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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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gewahr wurden, bemüht sich jetzt jedes der neuen Blätter, seinen Leser hinter
die Coulissen einzuführen.

Bei der flüchtigen Lektüre der Zeitungen bemerkt man häusig nicht, mit
was für ernsthaften Fragen man sich beschäftigt hat; zudem wird der Zu¬
sammenhang oft unterbrochen, und die Erinnerung reicht nicht aus, alles das
zu ergänzen, was die Zeitung doch nicht beständig wiederholen kann. Eine
Sammlung, wie die europäische Chronik, d. h. eine verständig geordnete
und durch spätere Erfahrung berichtigte Wiederholung des politischen Materials
ist ein sehr dankenswerthes Unternehmen. Der Plan des Verfassers ist durch¬
weg zu billigen, er gibt die Thatsachen in der Umständlichkeit, die noth¬
wendig ist, um ein wirkliches Interesse zu erregen, druckt die hauptsächlichen
Actenstücke vollständig ab, und stellt zur Bequemlichkeit des Lesers die erläu¬
ternden Notizen, die man sonst mühsam aus statistischen und andern Hand-,
büchern aufsuchen mußte, an der Spitze jedes Capitels zusammen. Wenn er
sich in seinen Gesinnungen zu der Partei hält, welche auch in unsern Blättern
vertreten wird, so bemüht er sich doch, jede Parteirücksicht zu entfernen, und
nur die Thatsachen reden zu lassen; ja er geht in seiner Objectivität in einer
Beziehung zu weit. Er theilt nämlich bei allen bedeutenden Ereignissen, auch
wenn später durch urkundliche Mittheilungen die Sache völlig aufgeklärt ist,
die früheren Ansichten und Conjecturen der verschiedenen Zeitungen mit. weil
sie nach seiner Ansicht als Stimmen der Zeit Benchtung verdienen. Wir glau¬
ben, daß er diese Sorgfalt übertreibt. Die Zeitung ist verpflichtet, täglich
ihren Lesern mitzutheilen, was sie selber weiß, aber nur in außergewöhnlichen
Fällen wird es von Interesse sein, zu erfahren, in wie weit sie darin geirrt
oder das Richtige getroffen hat. In den Fortsetzungen des Jahrbuchs wird
der Verfasser durch ein beschränkteres Eingehn auf diese Ephemeren hoffent¬
lich einen größeren Raum gewinnen.

Wenn man den Inhalt dieser Chronik erwägt, so tritt wol für jeden
Unbefangenen die Ueberzeugung hervor, daß für die nächste Zeit an eine
größere Action nicht zu denken ist. Die gewaltigsten Mächte Europas haben
in der orientalischen Frage ihre Kräfte aneinander gemessen, ohne zu einem
erheblichen Resultat zu gelangen; jede ist wachsam auf die andere, und wenn
die Diplomaten geschäftig sind, neue Combinationen und Bündnisse zu Stande
zu bringen, so läßt sich doch ohne große Prophetengabe annehmen, daß diese
im Augenblicke, wo es zur Action kommen soll, an dem stillschweigenden
Widerstand aller übrigen Staaten scheitern werden. Aber diese politische Muße
ist grade die rechte Zeit, die Gesinnung der Menge für eine zukünftige Ent¬
wickelung zu bearbeiten. Bei dem factischen Dualismus, der in Deutsch¬
land herrscht, liegt die Kernfrage aller allgemeinen Politik darin.-ob der
Schwerpunkt der Entwickelung nach Oestreich oder nach Preußen fällt.


gewahr wurden, bemüht sich jetzt jedes der neuen Blätter, seinen Leser hinter
die Coulissen einzuführen.

Bei der flüchtigen Lektüre der Zeitungen bemerkt man häusig nicht, mit
was für ernsthaften Fragen man sich beschäftigt hat; zudem wird der Zu¬
sammenhang oft unterbrochen, und die Erinnerung reicht nicht aus, alles das
zu ergänzen, was die Zeitung doch nicht beständig wiederholen kann. Eine
Sammlung, wie die europäische Chronik, d. h. eine verständig geordnete
und durch spätere Erfahrung berichtigte Wiederholung des politischen Materials
ist ein sehr dankenswerthes Unternehmen. Der Plan des Verfassers ist durch¬
weg zu billigen, er gibt die Thatsachen in der Umständlichkeit, die noth¬
wendig ist, um ein wirkliches Interesse zu erregen, druckt die hauptsächlichen
Actenstücke vollständig ab, und stellt zur Bequemlichkeit des Lesers die erläu¬
ternden Notizen, die man sonst mühsam aus statistischen und andern Hand-,
büchern aufsuchen mußte, an der Spitze jedes Capitels zusammen. Wenn er
sich in seinen Gesinnungen zu der Partei hält, welche auch in unsern Blättern
vertreten wird, so bemüht er sich doch, jede Parteirücksicht zu entfernen, und
nur die Thatsachen reden zu lassen; ja er geht in seiner Objectivität in einer
Beziehung zu weit. Er theilt nämlich bei allen bedeutenden Ereignissen, auch
wenn später durch urkundliche Mittheilungen die Sache völlig aufgeklärt ist,
die früheren Ansichten und Conjecturen der verschiedenen Zeitungen mit. weil
sie nach seiner Ansicht als Stimmen der Zeit Benchtung verdienen. Wir glau¬
ben, daß er diese Sorgfalt übertreibt. Die Zeitung ist verpflichtet, täglich
ihren Lesern mitzutheilen, was sie selber weiß, aber nur in außergewöhnlichen
Fällen wird es von Interesse sein, zu erfahren, in wie weit sie darin geirrt
oder das Richtige getroffen hat. In den Fortsetzungen des Jahrbuchs wird
der Verfasser durch ein beschränkteres Eingehn auf diese Ephemeren hoffent¬
lich einen größeren Raum gewinnen.

Wenn man den Inhalt dieser Chronik erwägt, so tritt wol für jeden
Unbefangenen die Ueberzeugung hervor, daß für die nächste Zeit an eine
größere Action nicht zu denken ist. Die gewaltigsten Mächte Europas haben
in der orientalischen Frage ihre Kräfte aneinander gemessen, ohne zu einem
erheblichen Resultat zu gelangen; jede ist wachsam auf die andere, und wenn
die Diplomaten geschäftig sind, neue Combinationen und Bündnisse zu Stande
zu bringen, so läßt sich doch ohne große Prophetengabe annehmen, daß diese
im Augenblicke, wo es zur Action kommen soll, an dem stillschweigenden
Widerstand aller übrigen Staaten scheitern werden. Aber diese politische Muße
ist grade die rechte Zeit, die Gesinnung der Menge für eine zukünftige Ent¬
wickelung zu bearbeiten. Bei dem factischen Dualismus, der in Deutsch¬
land herrscht, liegt die Kernfrage aller allgemeinen Politik darin.-ob der
Schwerpunkt der Entwickelung nach Oestreich oder nach Preußen fällt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/76>, abgerufen am 29.05.2024.