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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Arbeit das Princip der gebildeten Bewunderung, derjenigen Bewunderung, die
sich durch deutliche Analyse rechtfertigt, in einer so classischen Form zur Anwen¬
dung gebracht, daß er eigentlich seinem Kritiker die Pflicht auflegt, an ihm das¬
selbe Verfahren zu beobachten. Allein wir müssen uns dieser Pflicht entzieh";
um ihr nur einigermaßen nachzukommen, müßten wir diese Anzeige zu einer
Abhandlung ausdehnen. Wer das Buch aus eigener Anschauung kennt, hat
unserer Beihilfe nicht Noth; nur für diejenigen, die es noch nicht gelesen
haben, heben wir einige Punkte hervor.

Was die Kritik der einzelnen Kunstwerke betrifft, die in diese Periode
fallen, so tritt am meisten die "Entführung aus dem Serail" hervor.
Wir sind in der Lage gewesen, im ersten Quartal dieses Jahrgangs S. 481 ff.
unsern Lesern daraus einen Auszug mittheilen zu können, der hinlänglich
zeigt, mit welcher Feinheit Jahr es versteht, die so unendlich schwierige Auf¬
gabe, ein musikalisches Kunstwerk in Worten zu erläutern, wenigstens so
weit durchzuführen, daß derjenige, der die Musik kennt, weiß, um was es sich
handelt. An sich ist die Musik incvmmcnsurabel: wer des angeborenen musi¬
kalischen Sinns entbehrt, dem wird man nie deutlich machen können, wo¬
von die Rede ist; abw es gehört schon ein großes Geschick dazu, diesen an¬
geborenen Sinn in die rechte Fährte zu lenken. Die "Entführung aus dem
Serail" entzückt jeden, der sie hört. Jahr macht es nun dem Bewunderer
möglich, sich selber Rechenschaft zu geben, was ihn daran entzückt hat. Dies
Unternehmen ist himmelweit von der thörichten Bemühung verschieden, die
Töne durch Worte ausdrücken zu wollen.

Die Mehrzahl der Leser wird in diesem Band hauptsächlich die Dar¬
stellung der rein menschlichen Zustände, also der biographische Theil interessuen.
Wenn man früher nur auf diejenige Seite des künstlerischen Lebens seine
Aufmerksamkeit richtete, die der Oeffentlichkeit zugekehrt war, so bemüht man
sich jetzt, in das Innere des Herzens einzudringen, und für die Größe und
Schönheit der Leistungen in der Größe und Schönheit des Gemüths das
Verständniß zu suchen. Wenn dies Bestreben zuweilen zu übereilten Schlu߬
folgerungen führt, so ist es doch im Allgemeinen zu billigen, zu billigen na¬
mentlich im Gegensatz gegen das frühere romantische Vorurtheil, welches gern
im Gefühl des Kontrastes zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit stehen
blieb und dem Genius keine größere Schmeichelei sagen zu können glaubte,
als wenn es ihn von aller vernünftigen Ordnung und Sitte freisprach. Wer
im Stande ist, die Geheimnisse des Lebens völlig zu durchschauen, wird jedes¬
mal zu dem Resultat kommen, daß die schöpferische Kraft nichts Anderes ist.
als der concentnrte Ausdruck der vollen Natur. Aber es ist freilich nicht leicht,
auch nur annäherungsweise in die Tiefe einer menschlichen Seele so weit ein¬
zudringen, daß man den Schlüssel für die incommensurabeln Momente ent-


Arbeit das Princip der gebildeten Bewunderung, derjenigen Bewunderung, die
sich durch deutliche Analyse rechtfertigt, in einer so classischen Form zur Anwen¬
dung gebracht, daß er eigentlich seinem Kritiker die Pflicht auflegt, an ihm das¬
selbe Verfahren zu beobachten. Allein wir müssen uns dieser Pflicht entzieh»;
um ihr nur einigermaßen nachzukommen, müßten wir diese Anzeige zu einer
Abhandlung ausdehnen. Wer das Buch aus eigener Anschauung kennt, hat
unserer Beihilfe nicht Noth; nur für diejenigen, die es noch nicht gelesen
haben, heben wir einige Punkte hervor.

Was die Kritik der einzelnen Kunstwerke betrifft, die in diese Periode
fallen, so tritt am meisten die „Entführung aus dem Serail" hervor.
Wir sind in der Lage gewesen, im ersten Quartal dieses Jahrgangs S. 481 ff.
unsern Lesern daraus einen Auszug mittheilen zu können, der hinlänglich
zeigt, mit welcher Feinheit Jahr es versteht, die so unendlich schwierige Auf¬
gabe, ein musikalisches Kunstwerk in Worten zu erläutern, wenigstens so
weit durchzuführen, daß derjenige, der die Musik kennt, weiß, um was es sich
handelt. An sich ist die Musik incvmmcnsurabel: wer des angeborenen musi¬
kalischen Sinns entbehrt, dem wird man nie deutlich machen können, wo¬
von die Rede ist; abw es gehört schon ein großes Geschick dazu, diesen an¬
geborenen Sinn in die rechte Fährte zu lenken. Die „Entführung aus dem
Serail" entzückt jeden, der sie hört. Jahr macht es nun dem Bewunderer
möglich, sich selber Rechenschaft zu geben, was ihn daran entzückt hat. Dies
Unternehmen ist himmelweit von der thörichten Bemühung verschieden, die
Töne durch Worte ausdrücken zu wollen.

Die Mehrzahl der Leser wird in diesem Band hauptsächlich die Dar¬
stellung der rein menschlichen Zustände, also der biographische Theil interessuen.
Wenn man früher nur auf diejenige Seite des künstlerischen Lebens seine
Aufmerksamkeit richtete, die der Oeffentlichkeit zugekehrt war, so bemüht man
sich jetzt, in das Innere des Herzens einzudringen, und für die Größe und
Schönheit der Leistungen in der Größe und Schönheit des Gemüths das
Verständniß zu suchen. Wenn dies Bestreben zuweilen zu übereilten Schlu߬
folgerungen führt, so ist es doch im Allgemeinen zu billigen, zu billigen na¬
mentlich im Gegensatz gegen das frühere romantische Vorurtheil, welches gern
im Gefühl des Kontrastes zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit stehen
blieb und dem Genius keine größere Schmeichelei sagen zu können glaubte,
als wenn es ihn von aller vernünftigen Ordnung und Sitte freisprach. Wer
im Stande ist, die Geheimnisse des Lebens völlig zu durchschauen, wird jedes¬
mal zu dem Resultat kommen, daß die schöpferische Kraft nichts Anderes ist.
als der concentnrte Ausdruck der vollen Natur. Aber es ist freilich nicht leicht,
auch nur annäherungsweise in die Tiefe einer menschlichen Seele so weit ein¬
zudringen, daß man den Schlüssel für die incommensurabeln Momente ent-


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[0032] Arbeit das Princip der gebildeten Bewunderung, derjenigen Bewunderung, die sich durch deutliche Analyse rechtfertigt, in einer so classischen Form zur Anwen¬ dung gebracht, daß er eigentlich seinem Kritiker die Pflicht auflegt, an ihm das¬ selbe Verfahren zu beobachten. Allein wir müssen uns dieser Pflicht entzieh»; um ihr nur einigermaßen nachzukommen, müßten wir diese Anzeige zu einer Abhandlung ausdehnen. Wer das Buch aus eigener Anschauung kennt, hat unserer Beihilfe nicht Noth; nur für diejenigen, die es noch nicht gelesen haben, heben wir einige Punkte hervor. Was die Kritik der einzelnen Kunstwerke betrifft, die in diese Periode fallen, so tritt am meisten die „Entführung aus dem Serail" hervor. Wir sind in der Lage gewesen, im ersten Quartal dieses Jahrgangs S. 481 ff. unsern Lesern daraus einen Auszug mittheilen zu können, der hinlänglich zeigt, mit welcher Feinheit Jahr es versteht, die so unendlich schwierige Auf¬ gabe, ein musikalisches Kunstwerk in Worten zu erläutern, wenigstens so weit durchzuführen, daß derjenige, der die Musik kennt, weiß, um was es sich handelt. An sich ist die Musik incvmmcnsurabel: wer des angeborenen musi¬ kalischen Sinns entbehrt, dem wird man nie deutlich machen können, wo¬ von die Rede ist; abw es gehört schon ein großes Geschick dazu, diesen an¬ geborenen Sinn in die rechte Fährte zu lenken. Die „Entführung aus dem Serail" entzückt jeden, der sie hört. Jahr macht es nun dem Bewunderer möglich, sich selber Rechenschaft zu geben, was ihn daran entzückt hat. Dies Unternehmen ist himmelweit von der thörichten Bemühung verschieden, die Töne durch Worte ausdrücken zu wollen. Die Mehrzahl der Leser wird in diesem Band hauptsächlich die Dar¬ stellung der rein menschlichen Zustände, also der biographische Theil interessuen. Wenn man früher nur auf diejenige Seite des künstlerischen Lebens seine Aufmerksamkeit richtete, die der Oeffentlichkeit zugekehrt war, so bemüht man sich jetzt, in das Innere des Herzens einzudringen, und für die Größe und Schönheit der Leistungen in der Größe und Schönheit des Gemüths das Verständniß zu suchen. Wenn dies Bestreben zuweilen zu übereilten Schlu߬ folgerungen führt, so ist es doch im Allgemeinen zu billigen, zu billigen na¬ mentlich im Gegensatz gegen das frühere romantische Vorurtheil, welches gern im Gefühl des Kontrastes zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit stehen blieb und dem Genius keine größere Schmeichelei sagen zu können glaubte, als wenn es ihn von aller vernünftigen Ordnung und Sitte freisprach. Wer im Stande ist, die Geheimnisse des Lebens völlig zu durchschauen, wird jedes¬ mal zu dem Resultat kommen, daß die schöpferische Kraft nichts Anderes ist. als der concentnrte Ausdruck der vollen Natur. Aber es ist freilich nicht leicht, auch nur annäherungsweise in die Tiefe einer menschlichen Seele so weit ein¬ zudringen, daß man den Schlüssel für die incommensurabeln Momente ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/32>, abgerufen am 15.05.2024.