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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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gestiegen und auch in dem öffentlichen Kunstgalericn will man dieselbe Er¬
fahrung gemacht haben. Welche bedeutende Anzahl von bildenden Künstlern
München. Düsseldorf und Berlin im Verhältniß zum Anfang dieses Jahr¬
hunderts ernähren, brauche ich wol kaum zu berühren.

Alle diese Momente habe ich nur angeführt, um zu beweisen, daß unsrer
Zeit der Sinn für formelle Schönheit selbst in den niederen Schichten der
Bevölkerung nicht fehlt, wenn derselbe auch in seinen Erzeugnissen selbst in
der höheren und reineren Kunst noch keineswegs einen vollständigen, in der
gewerblichen Kunstthätigkeit aber, mit der wir es hier zu thun haben, noch
kaum einen annähernden Ausdruck gefunden hat.

Wie sollte er aber auch! In wie weit kann der Handwerker den Schönheit-
sinn des Publicums in seinen Hervorbringungen befriedigen oder gar seinen
Kunstsinn anziehen? -- Diese Einwendung ist in gewissem Maße berechtigt;
aber nur für die augenblickliche Gegenwart, für die Zeit der Stillosigkeit und
des Eklekticismus im Leben wie in der Kunst. Auch der niedere Handwerker
arbeitet in einer Zeit, in welcher die höhere Kunst Stil hat, in seiner niederen
Sphäre für dieselbe.

Der Spitz- oder Schnabelschuh des Mittelalters ist aus dem gleichen Formen¬
sinn hervorgegangen, aus welchem der Spitzbogen derselben Zeit entstanden
ist; wiederum ist der abgestumpfte und gedrückte Klumpschuh von Ende des
15. und Anfang des 16. Jahrhunderts nur ein dem gedrückten oder geschweif¬
ten Spitzbogen jener Zeit, dem s. g. Eselsrücken oder Tudorbogen ebenbürtiges
Erzeugniß. Die wunderlichen, mit geschweift ausgeschnittenen Hängclnppen
versehenen Kleider desselben Jahrhunderts, in welchen die hohen Herrn Hof¬
fahrteten, wie ein gleichzeitiger Chronist sich ausdrückt, sind in ihrer Zeich- '
mung dem willkürlichen Schnörkelwesen der gothischen Zopfzeit vollkommen
adäquat. Nicht umsonst waren die Zöpfe des 18. Jahrhunderts das Lieblings¬
muster selbst für die Backwaaren der Rococoperiode.

Stil- und Charakterlosigkeit ist der fühlbare Mangel unserer heutigen
Architektur, ja zum Theil selbst der Sculptur und Malerei; darum sind auch
die Formen unserer modernen Kleidungsstücke Stil- und charakterlos, meist ein
Erzeugniß des alten, aus dem vorigen Jahrhundert herübergeschleppten Schlen¬
drians, wählerischer Rathlosigkeit und barocker Selbstsucht.

Noch einleuchtender und verständlicher wird uns der Einfluß der Kunst
und auch hier wieder vorzugsweise der bei allen Völkern zuerst, ja bei vielen
einzig und allein entwickelten Kunst, der Architektur, aus diejenigen Gewerbe,
welche sich mit der Herstellung von innerlich hohlen Gegenständen zu beschäf¬
tigen haben. Hierher gehören die Töpferei und Tischlerei, die Glas-, Metall-
und Porzellanwaarcnfabrikation, die Wagenbauerei und viele andere theils noch
für sich, theils nur noch in Verbindung mit anderen Gewerbszweigen bestehende.


gestiegen und auch in dem öffentlichen Kunstgalericn will man dieselbe Er¬
fahrung gemacht haben. Welche bedeutende Anzahl von bildenden Künstlern
München. Düsseldorf und Berlin im Verhältniß zum Anfang dieses Jahr¬
hunderts ernähren, brauche ich wol kaum zu berühren.

Alle diese Momente habe ich nur angeführt, um zu beweisen, daß unsrer
Zeit der Sinn für formelle Schönheit selbst in den niederen Schichten der
Bevölkerung nicht fehlt, wenn derselbe auch in seinen Erzeugnissen selbst in
der höheren und reineren Kunst noch keineswegs einen vollständigen, in der
gewerblichen Kunstthätigkeit aber, mit der wir es hier zu thun haben, noch
kaum einen annähernden Ausdruck gefunden hat.

Wie sollte er aber auch! In wie weit kann der Handwerker den Schönheit-
sinn des Publicums in seinen Hervorbringungen befriedigen oder gar seinen
Kunstsinn anziehen? — Diese Einwendung ist in gewissem Maße berechtigt;
aber nur für die augenblickliche Gegenwart, für die Zeit der Stillosigkeit und
des Eklekticismus im Leben wie in der Kunst. Auch der niedere Handwerker
arbeitet in einer Zeit, in welcher die höhere Kunst Stil hat, in seiner niederen
Sphäre für dieselbe.

Der Spitz- oder Schnabelschuh des Mittelalters ist aus dem gleichen Formen¬
sinn hervorgegangen, aus welchem der Spitzbogen derselben Zeit entstanden
ist; wiederum ist der abgestumpfte und gedrückte Klumpschuh von Ende des
15. und Anfang des 16. Jahrhunderts nur ein dem gedrückten oder geschweif¬
ten Spitzbogen jener Zeit, dem s. g. Eselsrücken oder Tudorbogen ebenbürtiges
Erzeugniß. Die wunderlichen, mit geschweift ausgeschnittenen Hängclnppen
versehenen Kleider desselben Jahrhunderts, in welchen die hohen Herrn Hof¬
fahrteten, wie ein gleichzeitiger Chronist sich ausdrückt, sind in ihrer Zeich- '
mung dem willkürlichen Schnörkelwesen der gothischen Zopfzeit vollkommen
adäquat. Nicht umsonst waren die Zöpfe des 18. Jahrhunderts das Lieblings¬
muster selbst für die Backwaaren der Rococoperiode.

Stil- und Charakterlosigkeit ist der fühlbare Mangel unserer heutigen
Architektur, ja zum Theil selbst der Sculptur und Malerei; darum sind auch
die Formen unserer modernen Kleidungsstücke Stil- und charakterlos, meist ein
Erzeugniß des alten, aus dem vorigen Jahrhundert herübergeschleppten Schlen¬
drians, wählerischer Rathlosigkeit und barocker Selbstsucht.

Noch einleuchtender und verständlicher wird uns der Einfluß der Kunst
und auch hier wieder vorzugsweise der bei allen Völkern zuerst, ja bei vielen
einzig und allein entwickelten Kunst, der Architektur, aus diejenigen Gewerbe,
welche sich mit der Herstellung von innerlich hohlen Gegenständen zu beschäf¬
tigen haben. Hierher gehören die Töpferei und Tischlerei, die Glas-, Metall-
und Porzellanwaarcnfabrikation, die Wagenbauerei und viele andere theils noch
für sich, theils nur noch in Verbindung mit anderen Gewerbszweigen bestehende.


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[0194] gestiegen und auch in dem öffentlichen Kunstgalericn will man dieselbe Er¬ fahrung gemacht haben. Welche bedeutende Anzahl von bildenden Künstlern München. Düsseldorf und Berlin im Verhältniß zum Anfang dieses Jahr¬ hunderts ernähren, brauche ich wol kaum zu berühren. Alle diese Momente habe ich nur angeführt, um zu beweisen, daß unsrer Zeit der Sinn für formelle Schönheit selbst in den niederen Schichten der Bevölkerung nicht fehlt, wenn derselbe auch in seinen Erzeugnissen selbst in der höheren und reineren Kunst noch keineswegs einen vollständigen, in der gewerblichen Kunstthätigkeit aber, mit der wir es hier zu thun haben, noch kaum einen annähernden Ausdruck gefunden hat. Wie sollte er aber auch! In wie weit kann der Handwerker den Schönheit- sinn des Publicums in seinen Hervorbringungen befriedigen oder gar seinen Kunstsinn anziehen? — Diese Einwendung ist in gewissem Maße berechtigt; aber nur für die augenblickliche Gegenwart, für die Zeit der Stillosigkeit und des Eklekticismus im Leben wie in der Kunst. Auch der niedere Handwerker arbeitet in einer Zeit, in welcher die höhere Kunst Stil hat, in seiner niederen Sphäre für dieselbe. Der Spitz- oder Schnabelschuh des Mittelalters ist aus dem gleichen Formen¬ sinn hervorgegangen, aus welchem der Spitzbogen derselben Zeit entstanden ist; wiederum ist der abgestumpfte und gedrückte Klumpschuh von Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts nur ein dem gedrückten oder geschweif¬ ten Spitzbogen jener Zeit, dem s. g. Eselsrücken oder Tudorbogen ebenbürtiges Erzeugniß. Die wunderlichen, mit geschweift ausgeschnittenen Hängclnppen versehenen Kleider desselben Jahrhunderts, in welchen die hohen Herrn Hof¬ fahrteten, wie ein gleichzeitiger Chronist sich ausdrückt, sind in ihrer Zeich- ' mung dem willkürlichen Schnörkelwesen der gothischen Zopfzeit vollkommen adäquat. Nicht umsonst waren die Zöpfe des 18. Jahrhunderts das Lieblings¬ muster selbst für die Backwaaren der Rococoperiode. Stil- und Charakterlosigkeit ist der fühlbare Mangel unserer heutigen Architektur, ja zum Theil selbst der Sculptur und Malerei; darum sind auch die Formen unserer modernen Kleidungsstücke Stil- und charakterlos, meist ein Erzeugniß des alten, aus dem vorigen Jahrhundert herübergeschleppten Schlen¬ drians, wählerischer Rathlosigkeit und barocker Selbstsucht. Noch einleuchtender und verständlicher wird uns der Einfluß der Kunst und auch hier wieder vorzugsweise der bei allen Völkern zuerst, ja bei vielen einzig und allein entwickelten Kunst, der Architektur, aus diejenigen Gewerbe, welche sich mit der Herstellung von innerlich hohlen Gegenständen zu beschäf¬ tigen haben. Hierher gehören die Töpferei und Tischlerei, die Glas-, Metall- und Porzellanwaarcnfabrikation, die Wagenbauerei und viele andere theils noch für sich, theils nur noch in Verbindung mit anderen Gewerbszweigen bestehende.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/194>, abgerufen am 31.05.2024.