnten, das ist ein Umstand, den wir uns immer wieder
von neuem in Erinnerung rufen müssen, um die ungesunde Gesinnung, auf
welcher zum Theil unsere classische - Literatur beruhte, auf immer zu ver¬
bannen.

Am wunderlichsten nimmt sich eine Form der Polemik aus, die leider
sehr um sich greift, und bei der doch jeder Sinn aufhört. Lewes zählt näm¬
lich gewisse Vorwürfe auf, die man dem Dichter gemacht, mißbilligt dieselben
auf das entschiedenste, ergeht sich über die Urheber derselben in den stärksten


der tiefe Denker und die schöne Empfindung nie-verleugnet, den Ausleger
verführt, grade darauf einen übertriebenen Werth zu legen. Wenn er
aber daraus den Schluß ziehet, daß das deutsche Volt im Allgemeinen Goethe
hauptsächlich aus seinen Apokryphen kennen lernt, so möchte man die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen. Die Zahl derer, welche den zweiten Theil
des Faust einmal durchgelesen haben, wird nicht viel größer sein als die
Zahl derer, die den ganzen Messias kennen, und was die zweite Lectüre be¬
trifft, so wird das Verhältniß sich noch ungünstiger herausstellen. Ueber
Dinge, die man nicht weiß, soll man aber kein Urtheil abgeben. Lewes be¬
stimmt den Werth der einzelnen Werke Goethes im Ganzen richtig, wie ihn
in Deutschland seit 70 Jahren jeder bestimmt hat, der Goethe liest, aus¬
genommen einen Theil derjenigen, die über Goethe schreiben, und die, um
nicht die alten Ideen immer zu wiederholen, zuweilen etwas behaupten, was
zwar neu, aber nicht wahr ist. — Neben jenen phantastischen Bewunderern
sieht Lewes nur die sogenannten Feinde Goethes, diejenigen, die seine Her¬
zensgüte in Abrede stellen, und namentlich sein vaterländisches Gefühl.be¬
zweifeln. Was das Erste betrifft, so war es in der That nöthig, thörichten
Angriffen durch eine ernste Widerlegung zu begegnen. Es ist in dieser Be¬
ziehung zwar in Deutschland schon viel geleistet, aber Lewes' Darstellung hat
den Vorzug einer schönen, hinreißenden Beredsamkeit, und muß jeden über¬
zeugen, der ihr nicht bösen Willen entgegensetzt. Was nun das vaterländische
Gefühl betrifft, so wiederholt Lewes die hohlen Redensarten, die wir schon
von anderer Seite her gewohnt sind, was denn Goethe hätte thun sollen, ob
Freiheitslieder dichten oder einen Landsturm organisiren, und ähnliche Fragen,
die wegen ihrer Einfalt keine Antwort verdienen. Ueber so etwas hat ein Eng¬
länder nicht mit zu reden, er versteht nichts von dem tiefen Schmerz, der uns
durch die Seele fährt, wenn wir sehen, wie Goethe, wie I. v. Müller, wie
Hegel und andere in jenen Jahren der Schmach und Noth empfunden haben.
Wer denkt denn daran, sie persönlich vor der Nachwelt verantwortlich zu
machen? Aber daß es möglich war, daß unsere ersten Geister in einer Zeit,
wo auch der stumpfsinnigste hätte ergriffen werden sollen, gnr kein Gefühl
hatten für ihr Vaterland, daß einige gute Worte des Eroberers sie zu seiney
Anhängern machen konnten, das ist ein Umstand, den wir uns immer wieder
von neuem in Erinnerung rufen müssen, um die ungesunde Gesinnung, auf
welcher zum Theil unsere classische - Literatur beruhte, auf immer zu ver¬
bannen.

Am wunderlichsten nimmt sich eine Form der Polemik aus, die leider
sehr um sich greift, und bei der doch jeder Sinn aufhört. Lewes zählt näm¬
lich gewisse Vorwürfe auf, die man dem Dichter gemacht, mißbilligt dieselben
auf das entschiedenste, ergeht sich über die Urheber derselben in den stärksten


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[0118] der tiefe Denker und die schöne Empfindung nie-verleugnet, den Ausleger verführt, grade darauf einen übertriebenen Werth zu legen. Wenn er aber daraus den Schluß ziehet, daß das deutsche Volt im Allgemeinen Goethe hauptsächlich aus seinen Apokryphen kennen lernt, so möchte man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Die Zahl derer, welche den zweiten Theil des Faust einmal durchgelesen haben, wird nicht viel größer sein als die Zahl derer, die den ganzen Messias kennen, und was die zweite Lectüre be¬ trifft, so wird das Verhältniß sich noch ungünstiger herausstellen. Ueber Dinge, die man nicht weiß, soll man aber kein Urtheil abgeben. Lewes be¬ stimmt den Werth der einzelnen Werke Goethes im Ganzen richtig, wie ihn in Deutschland seit 70 Jahren jeder bestimmt hat, der Goethe liest, aus¬ genommen einen Theil derjenigen, die über Goethe schreiben, und die, um nicht die alten Ideen immer zu wiederholen, zuweilen etwas behaupten, was zwar neu, aber nicht wahr ist. — Neben jenen phantastischen Bewunderern sieht Lewes nur die sogenannten Feinde Goethes, diejenigen, die seine Her¬ zensgüte in Abrede stellen, und namentlich sein vaterländisches Gefühl.be¬ zweifeln. Was das Erste betrifft, so war es in der That nöthig, thörichten Angriffen durch eine ernste Widerlegung zu begegnen. Es ist in dieser Be¬ ziehung zwar in Deutschland schon viel geleistet, aber Lewes' Darstellung hat den Vorzug einer schönen, hinreißenden Beredsamkeit, und muß jeden über¬ zeugen, der ihr nicht bösen Willen entgegensetzt. Was nun das vaterländische Gefühl betrifft, so wiederholt Lewes die hohlen Redensarten, die wir schon von anderer Seite her gewohnt sind, was denn Goethe hätte thun sollen, ob Freiheitslieder dichten oder einen Landsturm organisiren, und ähnliche Fragen, die wegen ihrer Einfalt keine Antwort verdienen. Ueber so etwas hat ein Eng¬ länder nicht mit zu reden, er versteht nichts von dem tiefen Schmerz, der uns durch die Seele fährt, wenn wir sehen, wie Goethe, wie I. v. Müller, wie Hegel und andere in jenen Jahren der Schmach und Noth empfunden haben. Wer denkt denn daran, sie persönlich vor der Nachwelt verantwortlich zu machen? Aber daß es möglich war, daß unsere ersten Geister in einer Zeit, wo auch der stumpfsinnigste hätte ergriffen werden sollen, gnr kein Gefühl hatten für ihr Vaterland, daß einige gute Worte des Eroberers sie zu seiney Anhängern machen konnten, das ist ein Umstand, den wir uns immer wieder von neuem in Erinnerung rufen müssen, um die ungesunde Gesinnung, auf welcher zum Theil unsere classische - Literatur beruhte, auf immer zu ver¬ bannen. Am wunderlichsten nimmt sich eine Form der Polemik aus, die leider sehr um sich greift, und bei der doch jeder Sinn aufhört. Lewes zählt näm¬ lich gewisse Vorwürfe auf, die man dem Dichter gemacht, mißbilligt dieselben auf das entschiedenste, ergeht sich über die Urheber derselben in den stärksten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/118>, abgerufen am 29.05.2024.