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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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aus dem offenen Berlin entspringt, um eine Gefahr zweiter Ordnung, auch
wenn man, wie oben bereits geschehen, auf die Eventualität eines Doppel¬
angriffs, von Süden und Osten her (durch die verbündeten Großmächte Oest¬
reich und Rußland), Rücksicht nimmt. Auch diese Schwäche ist in dem be¬
deutungsvollen Jahre 1817, wo die Verhältnisse der Welt auf so lange Zeit
hinaus geordnet wurden, von den preußischen Staatsmännern klar heraus¬
erkannt worden, und wesentlich in dieser Rücksicht drangen sie auf eine Ent¬
schädigung Sachsens am Rhein und auf die Einverleibung des ganzen jetzi¬
gen Königreichs. Die "Festung" Dresden wäre dann das große Bollwerk
Berlins und der Mitte des preußischen Staats geworden; aber es sollte nicht
so sein.

Um so mehr muß man erstaunen, daß man nicht eifriger bemüht ge¬
wesen ist, dem schweren und sehr beunruhigenden Uebelstande durch eine un¬
mittelbare fortisicatorische Sicherstellung Berlins abzuhelfen. Beinahe will
es in dieser Hinsicht scheinen, als wenn nur in den sonst so erleuchteten
militärischen Kreisen daselbst, und am entscheidenden Orte, nur allmälig über
diesen Punkt (und zwar erst seit der Zeit, wo Paris befestigt wurde) zu den
heute allgemeine Geltung habenden Ansichten gelangt sei.

Die Verfahrungsweise, welche man auf der weiten Vertheidigungsfronte
zwischen Kösel und .Erfurt seit dem Jahre 1815 innegehalten, ist mit
wenigen Worten zu charakterisiren. Man wollte hier zunächst auf jeden aus¬
gedehnteren Neubau verzichten, die vorhandenen Plätze ausbessern, im
brauchbaren Zustande erhalten, allenfalls durch einzelne neue Werke verstärken
und erst wenn man vollkommen im Westen und Osten zur localen Defensive
eingerichtet wäre, Breslau als eine Hauptfestung in Angriff nehmen. Wie
man hieraus ersehen wird, legte man den Hauptaccent auf den linken Flügel,
und sah von einer Deckung des Centrums und Herzpunktes des Staates
(Berlin) ab. Ein Umschwung in diesen Vornahmen trat erst im Herbst 1850
ein, grade als ein Krieg mit Oestreich in das Bereich der Möglichkeit und
sogar der Wahrscheinlichkeit gerückt war. Wie man weiß, liefen damals die
Hauptanstrcngungen der preußischen Heeresleitung darauf hin, zwischen der
sächsischen Grenze und Berlin einen deckenden Schutz aus beweglichen Massen
zu formiren. Der östreichische Plan schien, nach dem was darüber später
laut geworden ist, und nach Maßgabe der verschiedenen Vorkehrungen, die
jenseits der Grenzen getroffen wurden, darauf hinauszulaufen, durch eine
Scitwärtsschiebung der Streitkräfte aus Mähren nach Böhmen, den Angriffs¬
stoß auf die Mittelmarken fallen zu lassen, und nach einer e.kwa in der Um¬
gegend von Torgau zu gebenden Entscheidung- Berlin gleichsam durch -einen
strategischen "coup av main" zu nehmen. Als die Gefahr beschworen war.


aus dem offenen Berlin entspringt, um eine Gefahr zweiter Ordnung, auch
wenn man, wie oben bereits geschehen, auf die Eventualität eines Doppel¬
angriffs, von Süden und Osten her (durch die verbündeten Großmächte Oest¬
reich und Rußland), Rücksicht nimmt. Auch diese Schwäche ist in dem be¬
deutungsvollen Jahre 1817, wo die Verhältnisse der Welt auf so lange Zeit
hinaus geordnet wurden, von den preußischen Staatsmännern klar heraus¬
erkannt worden, und wesentlich in dieser Rücksicht drangen sie auf eine Ent¬
schädigung Sachsens am Rhein und auf die Einverleibung des ganzen jetzi¬
gen Königreichs. Die „Festung" Dresden wäre dann das große Bollwerk
Berlins und der Mitte des preußischen Staats geworden; aber es sollte nicht
so sein.

Um so mehr muß man erstaunen, daß man nicht eifriger bemüht ge¬
wesen ist, dem schweren und sehr beunruhigenden Uebelstande durch eine un¬
mittelbare fortisicatorische Sicherstellung Berlins abzuhelfen. Beinahe will
es in dieser Hinsicht scheinen, als wenn nur in den sonst so erleuchteten
militärischen Kreisen daselbst, und am entscheidenden Orte, nur allmälig über
diesen Punkt (und zwar erst seit der Zeit, wo Paris befestigt wurde) zu den
heute allgemeine Geltung habenden Ansichten gelangt sei.

Die Verfahrungsweise, welche man auf der weiten Vertheidigungsfronte
zwischen Kösel und .Erfurt seit dem Jahre 1815 innegehalten, ist mit
wenigen Worten zu charakterisiren. Man wollte hier zunächst auf jeden aus¬
gedehnteren Neubau verzichten, die vorhandenen Plätze ausbessern, im
brauchbaren Zustande erhalten, allenfalls durch einzelne neue Werke verstärken
und erst wenn man vollkommen im Westen und Osten zur localen Defensive
eingerichtet wäre, Breslau als eine Hauptfestung in Angriff nehmen. Wie
man hieraus ersehen wird, legte man den Hauptaccent auf den linken Flügel,
und sah von einer Deckung des Centrums und Herzpunktes des Staates
(Berlin) ab. Ein Umschwung in diesen Vornahmen trat erst im Herbst 1850
ein, grade als ein Krieg mit Oestreich in das Bereich der Möglichkeit und
sogar der Wahrscheinlichkeit gerückt war. Wie man weiß, liefen damals die
Hauptanstrcngungen der preußischen Heeresleitung darauf hin, zwischen der
sächsischen Grenze und Berlin einen deckenden Schutz aus beweglichen Massen
zu formiren. Der östreichische Plan schien, nach dem was darüber später
laut geworden ist, und nach Maßgabe der verschiedenen Vorkehrungen, die
jenseits der Grenzen getroffen wurden, darauf hinauszulaufen, durch eine
Scitwärtsschiebung der Streitkräfte aus Mähren nach Böhmen, den Angriffs¬
stoß auf die Mittelmarken fallen zu lassen, und nach einer e.kwa in der Um¬
gegend von Torgau zu gebenden Entscheidung- Berlin gleichsam durch -einen
strategischen „coup av main" zu nehmen. Als die Gefahr beschworen war.


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[0276] aus dem offenen Berlin entspringt, um eine Gefahr zweiter Ordnung, auch wenn man, wie oben bereits geschehen, auf die Eventualität eines Doppel¬ angriffs, von Süden und Osten her (durch die verbündeten Großmächte Oest¬ reich und Rußland), Rücksicht nimmt. Auch diese Schwäche ist in dem be¬ deutungsvollen Jahre 1817, wo die Verhältnisse der Welt auf so lange Zeit hinaus geordnet wurden, von den preußischen Staatsmännern klar heraus¬ erkannt worden, und wesentlich in dieser Rücksicht drangen sie auf eine Ent¬ schädigung Sachsens am Rhein und auf die Einverleibung des ganzen jetzi¬ gen Königreichs. Die „Festung" Dresden wäre dann das große Bollwerk Berlins und der Mitte des preußischen Staats geworden; aber es sollte nicht so sein. Um so mehr muß man erstaunen, daß man nicht eifriger bemüht ge¬ wesen ist, dem schweren und sehr beunruhigenden Uebelstande durch eine un¬ mittelbare fortisicatorische Sicherstellung Berlins abzuhelfen. Beinahe will es in dieser Hinsicht scheinen, als wenn nur in den sonst so erleuchteten militärischen Kreisen daselbst, und am entscheidenden Orte, nur allmälig über diesen Punkt (und zwar erst seit der Zeit, wo Paris befestigt wurde) zu den heute allgemeine Geltung habenden Ansichten gelangt sei. Die Verfahrungsweise, welche man auf der weiten Vertheidigungsfronte zwischen Kösel und .Erfurt seit dem Jahre 1815 innegehalten, ist mit wenigen Worten zu charakterisiren. Man wollte hier zunächst auf jeden aus¬ gedehnteren Neubau verzichten, die vorhandenen Plätze ausbessern, im brauchbaren Zustande erhalten, allenfalls durch einzelne neue Werke verstärken und erst wenn man vollkommen im Westen und Osten zur localen Defensive eingerichtet wäre, Breslau als eine Hauptfestung in Angriff nehmen. Wie man hieraus ersehen wird, legte man den Hauptaccent auf den linken Flügel, und sah von einer Deckung des Centrums und Herzpunktes des Staates (Berlin) ab. Ein Umschwung in diesen Vornahmen trat erst im Herbst 1850 ein, grade als ein Krieg mit Oestreich in das Bereich der Möglichkeit und sogar der Wahrscheinlichkeit gerückt war. Wie man weiß, liefen damals die Hauptanstrcngungen der preußischen Heeresleitung darauf hin, zwischen der sächsischen Grenze und Berlin einen deckenden Schutz aus beweglichen Massen zu formiren. Der östreichische Plan schien, nach dem was darüber später laut geworden ist, und nach Maßgabe der verschiedenen Vorkehrungen, die jenseits der Grenzen getroffen wurden, darauf hinauszulaufen, durch eine Scitwärtsschiebung der Streitkräfte aus Mähren nach Böhmen, den Angriffs¬ stoß auf die Mittelmarken fallen zu lassen, und nach einer e.kwa in der Um¬ gegend von Torgau zu gebenden Entscheidung- Berlin gleichsam durch -einen strategischen „coup av main" zu nehmen. Als die Gefahr beschworen war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/276>, abgerufen am 29.05.2024.