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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Zimmer). Wenn in diesem Lehrbuch, seiner Bestimmung nach, der Mysticis¬
mus in den Hintergrund tritt, so haben wir ihn dagegen'in dem Werk: das
magische Geistesleben, ein Beitrag zur Psychologie von Sanitätsrath
Dr. Bruno Schindler zu Greiffenberg (Breslau, Korn), in vollster Blüte.
Der Verfasser stellt, wie alle Apologeten des Aberglaubens, die scheinbar un¬
schuldige Frage: "wer mag der Natur, der unendlichen, die Grenzen des
Möglichen bestimmen wollen? wer behaupten, die Natur besitze kein größeres
Feld der Möglichkeiten, als der Verstand des Einzelnen? wer mag einem Men¬
schen das Recht einräumen, uns die Fülle des Glaubens abzuwägen, wer die
Befugniß, uns die Grenzen des Wissens zu bestimmen?" und findet "in dem
polaren Wirken des Mensch engeistes den Grund alles Dämonischen,
aller Divination." Auf diese "Polarität des Geistes" gestützt, rehabilitirt er
Hexen und Zauberer, Seher und Propheten, Wunderthäter und Exorcisten.
Wie in dieser anscheinenden Ueberschwenglichkeit die schlimmste Sorte des Ma¬
terialismus die Hauptrolle spielt, zeigt schon die Bedeutung, die dem Tisch-
rücken für die Erforschung der Geisterwelt beigelegt wird, um von dem rei-
chenbachschen Ob ganz zu schweigen. Die christliche Kirche wird übrigens von
dieser Dämonologie nicht sehr erbaut sein, denn das Wunder und die Offen¬
barung Gottes reducirt sich hier auf. verborgene Kräfte der Natur, aus Teufels-
werk, wie der Katechismus sich ausdrücken würde, und den Priestern aller
Religionen, auch der christlichen, wird viel Schlimmes nachgesagt. -- Einen
ganz andern Charakter hat die Symbolik der menschlichen Gestalt;
ein Handbuch zur Menschenkenntniß von C. G. Carus, zweite vielfach ver¬
mehrte Auflage, mit 16. Holzschnitten. (Leipzig, Brockhaus). Wir haben uns
über die Richtung des geistvollen Verfassers bereits bei Gelegenheit der ersten
Ausgabe ausführlich ausgesprochen. Wäre der Zweck der Wissenschaft aus¬
schließlich, anzuregen und auf bedeutende Combinationen aufmerksam zu machen,
so verdiente das Buch eine hohe Stelle: eine interessante Erscheinung bleibt
es immer.

Schon mehrfach haben wir darauf aufmerksam gemacht, daß man in dem
sogenannten Materialismus zwei ganz verschiedene Momente unterscheiden
müsse. Wenn die Naturwissenschaft, die einzig und allein mit der Materie
und ihren Wandlungen zu thun hat, alle Einflüsse der Theologie und Moral
von sich weist, so ist sie in ihrem vollsten Recht; die Theologie und Moral
haben mit der Naturwissenschaft ebenso wenig zu schaffen, als mit der Mathe¬
matik, und jede Einwirkung religiöser und moralischer Ideen kann den wissen¬
schaftlichen Fortschritt nur beeinträchtigen. Sobald aber die Wissenschaft der
Materie in das sittliche Gebiet übergreift, wiederholt sich dieselbe Erscheinung,
welche schon das Alterthum als Cynismus d. h. als Hundephilvsophie brand¬
markte, und für die wir noch heute keinen fassenden Ausdruck besitzen. Auch


Zimmer). Wenn in diesem Lehrbuch, seiner Bestimmung nach, der Mysticis¬
mus in den Hintergrund tritt, so haben wir ihn dagegen'in dem Werk: das
magische Geistesleben, ein Beitrag zur Psychologie von Sanitätsrath
Dr. Bruno Schindler zu Greiffenberg (Breslau, Korn), in vollster Blüte.
Der Verfasser stellt, wie alle Apologeten des Aberglaubens, die scheinbar un¬
schuldige Frage: „wer mag der Natur, der unendlichen, die Grenzen des
Möglichen bestimmen wollen? wer behaupten, die Natur besitze kein größeres
Feld der Möglichkeiten, als der Verstand des Einzelnen? wer mag einem Men¬
schen das Recht einräumen, uns die Fülle des Glaubens abzuwägen, wer die
Befugniß, uns die Grenzen des Wissens zu bestimmen?" und findet „in dem
polaren Wirken des Mensch engeistes den Grund alles Dämonischen,
aller Divination." Auf diese „Polarität des Geistes" gestützt, rehabilitirt er
Hexen und Zauberer, Seher und Propheten, Wunderthäter und Exorcisten.
Wie in dieser anscheinenden Ueberschwenglichkeit die schlimmste Sorte des Ma¬
terialismus die Hauptrolle spielt, zeigt schon die Bedeutung, die dem Tisch-
rücken für die Erforschung der Geisterwelt beigelegt wird, um von dem rei-
chenbachschen Ob ganz zu schweigen. Die christliche Kirche wird übrigens von
dieser Dämonologie nicht sehr erbaut sein, denn das Wunder und die Offen¬
barung Gottes reducirt sich hier auf. verborgene Kräfte der Natur, aus Teufels-
werk, wie der Katechismus sich ausdrücken würde, und den Priestern aller
Religionen, auch der christlichen, wird viel Schlimmes nachgesagt. — Einen
ganz andern Charakter hat die Symbolik der menschlichen Gestalt;
ein Handbuch zur Menschenkenntniß von C. G. Carus, zweite vielfach ver¬
mehrte Auflage, mit 16. Holzschnitten. (Leipzig, Brockhaus). Wir haben uns
über die Richtung des geistvollen Verfassers bereits bei Gelegenheit der ersten
Ausgabe ausführlich ausgesprochen. Wäre der Zweck der Wissenschaft aus¬
schließlich, anzuregen und auf bedeutende Combinationen aufmerksam zu machen,
so verdiente das Buch eine hohe Stelle: eine interessante Erscheinung bleibt
es immer.

Schon mehrfach haben wir darauf aufmerksam gemacht, daß man in dem
sogenannten Materialismus zwei ganz verschiedene Momente unterscheiden
müsse. Wenn die Naturwissenschaft, die einzig und allein mit der Materie
und ihren Wandlungen zu thun hat, alle Einflüsse der Theologie und Moral
von sich weist, so ist sie in ihrem vollsten Recht; die Theologie und Moral
haben mit der Naturwissenschaft ebenso wenig zu schaffen, als mit der Mathe¬
matik, und jede Einwirkung religiöser und moralischer Ideen kann den wissen¬
schaftlichen Fortschritt nur beeinträchtigen. Sobald aber die Wissenschaft der
Materie in das sittliche Gebiet übergreift, wiederholt sich dieselbe Erscheinung,
welche schon das Alterthum als Cynismus d. h. als Hundephilvsophie brand¬
markte, und für die wir noch heute keinen fassenden Ausdruck besitzen. Auch


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[0317] Zimmer). Wenn in diesem Lehrbuch, seiner Bestimmung nach, der Mysticis¬ mus in den Hintergrund tritt, so haben wir ihn dagegen'in dem Werk: das magische Geistesleben, ein Beitrag zur Psychologie von Sanitätsrath Dr. Bruno Schindler zu Greiffenberg (Breslau, Korn), in vollster Blüte. Der Verfasser stellt, wie alle Apologeten des Aberglaubens, die scheinbar un¬ schuldige Frage: „wer mag der Natur, der unendlichen, die Grenzen des Möglichen bestimmen wollen? wer behaupten, die Natur besitze kein größeres Feld der Möglichkeiten, als der Verstand des Einzelnen? wer mag einem Men¬ schen das Recht einräumen, uns die Fülle des Glaubens abzuwägen, wer die Befugniß, uns die Grenzen des Wissens zu bestimmen?" und findet „in dem polaren Wirken des Mensch engeistes den Grund alles Dämonischen, aller Divination." Auf diese „Polarität des Geistes" gestützt, rehabilitirt er Hexen und Zauberer, Seher und Propheten, Wunderthäter und Exorcisten. Wie in dieser anscheinenden Ueberschwenglichkeit die schlimmste Sorte des Ma¬ terialismus die Hauptrolle spielt, zeigt schon die Bedeutung, die dem Tisch- rücken für die Erforschung der Geisterwelt beigelegt wird, um von dem rei- chenbachschen Ob ganz zu schweigen. Die christliche Kirche wird übrigens von dieser Dämonologie nicht sehr erbaut sein, denn das Wunder und die Offen¬ barung Gottes reducirt sich hier auf. verborgene Kräfte der Natur, aus Teufels- werk, wie der Katechismus sich ausdrücken würde, und den Priestern aller Religionen, auch der christlichen, wird viel Schlimmes nachgesagt. — Einen ganz andern Charakter hat die Symbolik der menschlichen Gestalt; ein Handbuch zur Menschenkenntniß von C. G. Carus, zweite vielfach ver¬ mehrte Auflage, mit 16. Holzschnitten. (Leipzig, Brockhaus). Wir haben uns über die Richtung des geistvollen Verfassers bereits bei Gelegenheit der ersten Ausgabe ausführlich ausgesprochen. Wäre der Zweck der Wissenschaft aus¬ schließlich, anzuregen und auf bedeutende Combinationen aufmerksam zu machen, so verdiente das Buch eine hohe Stelle: eine interessante Erscheinung bleibt es immer. Schon mehrfach haben wir darauf aufmerksam gemacht, daß man in dem sogenannten Materialismus zwei ganz verschiedene Momente unterscheiden müsse. Wenn die Naturwissenschaft, die einzig und allein mit der Materie und ihren Wandlungen zu thun hat, alle Einflüsse der Theologie und Moral von sich weist, so ist sie in ihrem vollsten Recht; die Theologie und Moral haben mit der Naturwissenschaft ebenso wenig zu schaffen, als mit der Mathe¬ matik, und jede Einwirkung religiöser und moralischer Ideen kann den wissen¬ schaftlichen Fortschritt nur beeinträchtigen. Sobald aber die Wissenschaft der Materie in das sittliche Gebiet übergreift, wiederholt sich dieselbe Erscheinung, welche schon das Alterthum als Cynismus d. h. als Hundephilvsophie brand¬ markte, und für die wir noch heute keinen fassenden Ausdruck besitzen. Auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/317>, abgerufen am 09.06.2024.